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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

alten Germanen, wenn die Taten der Vorzeit gesungen wurden. Wovon wird
heute erzählt? Von Nachtigall, dem Afrikareisenden, dem deutschen Gelehrten,
der den Schleier über der Sahara zuerst lüftete mit kühnem Forschermut, einem
friedlichen Mann, der niemals auf einen Wilden geschossen hat, und der doch ein
Held war, der die Wüste und listige tyrannische Sultane mit ruhigem, starkem Geiste
überwand. Jetzt singen wir Lieder: alte gute deutsche Lieder! Der Leiter hat
noch etwas zu sagen: Er hat in diesem bewegten Leben fast jede Woche noch
etwas zu sagen. Es fehlt an Ordnern. Warum will keiner heran an das
Amt? Es ist zu mühsam. "Ihr wollt doch alle große Demokraten, Sozial¬
demokraten sein. Die verwalten alle ihre Angelegenheiten selbst. Ihr wollt viel
besser als die Christenleute sein. Ihr übt gern Menschlichkeit und Liebe! Nun,
hier ist Gelegenheit!" Das hilft. Die kleinen proletarischen Seelen sind doch
einmal aufgerüttelt. Die bessere Jungennatur ist getroffen. Drei melden sich
zu dem Amt. Die Versammlung erklärt sich einverstanden.

Ein anderes Mal ist trauriges zu melden: Krankheit, Todesfall. Hat der
Tod in die Reihen gegriffen, so spreche der Freund der Jugend aus, was er
über den Kameraden zu sagen hat, und wenn er's vermag, so bekenne er's:
der Verlorene lebt. Hier ist der Ort zum religiösen Bekenntnis. Denn im
Volke gilt jeder, der seine ganze. Person und seinen ganzen Glauben einsetzt zu
der Stunde, wo es erwartet wird.

In der Woche muß der Leiter solches Kreises die Eltern besuchen. Dem
Elternhaus muß Ehre erwiesen werden. Das kann nur helfen, die Autorität
der Eltern zu festigen. Auch lernt der Besucher unendlich viel hierbei. Er
lernt das Leben kennen, aus dem seine Jungen herkommen. Es wird ihm
leichter, auf die Pflichten und Interessen der Jungen einzugehen, in denen ihr
Reichtum besteht.

Weiter aber wird der Leiter solches Kreises seine Helfer und Freunde,
auch die aus der Jugend selbst heranwachsenden, von Zeit zu Zeit zusammenrufen,
um die gemeinsame Arbeit zu besprechen. So nur wird es möglich sein, jenes
unsichtbare, aber unzerreißbare Netz einer feinen Disziplin über das Ganze auszu¬
breiten. Die Jungen, denen die sichere Erziehung des Hauses eben zum Teil gefehlt
hat, können zunächst nicht gehorchen. Der Leiter ist ihnen kein Vorgesetzter, die
Jungen kommen ja freiwillig. Trotzdem muß es gelingen, hier die Grundlagen
der Kultur zu festigen: "Bitte, bringe diese Malstange fort!" -- "Nein, ich
habe hier nicht mitgespielt." -- "Aber sie gehört doch uns allen, bitte." --
Der Junge faßt das Ding an. Doch ach, der arme Vereinsleiter, der dachte,
nun our's getan! Dann weiß er noch nicht, was' proletarischer Charakter
heißt. Der Junge wird die Stange inmitten des Platzes niederlegen. "Aber,
lieber Freund, das nenne ich unehrlich. Wenn du den Anfang machst, mußt
du auch ein rechtes Ende machen." Der Junge schaut etwas beschämt. Der
Vereinsleiter ist doch ein ganzer Kerl, läßt sich nichts vormachen. Der erste
Schritt zum freiwilligen Gehorsam ist getan.


Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

alten Germanen, wenn die Taten der Vorzeit gesungen wurden. Wovon wird
heute erzählt? Von Nachtigall, dem Afrikareisenden, dem deutschen Gelehrten,
der den Schleier über der Sahara zuerst lüftete mit kühnem Forschermut, einem
friedlichen Mann, der niemals auf einen Wilden geschossen hat, und der doch ein
Held war, der die Wüste und listige tyrannische Sultane mit ruhigem, starkem Geiste
überwand. Jetzt singen wir Lieder: alte gute deutsche Lieder! Der Leiter hat
noch etwas zu sagen: Er hat in diesem bewegten Leben fast jede Woche noch
etwas zu sagen. Es fehlt an Ordnern. Warum will keiner heran an das
Amt? Es ist zu mühsam. „Ihr wollt doch alle große Demokraten, Sozial¬
demokraten sein. Die verwalten alle ihre Angelegenheiten selbst. Ihr wollt viel
besser als die Christenleute sein. Ihr übt gern Menschlichkeit und Liebe! Nun,
hier ist Gelegenheit!" Das hilft. Die kleinen proletarischen Seelen sind doch
einmal aufgerüttelt. Die bessere Jungennatur ist getroffen. Drei melden sich
zu dem Amt. Die Versammlung erklärt sich einverstanden.

Ein anderes Mal ist trauriges zu melden: Krankheit, Todesfall. Hat der
Tod in die Reihen gegriffen, so spreche der Freund der Jugend aus, was er
über den Kameraden zu sagen hat, und wenn er's vermag, so bekenne er's:
der Verlorene lebt. Hier ist der Ort zum religiösen Bekenntnis. Denn im
Volke gilt jeder, der seine ganze. Person und seinen ganzen Glauben einsetzt zu
der Stunde, wo es erwartet wird.

In der Woche muß der Leiter solches Kreises die Eltern besuchen. Dem
Elternhaus muß Ehre erwiesen werden. Das kann nur helfen, die Autorität
der Eltern zu festigen. Auch lernt der Besucher unendlich viel hierbei. Er
lernt das Leben kennen, aus dem seine Jungen herkommen. Es wird ihm
leichter, auf die Pflichten und Interessen der Jungen einzugehen, in denen ihr
Reichtum besteht.

Weiter aber wird der Leiter solches Kreises seine Helfer und Freunde,
auch die aus der Jugend selbst heranwachsenden, von Zeit zu Zeit zusammenrufen,
um die gemeinsame Arbeit zu besprechen. So nur wird es möglich sein, jenes
unsichtbare, aber unzerreißbare Netz einer feinen Disziplin über das Ganze auszu¬
breiten. Die Jungen, denen die sichere Erziehung des Hauses eben zum Teil gefehlt
hat, können zunächst nicht gehorchen. Der Leiter ist ihnen kein Vorgesetzter, die
Jungen kommen ja freiwillig. Trotzdem muß es gelingen, hier die Grundlagen
der Kultur zu festigen: „Bitte, bringe diese Malstange fort!" — „Nein, ich
habe hier nicht mitgespielt." — „Aber sie gehört doch uns allen, bitte." —
Der Junge faßt das Ding an. Doch ach, der arme Vereinsleiter, der dachte,
nun our's getan! Dann weiß er noch nicht, was' proletarischer Charakter
heißt. Der Junge wird die Stange inmitten des Platzes niederlegen. „Aber,
lieber Freund, das nenne ich unehrlich. Wenn du den Anfang machst, mußt
du auch ein rechtes Ende machen." Der Junge schaut etwas beschämt. Der
Vereinsleiter ist doch ein ganzer Kerl, läßt sich nichts vormachen. Der erste
Schritt zum freiwilligen Gehorsam ist getan.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/35>, abgerufen am 27.09.2024.