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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

Lesestoff eingeführt wurde, daß sie in diesem Kampfe den kürzeren ziehe und
die Verbreitung einer die Autorität der Regierung schwer schädigenden Literatur
zu hindern nicht imstande sei. Auch ließen sich gewichtige Stimmen von
russischen Wissenschaftlern und Literaten vernehmen, die das Unsinnige der Be¬
handlung der Litauer seitens der Regierung betonten. So wurde 1904 das
litauische Druckverbot aufgehoben. Seither hat sich die litauische Literatur
in ganz ungeahnter Weise gehoben. Die letzten litauischen Buchhändlerkataloge
weisen an zweitausend verschiedene Druckschriften auf. Allerdings find das
nicht alles Originalarbeiten, sondern zu einem guten Teil Übersetzungen.
Immerhin hat der schnelle Aufschwung der litauischen Literatur kaum
seinesgleichen.

Das Schulwesen ist in Litauen unter russischer Herrschaft nicht sonderlich
entwickelt, zumal kein Schulzwang besteht. Die alten Schulen waren meist an
Klöster angeschlossen. Im Jahre 1832 wurden viele katholische Klöster nebst
Schulen aufgehoben und fast alle diese Schulen in rein russische umgewandelt.
Seit 1863 war die litauische Sprache aus den Schulen völlig verbannt. Als
Lehrer durften fast ausschließlich nur orthodoxe Russen fungieren. Es war
natürlich, daß die Bevölkerung sich oft weigerte, Schulen einzurichten und zu
unterhalten, die nur Russisizierungszwecken dienten. Die Statistik ergibt, daß
1895 im Gouvernement Kowno nur eine Schule auf 5594 Personen, im
Gouvernement Wilna eine auf 4601 Personen siel. Seit 1824 war
den Bauern nicht gestattet, ihre Söhne in Gymnasien fortbilden zu lassen.
Der Unterricht durch Privatpersonen ist streng verboten. Nach der Revolution
wurde auch die litauische Sprache in den Volksschulen zugelassen; in den
höheren Lehranstalten ist sie fakultativ. Der Religionsunterricht wird jetzt, im
Gegensatz zu früher, in der Muttersprache erteilt. Gegenwärtig befindet sich
wohl in jeder Kirchengemeinde mindestens eine -- allerdings russische -- Schule.
Jedoch ist auch eine ganze Anzahl rein titanischer Privatschulen konzessioniert.

Eine große Zahl Kirchen und Klöster sind durch die russische Regierung
den Katholiken genommen und zu orthodoxen griechisch-katholischen Kirchen oder
zu Kasernen umgebaut; manche sind niedergerissen. In Wilna sind 25000
Orthodoxe im Besitz von fünfundvierzig Kirchen, während die 55000
Katholiken nur fünfzehn Kirchen besitzen; jene fünfundvierzig orthodoxen Kirchen
sind jedoch früher fast alle katholisch gewesen. In Kowno steht es ähnlich.
In Krazy (Gouvernement Kowno) wurde die katholische Klosterkirche 1894 trotz des
Widerstandes der Bevölkerung unter Blutvergießen geschlossen. -- Die katholische
Geistlichkeit steht unter strenger Staatsaufsicht. So ist es den Priestern verboten,
ohne Paß in eine Nachbargemeinde zu reisen, ebenso Briefe ins Ausland
zu schreiben.

Bezüglich des wirtschaftlichen Aufschwunges wurden den Litauern seitens
der Regierung große Hemmnisse bereitet. Die Bauern durften nicht mehr als
60 Dessätinen Land besitzen. Der Kauf von größeren Grundstücken und Gütern


Die litauisch-baltische Frage

Lesestoff eingeführt wurde, daß sie in diesem Kampfe den kürzeren ziehe und
die Verbreitung einer die Autorität der Regierung schwer schädigenden Literatur
zu hindern nicht imstande sei. Auch ließen sich gewichtige Stimmen von
russischen Wissenschaftlern und Literaten vernehmen, die das Unsinnige der Be¬
handlung der Litauer seitens der Regierung betonten. So wurde 1904 das
litauische Druckverbot aufgehoben. Seither hat sich die litauische Literatur
in ganz ungeahnter Weise gehoben. Die letzten litauischen Buchhändlerkataloge
weisen an zweitausend verschiedene Druckschriften auf. Allerdings find das
nicht alles Originalarbeiten, sondern zu einem guten Teil Übersetzungen.
Immerhin hat der schnelle Aufschwung der litauischen Literatur kaum
seinesgleichen.

Das Schulwesen ist in Litauen unter russischer Herrschaft nicht sonderlich
entwickelt, zumal kein Schulzwang besteht. Die alten Schulen waren meist an
Klöster angeschlossen. Im Jahre 1832 wurden viele katholische Klöster nebst
Schulen aufgehoben und fast alle diese Schulen in rein russische umgewandelt.
Seit 1863 war die litauische Sprache aus den Schulen völlig verbannt. Als
Lehrer durften fast ausschließlich nur orthodoxe Russen fungieren. Es war
natürlich, daß die Bevölkerung sich oft weigerte, Schulen einzurichten und zu
unterhalten, die nur Russisizierungszwecken dienten. Die Statistik ergibt, daß
1895 im Gouvernement Kowno nur eine Schule auf 5594 Personen, im
Gouvernement Wilna eine auf 4601 Personen siel. Seit 1824 war
den Bauern nicht gestattet, ihre Söhne in Gymnasien fortbilden zu lassen.
Der Unterricht durch Privatpersonen ist streng verboten. Nach der Revolution
wurde auch die litauische Sprache in den Volksschulen zugelassen; in den
höheren Lehranstalten ist sie fakultativ. Der Religionsunterricht wird jetzt, im
Gegensatz zu früher, in der Muttersprache erteilt. Gegenwärtig befindet sich
wohl in jeder Kirchengemeinde mindestens eine — allerdings russische — Schule.
Jedoch ist auch eine ganze Anzahl rein titanischer Privatschulen konzessioniert.

Eine große Zahl Kirchen und Klöster sind durch die russische Regierung
den Katholiken genommen und zu orthodoxen griechisch-katholischen Kirchen oder
zu Kasernen umgebaut; manche sind niedergerissen. In Wilna sind 25000
Orthodoxe im Besitz von fünfundvierzig Kirchen, während die 55000
Katholiken nur fünfzehn Kirchen besitzen; jene fünfundvierzig orthodoxen Kirchen
sind jedoch früher fast alle katholisch gewesen. In Kowno steht es ähnlich.
In Krazy (Gouvernement Kowno) wurde die katholische Klosterkirche 1894 trotz des
Widerstandes der Bevölkerung unter Blutvergießen geschlossen. — Die katholische
Geistlichkeit steht unter strenger Staatsaufsicht. So ist es den Priestern verboten,
ohne Paß in eine Nachbargemeinde zu reisen, ebenso Briefe ins Ausland
zu schreiben.

Bezüglich des wirtschaftlichen Aufschwunges wurden den Litauern seitens
der Regierung große Hemmnisse bereitet. Die Bauern durften nicht mehr als
60 Dessätinen Land besitzen. Der Kauf von größeren Grundstücken und Gütern


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[0224] Die litauisch-baltische Frage Lesestoff eingeführt wurde, daß sie in diesem Kampfe den kürzeren ziehe und die Verbreitung einer die Autorität der Regierung schwer schädigenden Literatur zu hindern nicht imstande sei. Auch ließen sich gewichtige Stimmen von russischen Wissenschaftlern und Literaten vernehmen, die das Unsinnige der Be¬ handlung der Litauer seitens der Regierung betonten. So wurde 1904 das litauische Druckverbot aufgehoben. Seither hat sich die litauische Literatur in ganz ungeahnter Weise gehoben. Die letzten litauischen Buchhändlerkataloge weisen an zweitausend verschiedene Druckschriften auf. Allerdings find das nicht alles Originalarbeiten, sondern zu einem guten Teil Übersetzungen. Immerhin hat der schnelle Aufschwung der litauischen Literatur kaum seinesgleichen. Das Schulwesen ist in Litauen unter russischer Herrschaft nicht sonderlich entwickelt, zumal kein Schulzwang besteht. Die alten Schulen waren meist an Klöster angeschlossen. Im Jahre 1832 wurden viele katholische Klöster nebst Schulen aufgehoben und fast alle diese Schulen in rein russische umgewandelt. Seit 1863 war die litauische Sprache aus den Schulen völlig verbannt. Als Lehrer durften fast ausschließlich nur orthodoxe Russen fungieren. Es war natürlich, daß die Bevölkerung sich oft weigerte, Schulen einzurichten und zu unterhalten, die nur Russisizierungszwecken dienten. Die Statistik ergibt, daß 1895 im Gouvernement Kowno nur eine Schule auf 5594 Personen, im Gouvernement Wilna eine auf 4601 Personen siel. Seit 1824 war den Bauern nicht gestattet, ihre Söhne in Gymnasien fortbilden zu lassen. Der Unterricht durch Privatpersonen ist streng verboten. Nach der Revolution wurde auch die litauische Sprache in den Volksschulen zugelassen; in den höheren Lehranstalten ist sie fakultativ. Der Religionsunterricht wird jetzt, im Gegensatz zu früher, in der Muttersprache erteilt. Gegenwärtig befindet sich wohl in jeder Kirchengemeinde mindestens eine — allerdings russische — Schule. Jedoch ist auch eine ganze Anzahl rein titanischer Privatschulen konzessioniert. Eine große Zahl Kirchen und Klöster sind durch die russische Regierung den Katholiken genommen und zu orthodoxen griechisch-katholischen Kirchen oder zu Kasernen umgebaut; manche sind niedergerissen. In Wilna sind 25000 Orthodoxe im Besitz von fünfundvierzig Kirchen, während die 55000 Katholiken nur fünfzehn Kirchen besitzen; jene fünfundvierzig orthodoxen Kirchen sind jedoch früher fast alle katholisch gewesen. In Kowno steht es ähnlich. In Krazy (Gouvernement Kowno) wurde die katholische Klosterkirche 1894 trotz des Widerstandes der Bevölkerung unter Blutvergießen geschlossen. — Die katholische Geistlichkeit steht unter strenger Staatsaufsicht. So ist es den Priestern verboten, ohne Paß in eine Nachbargemeinde zu reisen, ebenso Briefe ins Ausland zu schreiben. Bezüglich des wirtschaftlichen Aufschwunges wurden den Litauern seitens der Regierung große Hemmnisse bereitet. Die Bauern durften nicht mehr als 60 Dessätinen Land besitzen. Der Kauf von größeren Grundstücken und Gütern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/224>, abgerufen am 27.09.2024.