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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

poker ("Südpreußen"), auch Danzig und Thorn, zugefallen, und schließlich
(1795) hat es "Neuostpreußen" bis zum Riemen und das Land links der
Weichsel mit Warschau in Besitz genommen. Später hat Napoleon nach dem
Tilsiter Frieden (1807) aus Gebieten, die Preußen abtreten mußte, das Gro߬
herzogtum Warschau gebildet, das jedoch 1812 wieder zerfiel. Dann (1815)
hat der Wiener Kongreß die heutigen Grenzen festgesetzt.

Der Gedanke, dem alten Kongreßpolen zu neuer Selbständigkeit zu ver¬
helfen, besitzt gegenwärtig viele Sympathien. Ungemein schwierig dürfte sich
jedoch seine Ausführung und die neue Lage gestalten. Wird Kongreßpolen
selbständig, so bieten die unter preußischer und österreichischer Herrschaft be¬
findlichen Teile des ehemaligen Königreichs eine ständige Beunruhigung für
diese Reiche, da die preußischen und galizischen Polen stets mit sehnsüchtigen
Blicken nach ihrem Nationalstaat hinschicken würden, und auch die Hoffnung
nicht aufgeben dürften, bei Gelegenheit die von ihnen bewohnten Gebiete dem
eigentlichen Polenreiche anzugliedern. Trotzdem würde es sich wenig empfehlen,
die Polen unter russischer Herrschaft zu belassen. Seiner geographischen Lage
nach -- ein Keil zwischen den Provinzen Preußen und Schlesien -- sollte Kongreß-
Polen am ehesten an Preußen-Deutschland Anschluß finden. Es dürfte das ohne
Zweifel im Interesse einer gesunden Weiterentwicklung des polnischen Staates
und der Erhaltung des Friedens mit den benachbarten Staaten sein. Doch
wird Deutschland kaum Begehr tragen, in ganz nahe Beziehungen zu Polen
zu treten. Eher würde Polen zum österreich-ungarischen Staatengebilde passen,
das bereits sehr starke slawische Elemente in sich vereinigt; doch würde es die
größten Gefahren für Österreichs Bestand mit sich bringen.

Leichter lösbar dürfte ohne Zweifel die litauische Frage sein. Während
die Polen als Slawen zu den Russen in einem gewissen brüderlichen Nationalitäten-
Verhältnis stehen, ist dies bei den Litauern durchaus nicht der Fall. Die
litauische Sprache, die "unter allen lebenden indogermanischen Sprachen die bei
weitem größte Altertümlichkeit zeigt" (Schleichers Grammatik), ist von der
russischen ungemein verschieden. Die im siebzehnten Jahrhundert im Deutsch'
tum untergegangene altpreußische und die in Kur- und Livland herrschende
lettische Sprache bilden mit der litauischen eine ganz besondere Sprachfamilie,
die baltische, die von den slawischen Sprachen weit entfernt ist. sprachlich,
wie national, haben die Litauer so gut wie nichts mit den Russen gemein.

Die Altertumsforschung hat aus sprachlichen Gründen erwiesen, daß die
Litauer ein autochthones, seit Jahrtausenden seßhaftes Volk seien. Seit alters
her haben sich in Litauen verschiedene bedeutende Einflüsse seitens der be¬
nachbarten Völker, insbesondere der Polen und Weißrussen geltend gemacht.
Das Volk der Litauer hat in der Geschichte der östlichen Völker eine sehr
bedeutende Rolle gespielt. Aber erst seit dem Anfang des zwölften Jahrhunderts
sind nähere historische Nachrichten über sie überliefert, als sie einerseits von den
östlichen Nachbarstaaten, anderseits von den zur Ausbreitung des Christentums


Die litauisch-baltische Frage

poker („Südpreußen"), auch Danzig und Thorn, zugefallen, und schließlich
(1795) hat es „Neuostpreußen" bis zum Riemen und das Land links der
Weichsel mit Warschau in Besitz genommen. Später hat Napoleon nach dem
Tilsiter Frieden (1807) aus Gebieten, die Preußen abtreten mußte, das Gro߬
herzogtum Warschau gebildet, das jedoch 1812 wieder zerfiel. Dann (1815)
hat der Wiener Kongreß die heutigen Grenzen festgesetzt.

Der Gedanke, dem alten Kongreßpolen zu neuer Selbständigkeit zu ver¬
helfen, besitzt gegenwärtig viele Sympathien. Ungemein schwierig dürfte sich
jedoch seine Ausführung und die neue Lage gestalten. Wird Kongreßpolen
selbständig, so bieten die unter preußischer und österreichischer Herrschaft be¬
findlichen Teile des ehemaligen Königreichs eine ständige Beunruhigung für
diese Reiche, da die preußischen und galizischen Polen stets mit sehnsüchtigen
Blicken nach ihrem Nationalstaat hinschicken würden, und auch die Hoffnung
nicht aufgeben dürften, bei Gelegenheit die von ihnen bewohnten Gebiete dem
eigentlichen Polenreiche anzugliedern. Trotzdem würde es sich wenig empfehlen,
die Polen unter russischer Herrschaft zu belassen. Seiner geographischen Lage
nach — ein Keil zwischen den Provinzen Preußen und Schlesien — sollte Kongreß-
Polen am ehesten an Preußen-Deutschland Anschluß finden. Es dürfte das ohne
Zweifel im Interesse einer gesunden Weiterentwicklung des polnischen Staates
und der Erhaltung des Friedens mit den benachbarten Staaten sein. Doch
wird Deutschland kaum Begehr tragen, in ganz nahe Beziehungen zu Polen
zu treten. Eher würde Polen zum österreich-ungarischen Staatengebilde passen,
das bereits sehr starke slawische Elemente in sich vereinigt; doch würde es die
größten Gefahren für Österreichs Bestand mit sich bringen.

Leichter lösbar dürfte ohne Zweifel die litauische Frage sein. Während
die Polen als Slawen zu den Russen in einem gewissen brüderlichen Nationalitäten-
Verhältnis stehen, ist dies bei den Litauern durchaus nicht der Fall. Die
litauische Sprache, die „unter allen lebenden indogermanischen Sprachen die bei
weitem größte Altertümlichkeit zeigt" (Schleichers Grammatik), ist von der
russischen ungemein verschieden. Die im siebzehnten Jahrhundert im Deutsch'
tum untergegangene altpreußische und die in Kur- und Livland herrschende
lettische Sprache bilden mit der litauischen eine ganz besondere Sprachfamilie,
die baltische, die von den slawischen Sprachen weit entfernt ist. sprachlich,
wie national, haben die Litauer so gut wie nichts mit den Russen gemein.

Die Altertumsforschung hat aus sprachlichen Gründen erwiesen, daß die
Litauer ein autochthones, seit Jahrtausenden seßhaftes Volk seien. Seit alters
her haben sich in Litauen verschiedene bedeutende Einflüsse seitens der be¬
nachbarten Völker, insbesondere der Polen und Weißrussen geltend gemacht.
Das Volk der Litauer hat in der Geschichte der östlichen Völker eine sehr
bedeutende Rolle gespielt. Aber erst seit dem Anfang des zwölften Jahrhunderts
sind nähere historische Nachrichten über sie überliefert, als sie einerseits von den
östlichen Nachbarstaaten, anderseits von den zur Ausbreitung des Christentums


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[0219] Die litauisch-baltische Frage poker („Südpreußen"), auch Danzig und Thorn, zugefallen, und schließlich (1795) hat es „Neuostpreußen" bis zum Riemen und das Land links der Weichsel mit Warschau in Besitz genommen. Später hat Napoleon nach dem Tilsiter Frieden (1807) aus Gebieten, die Preußen abtreten mußte, das Gro߬ herzogtum Warschau gebildet, das jedoch 1812 wieder zerfiel. Dann (1815) hat der Wiener Kongreß die heutigen Grenzen festgesetzt. Der Gedanke, dem alten Kongreßpolen zu neuer Selbständigkeit zu ver¬ helfen, besitzt gegenwärtig viele Sympathien. Ungemein schwierig dürfte sich jedoch seine Ausführung und die neue Lage gestalten. Wird Kongreßpolen selbständig, so bieten die unter preußischer und österreichischer Herrschaft be¬ findlichen Teile des ehemaligen Königreichs eine ständige Beunruhigung für diese Reiche, da die preußischen und galizischen Polen stets mit sehnsüchtigen Blicken nach ihrem Nationalstaat hinschicken würden, und auch die Hoffnung nicht aufgeben dürften, bei Gelegenheit die von ihnen bewohnten Gebiete dem eigentlichen Polenreiche anzugliedern. Trotzdem würde es sich wenig empfehlen, die Polen unter russischer Herrschaft zu belassen. Seiner geographischen Lage nach — ein Keil zwischen den Provinzen Preußen und Schlesien — sollte Kongreß- Polen am ehesten an Preußen-Deutschland Anschluß finden. Es dürfte das ohne Zweifel im Interesse einer gesunden Weiterentwicklung des polnischen Staates und der Erhaltung des Friedens mit den benachbarten Staaten sein. Doch wird Deutschland kaum Begehr tragen, in ganz nahe Beziehungen zu Polen zu treten. Eher würde Polen zum österreich-ungarischen Staatengebilde passen, das bereits sehr starke slawische Elemente in sich vereinigt; doch würde es die größten Gefahren für Österreichs Bestand mit sich bringen. Leichter lösbar dürfte ohne Zweifel die litauische Frage sein. Während die Polen als Slawen zu den Russen in einem gewissen brüderlichen Nationalitäten- Verhältnis stehen, ist dies bei den Litauern durchaus nicht der Fall. Die litauische Sprache, die „unter allen lebenden indogermanischen Sprachen die bei weitem größte Altertümlichkeit zeigt" (Schleichers Grammatik), ist von der russischen ungemein verschieden. Die im siebzehnten Jahrhundert im Deutsch' tum untergegangene altpreußische und die in Kur- und Livland herrschende lettische Sprache bilden mit der litauischen eine ganz besondere Sprachfamilie, die baltische, die von den slawischen Sprachen weit entfernt ist. sprachlich, wie national, haben die Litauer so gut wie nichts mit den Russen gemein. Die Altertumsforschung hat aus sprachlichen Gründen erwiesen, daß die Litauer ein autochthones, seit Jahrtausenden seßhaftes Volk seien. Seit alters her haben sich in Litauen verschiedene bedeutende Einflüsse seitens der be¬ nachbarten Völker, insbesondere der Polen und Weißrussen geltend gemacht. Das Volk der Litauer hat in der Geschichte der östlichen Völker eine sehr bedeutende Rolle gespielt. Aber erst seit dem Anfang des zwölften Jahrhunderts sind nähere historische Nachrichten über sie überliefert, als sie einerseits von den östlichen Nachbarstaaten, anderseits von den zur Ausbreitung des Christentums

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/219>, abgerufen am 27.09.2024.