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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

Murawjeff, der den Aufstand mit blutiger Strenge unterdrückt hatte und
Generalgouvemeur von Wilna geworden war, setzte einen Erlaß durch, infolge
dessen jeder Buchdruck und jede Verbreitung von titanischer Schrift in Rußland
verboten wurde. Jede Übertretung wurde mit Gefängnis, administrativer Ver¬
schickung oder Stellung unter polizeilicher Aufsicht geahndet. Statt der litauischen
Bücher, mit der dem Volk seit alters her gewohnten Schrift, wurden ihm solche
mit russischer Schrift (Cyrillische Schrift) angeboten, die das Volk jedoch ver¬
schmähte. Vierzig Jahre hindurch lastete dieser, die geistige Entwicklung stark
hemmende Druck auf dem Volk. Diese Entziehung jeglicher geistigen Nahrung
wurde den Litauern, deren Nationalitätsbewußtsein sich auf keine Weise unter¬
drücken ließ, unerträglich. Sie wandten ihre Blicke nach Preußen, um von dort
mittels Schmuggels geistige Nahrung zu erlangen. In Tilsit begannen einige
Druckereien fast ausschließlich für die Litauer zu arbeiten. So wurden Millionen
von Büchern, Zeitschriften und Broschüren heimlich über die Grenze geschafft,
und dann mit derselben ängstlichen Heimlichkeit bis in die entlegensten Gegenden
Litauens verbreitet; wußten doch die Verbreiter, ob sie als Gebildete den
höheren Standen angehörten, oder einfache Leute waren, daß ihrer die härtesten
Strafen bei einer Entdeckung harrten. Das Lesen und Schreiben hatten die
Litauer durchgängig nicht verlernt. Aus den alten Gebetbüchern von vor 1864,
die wie kostbare Schätze gehütet wurden, hatten die Mütter ihre Kinder unter¬
richtet, und zwar mit so gutem Erfolge, daß die Zahl der Analphabeten unter
den Litauern ini Gegensatz zu vielen andern Gegenden Rußlands verschwindend
klein war.

Im Jahre 1883 erschien in Ragnit die erste periodische Zeitschrift für die
Litauer Rußlands, die von Dr. Bassanovicz in Warna (Bulgarien) redigierte
"Auszra" (Morgenröte), deren Hauptziel in der nationalen Erweckung der Litauer
bestand. Bald tat sich ein Teil der litauischen Intelligenz zusammen und ließ
von 1889 ab in Tilsit den "Varpas" (Glocke), eine Monatsschrift für Literatur,
Politik und Wissenschaft, erscheinen, desgleichen den "Mininkas" (Landwirt)
zur Belehrung der bäuerlichen Bevölkerung. Diese auf radikal-demokratischer
Grundlage beruhenden Zeitschriften griffen gelegentlich auch die katholische
Geistlichkeit und Einrichtungen ihrer Kirche an, worauf die Geistlichkeit sich
genötigt sah, ebenfalls Zeitschriften ("Apzvalga" ^RundschauZ. "Szviesa" sMchtj
u. a.) zu begründen, die den klerikalen Interessen dienten und die Angriffe
abwehrten. Alle diese Zeitschriften, deren Redakteure unter Decknamen in Tilsit
wohnende russische Litauer waren, wurden trotz der streng bewachten Grenze
nach Rußland geschafft und unter dem nach Bildungsstoff dürstenden Volk ver¬
breitet. Haussuchungen, Verhaftungen und Verurteilungen zu langdauernden
Freiheitsstrafen, besonders unter den Mitgliedern der Intelligenz, gab es darob
in Menge. Allmählich kam die russische Regierung in Erwartung des japanischen
Krieges und unter dem Drucke der bevorstehenden Revolution zu der Erkenntnis,
zumal auch von den litauischen Auswanderern in Amerika viel unerwünschter


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Die litauisch-baltische Frage

Murawjeff, der den Aufstand mit blutiger Strenge unterdrückt hatte und
Generalgouvemeur von Wilna geworden war, setzte einen Erlaß durch, infolge
dessen jeder Buchdruck und jede Verbreitung von titanischer Schrift in Rußland
verboten wurde. Jede Übertretung wurde mit Gefängnis, administrativer Ver¬
schickung oder Stellung unter polizeilicher Aufsicht geahndet. Statt der litauischen
Bücher, mit der dem Volk seit alters her gewohnten Schrift, wurden ihm solche
mit russischer Schrift (Cyrillische Schrift) angeboten, die das Volk jedoch ver¬
schmähte. Vierzig Jahre hindurch lastete dieser, die geistige Entwicklung stark
hemmende Druck auf dem Volk. Diese Entziehung jeglicher geistigen Nahrung
wurde den Litauern, deren Nationalitätsbewußtsein sich auf keine Weise unter¬
drücken ließ, unerträglich. Sie wandten ihre Blicke nach Preußen, um von dort
mittels Schmuggels geistige Nahrung zu erlangen. In Tilsit begannen einige
Druckereien fast ausschließlich für die Litauer zu arbeiten. So wurden Millionen
von Büchern, Zeitschriften und Broschüren heimlich über die Grenze geschafft,
und dann mit derselben ängstlichen Heimlichkeit bis in die entlegensten Gegenden
Litauens verbreitet; wußten doch die Verbreiter, ob sie als Gebildete den
höheren Standen angehörten, oder einfache Leute waren, daß ihrer die härtesten
Strafen bei einer Entdeckung harrten. Das Lesen und Schreiben hatten die
Litauer durchgängig nicht verlernt. Aus den alten Gebetbüchern von vor 1864,
die wie kostbare Schätze gehütet wurden, hatten die Mütter ihre Kinder unter¬
richtet, und zwar mit so gutem Erfolge, daß die Zahl der Analphabeten unter
den Litauern ini Gegensatz zu vielen andern Gegenden Rußlands verschwindend
klein war.

Im Jahre 1883 erschien in Ragnit die erste periodische Zeitschrift für die
Litauer Rußlands, die von Dr. Bassanovicz in Warna (Bulgarien) redigierte
„Auszra" (Morgenröte), deren Hauptziel in der nationalen Erweckung der Litauer
bestand. Bald tat sich ein Teil der litauischen Intelligenz zusammen und ließ
von 1889 ab in Tilsit den „Varpas" (Glocke), eine Monatsschrift für Literatur,
Politik und Wissenschaft, erscheinen, desgleichen den „Mininkas" (Landwirt)
zur Belehrung der bäuerlichen Bevölkerung. Diese auf radikal-demokratischer
Grundlage beruhenden Zeitschriften griffen gelegentlich auch die katholische
Geistlichkeit und Einrichtungen ihrer Kirche an, worauf die Geistlichkeit sich
genötigt sah, ebenfalls Zeitschriften („Apzvalga" ^RundschauZ. „Szviesa" sMchtj
u. a.) zu begründen, die den klerikalen Interessen dienten und die Angriffe
abwehrten. Alle diese Zeitschriften, deren Redakteure unter Decknamen in Tilsit
wohnende russische Litauer waren, wurden trotz der streng bewachten Grenze
nach Rußland geschafft und unter dem nach Bildungsstoff dürstenden Volk ver¬
breitet. Haussuchungen, Verhaftungen und Verurteilungen zu langdauernden
Freiheitsstrafen, besonders unter den Mitgliedern der Intelligenz, gab es darob
in Menge. Allmählich kam die russische Regierung in Erwartung des japanischen
Krieges und unter dem Drucke der bevorstehenden Revolution zu der Erkenntnis,
zumal auch von den litauischen Auswanderern in Amerika viel unerwünschter


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[0223] Die litauisch-baltische Frage Murawjeff, der den Aufstand mit blutiger Strenge unterdrückt hatte und Generalgouvemeur von Wilna geworden war, setzte einen Erlaß durch, infolge dessen jeder Buchdruck und jede Verbreitung von titanischer Schrift in Rußland verboten wurde. Jede Übertretung wurde mit Gefängnis, administrativer Ver¬ schickung oder Stellung unter polizeilicher Aufsicht geahndet. Statt der litauischen Bücher, mit der dem Volk seit alters her gewohnten Schrift, wurden ihm solche mit russischer Schrift (Cyrillische Schrift) angeboten, die das Volk jedoch ver¬ schmähte. Vierzig Jahre hindurch lastete dieser, die geistige Entwicklung stark hemmende Druck auf dem Volk. Diese Entziehung jeglicher geistigen Nahrung wurde den Litauern, deren Nationalitätsbewußtsein sich auf keine Weise unter¬ drücken ließ, unerträglich. Sie wandten ihre Blicke nach Preußen, um von dort mittels Schmuggels geistige Nahrung zu erlangen. In Tilsit begannen einige Druckereien fast ausschließlich für die Litauer zu arbeiten. So wurden Millionen von Büchern, Zeitschriften und Broschüren heimlich über die Grenze geschafft, und dann mit derselben ängstlichen Heimlichkeit bis in die entlegensten Gegenden Litauens verbreitet; wußten doch die Verbreiter, ob sie als Gebildete den höheren Standen angehörten, oder einfache Leute waren, daß ihrer die härtesten Strafen bei einer Entdeckung harrten. Das Lesen und Schreiben hatten die Litauer durchgängig nicht verlernt. Aus den alten Gebetbüchern von vor 1864, die wie kostbare Schätze gehütet wurden, hatten die Mütter ihre Kinder unter¬ richtet, und zwar mit so gutem Erfolge, daß die Zahl der Analphabeten unter den Litauern ini Gegensatz zu vielen andern Gegenden Rußlands verschwindend klein war. Im Jahre 1883 erschien in Ragnit die erste periodische Zeitschrift für die Litauer Rußlands, die von Dr. Bassanovicz in Warna (Bulgarien) redigierte „Auszra" (Morgenröte), deren Hauptziel in der nationalen Erweckung der Litauer bestand. Bald tat sich ein Teil der litauischen Intelligenz zusammen und ließ von 1889 ab in Tilsit den „Varpas" (Glocke), eine Monatsschrift für Literatur, Politik und Wissenschaft, erscheinen, desgleichen den „Mininkas" (Landwirt) zur Belehrung der bäuerlichen Bevölkerung. Diese auf radikal-demokratischer Grundlage beruhenden Zeitschriften griffen gelegentlich auch die katholische Geistlichkeit und Einrichtungen ihrer Kirche an, worauf die Geistlichkeit sich genötigt sah, ebenfalls Zeitschriften („Apzvalga" ^RundschauZ. „Szviesa" sMchtj u. a.) zu begründen, die den klerikalen Interessen dienten und die Angriffe abwehrten. Alle diese Zeitschriften, deren Redakteure unter Decknamen in Tilsit wohnende russische Litauer waren, wurden trotz der streng bewachten Grenze nach Rußland geschafft und unter dem nach Bildungsstoff dürstenden Volk ver¬ breitet. Haussuchungen, Verhaftungen und Verurteilungen zu langdauernden Freiheitsstrafen, besonders unter den Mitgliedern der Intelligenz, gab es darob in Menge. Allmählich kam die russische Regierung in Erwartung des japanischen Krieges und unter dem Drucke der bevorstehenden Revolution zu der Erkenntnis, zumal auch von den litauischen Auswanderern in Amerika viel unerwünschter 14«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/223>, abgerufen am 27.09.2024.