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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

geschädigt. Wer also die Ungerechtigkeit auf der einen Seite fortschaffen will,
darf sie an anderer Stelle nicht wieder einführen. Infolgedessen müßten die
Gelehrtenberufe, die Vertreter des ländlichen, industriellen und händlerischen
Unternehmertums durch Ergänzungen an anderer Stelle des Neichsapparates
entschädigt und sicher gestellt werden. Der Reichstag würde sonst mehr eine Ver¬
tretung des vierten Standes werden, die alle andern Stände majoristerte. Bei
dem einmal vorhandenen Wahlrecht wäre dem Übel ohne Verfassungsänderung nich
beizukommen. Aber die Verfassungsänderung brauchte auch nicht eine Minderung
der vorhandenen Rechte erstreben, sondern könnte sie ausgleichen durch Schaffung
der neuen Organe, für die sich Ansätze bereits von selbst gebildet haben.

Eine Neueinteilung der Wahlkreise, die geeignet ist z. B. die Vertretung der
Landwirtschaft zurückzudrängen, muß im Interesse der Gesamtheit des Landes eine
Ergänzung des Regierungsapparates nach sich ziehen, die die Landwirtschaft ganz
besonders berücksichtigt; eine Neueinteilung, die die Arbeitermassen bevorzugt,
müßte eine Ergänzung des Regierungsapparates nach sich ziehen, die die Unter¬
nehmer aus Handel und Industrie besonders berücksichtigte. So wächst bei
derartigen Betrachtungen vor unsern: geistigen Auge ein durch Kommissionen
erweiterter Bundesrat oder ein Neichsoberhaus oder eine sonstwie genannte
Organisation in Umrissen empor, dereinst dazu berufen die fortschreitende Demo¬
kratisierung unseres öffentlichen Lebens, der ihr anhaftenden Auswüchse zu
berauben. Zum Heil des Ganzen!

Doch das ist Zukunftsmusik, da sich ohne lebensgefährlichen Druck, ohne
völligen Zusammenbruch des alten, nur selten Männer finden, die das Wagnis
des Anbaues unternehmen. Und so wird sich wohl auch in Deutschland
sobald kaum ein Staatsmann oder eine staatserhaltende Partei finden, die
an sich schon gespannten Verhältnisse durch Neuerungen zu belasten, ehe jene
nicht von selbst in sich zusammenstürzen.

Im Augenblick interessanter und wohl auch brennender ist die Frage nach
der Zusammensetzung des Neichstagspräsidiums. Ihre Entscheidung
bildet gleichfalls eine Etappe auf dem vorher angedeuteten Wege zur weiteren
Demokratisierung, vor der wir das Land nicht bewahren können. Sie ist aber
im gegenwärtigen Stadium weniger eine Vernunftfrage als die des Gefühls
und des Taktes, was sie übrigens nicht weniger kritisch erscheinen läßt.

Wie bekannt, ist es Brauch im Deutschen Reichstage, daß die stärkste
Fraktion den Präsidenten, die andern Fraktionen nach Übereinkunft den Vize¬
präsidenten stellen. Im neuen Reichstage bilden die 110 Sozialdemokraten
die stärkste, die 93 Zentrumsmänner die zweitstärkste und die 46 National-
liberalen die drittstärkste Fraktion. Infolgedessen müßte sich das Präsidium
zusammensetzen aus einem Sozialdemokraten als Präsidenten, einem Zentrums¬
abgeordneter als ersten und einem Nationalliberalen als zweiten Vizepräsidenten.
Es bedarf keines genaueren Nachweises, wenn behauptet wird, daß sich gegen
ein solches, Präsidium Konservative, Freisinnige, Zentrum und Nationalliberale


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geschädigt. Wer also die Ungerechtigkeit auf der einen Seite fortschaffen will,
darf sie an anderer Stelle nicht wieder einführen. Infolgedessen müßten die
Gelehrtenberufe, die Vertreter des ländlichen, industriellen und händlerischen
Unternehmertums durch Ergänzungen an anderer Stelle des Neichsapparates
entschädigt und sicher gestellt werden. Der Reichstag würde sonst mehr eine Ver¬
tretung des vierten Standes werden, die alle andern Stände majoristerte. Bei
dem einmal vorhandenen Wahlrecht wäre dem Übel ohne Verfassungsänderung nich
beizukommen. Aber die Verfassungsänderung brauchte auch nicht eine Minderung
der vorhandenen Rechte erstreben, sondern könnte sie ausgleichen durch Schaffung
der neuen Organe, für die sich Ansätze bereits von selbst gebildet haben.

Eine Neueinteilung der Wahlkreise, die geeignet ist z. B. die Vertretung der
Landwirtschaft zurückzudrängen, muß im Interesse der Gesamtheit des Landes eine
Ergänzung des Regierungsapparates nach sich ziehen, die die Landwirtschaft ganz
besonders berücksichtigt; eine Neueinteilung, die die Arbeitermassen bevorzugt,
müßte eine Ergänzung des Regierungsapparates nach sich ziehen, die die Unter¬
nehmer aus Handel und Industrie besonders berücksichtigte. So wächst bei
derartigen Betrachtungen vor unsern: geistigen Auge ein durch Kommissionen
erweiterter Bundesrat oder ein Neichsoberhaus oder eine sonstwie genannte
Organisation in Umrissen empor, dereinst dazu berufen die fortschreitende Demo¬
kratisierung unseres öffentlichen Lebens, der ihr anhaftenden Auswüchse zu
berauben. Zum Heil des Ganzen!

Doch das ist Zukunftsmusik, da sich ohne lebensgefährlichen Druck, ohne
völligen Zusammenbruch des alten, nur selten Männer finden, die das Wagnis
des Anbaues unternehmen. Und so wird sich wohl auch in Deutschland
sobald kaum ein Staatsmann oder eine staatserhaltende Partei finden, die
an sich schon gespannten Verhältnisse durch Neuerungen zu belasten, ehe jene
nicht von selbst in sich zusammenstürzen.

Im Augenblick interessanter und wohl auch brennender ist die Frage nach
der Zusammensetzung des Neichstagspräsidiums. Ihre Entscheidung
bildet gleichfalls eine Etappe auf dem vorher angedeuteten Wege zur weiteren
Demokratisierung, vor der wir das Land nicht bewahren können. Sie ist aber
im gegenwärtigen Stadium weniger eine Vernunftfrage als die des Gefühls
und des Taktes, was sie übrigens nicht weniger kritisch erscheinen läßt.

Wie bekannt, ist es Brauch im Deutschen Reichstage, daß die stärkste
Fraktion den Präsidenten, die andern Fraktionen nach Übereinkunft den Vize¬
präsidenten stellen. Im neuen Reichstage bilden die 110 Sozialdemokraten
die stärkste, die 93 Zentrumsmänner die zweitstärkste und die 46 National-
liberalen die drittstärkste Fraktion. Infolgedessen müßte sich das Präsidium
zusammensetzen aus einem Sozialdemokraten als Präsidenten, einem Zentrums¬
abgeordneter als ersten und einem Nationalliberalen als zweiten Vizepräsidenten.
Es bedarf keines genaueren Nachweises, wenn behauptet wird, daß sich gegen
ein solches, Präsidium Konservative, Freisinnige, Zentrum und Nationalliberale


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/306>, abgerufen am 27.09.2024.