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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^9^5

Die Stellung der Sjemstwoorganisation ist noch nicht bestimmt, doch kann
man annehmen, daß sie gemeinsam mit den Vertretern der Städte die Taktik
des Lojüs sojüsov zur ihrigen machen werden.

- Die weitere Frage ist nun, wo die Macht ist, bei den Anhängern der
Autokratie oder bei denen des Fortschritts. Meine persönliche Ansicht, die
mir von allen Seiten bestritten wird, geht dahin, daß die Anhänger der
Autokratie solange die Macht haben, so lange Trepow am Nuder, und die
Mehrzahl der Regimenter noch dem Zaren ergeben ist. Solange diese beiden
Machtmittel noch mitzählen, hat die an verschieden Ecken des Reichs empor¬
lodernde Revolution keinen Einfluß auf die Gesetzgebung. Andrerseits halte
ich Trepow und die Armee nicht für fähig, das Land so weit zu beruhigen,
daß ein gesichertes Leben und Arbeiten im Lande wieder Platz greifen konnte.
Jeder Versuch der Machthaber, mit Palliativmitteln, als die alle Maßregeln
seit dem 12./25. Dezember 1904 aufzufassen sind, die Revolution auszurotten,
wird sie vergrößern und die Macht der Regierung untergraben. Ein solches
Palliativmittel ist auch das Projekt Bulygin, wäre heute sogar eine Reform,
wie sie D. N. Schipow vorgeschlagen hat. Solange sich die Volksvertreter
nicht als konstituierende Versammlung etablieren und die bekannten demo¬
kratischen Grundsätze zur Richtschnur ihrer Tätigkeit machen, so lange werden
die Sozialisten und die Oswoboshdjenee ihre unheilvolle terroristische oder
revolutionäre Tätigkeit fortsetzen; sie werden mit allen Mitteln die Beruhigung
im Lande zu verhindern suchen, und die wirtschaftliche Lage der Bauern im
Schwarzerdegebiet, die bevorstehende Mißernte in Südostrußland, die Wirtschafts¬
krisis im Wolgabecken und in Polen werden ihre Bemühungen unterstützen.

Gegen diese Macht hilft kein Trepow und keine Armee. Solche krank¬
haften Zustände können sich nicht, wie die Sozialisten behaupten, nur noch
sechs bis acht Monate hinziehn, sondern zwei, ja drei Jahre. Dann aber
sind die wirtschaftlichen, die finanziellen und die moralischen Kräfte des Landes
erschöpft, und der Zusammenbruch ist unvermeidlich. Ob alsdann aber Ru߬
land noch stark genug sein wird, als politisches Ganze aus der Revolution
hervorzugehn, möchte ich bezweifeln.

So gibt es denn gegenwärtig nur ein einziges Mittel, Rußland, den
Zaren und fein Haus vor dem Äußersten zu retten. Es ist die Berufung
der Sjemstwogruppe zur politischen Arbeit, es ist die Erhebung des demo¬
kratischen Prinzips zum Staatsprinzip in Rußland. Die Sjemstwomünner
sind die besten, solidesten Kräfte des demokratisierten und demoralisierten
Landes, sie genießen das Vertrauen der weitesten Kreise, die heute in den
Reihen der Kämpfer um den Fortschritt stehn. Gibt es überhaupt ein Mittel,
Rußland noch zu retten, dann liegt es bei der Sjemstwo!




Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^9^5

Die Stellung der Sjemstwoorganisation ist noch nicht bestimmt, doch kann
man annehmen, daß sie gemeinsam mit den Vertretern der Städte die Taktik
des Lojüs sojüsov zur ihrigen machen werden.

- Die weitere Frage ist nun, wo die Macht ist, bei den Anhängern der
Autokratie oder bei denen des Fortschritts. Meine persönliche Ansicht, die
mir von allen Seiten bestritten wird, geht dahin, daß die Anhänger der
Autokratie solange die Macht haben, so lange Trepow am Nuder, und die
Mehrzahl der Regimenter noch dem Zaren ergeben ist. Solange diese beiden
Machtmittel noch mitzählen, hat die an verschieden Ecken des Reichs empor¬
lodernde Revolution keinen Einfluß auf die Gesetzgebung. Andrerseits halte
ich Trepow und die Armee nicht für fähig, das Land so weit zu beruhigen,
daß ein gesichertes Leben und Arbeiten im Lande wieder Platz greifen konnte.
Jeder Versuch der Machthaber, mit Palliativmitteln, als die alle Maßregeln
seit dem 12./25. Dezember 1904 aufzufassen sind, die Revolution auszurotten,
wird sie vergrößern und die Macht der Regierung untergraben. Ein solches
Palliativmittel ist auch das Projekt Bulygin, wäre heute sogar eine Reform,
wie sie D. N. Schipow vorgeschlagen hat. Solange sich die Volksvertreter
nicht als konstituierende Versammlung etablieren und die bekannten demo¬
kratischen Grundsätze zur Richtschnur ihrer Tätigkeit machen, so lange werden
die Sozialisten und die Oswoboshdjenee ihre unheilvolle terroristische oder
revolutionäre Tätigkeit fortsetzen; sie werden mit allen Mitteln die Beruhigung
im Lande zu verhindern suchen, und die wirtschaftliche Lage der Bauern im
Schwarzerdegebiet, die bevorstehende Mißernte in Südostrußland, die Wirtschafts¬
krisis im Wolgabecken und in Polen werden ihre Bemühungen unterstützen.

Gegen diese Macht hilft kein Trepow und keine Armee. Solche krank¬
haften Zustände können sich nicht, wie die Sozialisten behaupten, nur noch
sechs bis acht Monate hinziehn, sondern zwei, ja drei Jahre. Dann aber
sind die wirtschaftlichen, die finanziellen und die moralischen Kräfte des Landes
erschöpft, und der Zusammenbruch ist unvermeidlich. Ob alsdann aber Ru߬
land noch stark genug sein wird, als politisches Ganze aus der Revolution
hervorzugehn, möchte ich bezweifeln.

So gibt es denn gegenwärtig nur ein einziges Mittel, Rußland, den
Zaren und fein Haus vor dem Äußersten zu retten. Es ist die Berufung
der Sjemstwogruppe zur politischen Arbeit, es ist die Erhebung des demo¬
kratischen Prinzips zum Staatsprinzip in Rußland. Die Sjemstwomünner
sind die besten, solidesten Kräfte des demokratisierten und demoralisierten
Landes, sie genießen das Vertrauen der weitesten Kreise, die heute in den
Reihen der Kämpfer um den Fortschritt stehn. Gibt es überhaupt ein Mittel,
Rußland noch zu retten, dann liegt es bei der Sjemstwo!




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[0648] Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^9^5 Die Stellung der Sjemstwoorganisation ist noch nicht bestimmt, doch kann man annehmen, daß sie gemeinsam mit den Vertretern der Städte die Taktik des Lojüs sojüsov zur ihrigen machen werden. - Die weitere Frage ist nun, wo die Macht ist, bei den Anhängern der Autokratie oder bei denen des Fortschritts. Meine persönliche Ansicht, die mir von allen Seiten bestritten wird, geht dahin, daß die Anhänger der Autokratie solange die Macht haben, so lange Trepow am Nuder, und die Mehrzahl der Regimenter noch dem Zaren ergeben ist. Solange diese beiden Machtmittel noch mitzählen, hat die an verschieden Ecken des Reichs empor¬ lodernde Revolution keinen Einfluß auf die Gesetzgebung. Andrerseits halte ich Trepow und die Armee nicht für fähig, das Land so weit zu beruhigen, daß ein gesichertes Leben und Arbeiten im Lande wieder Platz greifen konnte. Jeder Versuch der Machthaber, mit Palliativmitteln, als die alle Maßregeln seit dem 12./25. Dezember 1904 aufzufassen sind, die Revolution auszurotten, wird sie vergrößern und die Macht der Regierung untergraben. Ein solches Palliativmittel ist auch das Projekt Bulygin, wäre heute sogar eine Reform, wie sie D. N. Schipow vorgeschlagen hat. Solange sich die Volksvertreter nicht als konstituierende Versammlung etablieren und die bekannten demo¬ kratischen Grundsätze zur Richtschnur ihrer Tätigkeit machen, so lange werden die Sozialisten und die Oswoboshdjenee ihre unheilvolle terroristische oder revolutionäre Tätigkeit fortsetzen; sie werden mit allen Mitteln die Beruhigung im Lande zu verhindern suchen, und die wirtschaftliche Lage der Bauern im Schwarzerdegebiet, die bevorstehende Mißernte in Südostrußland, die Wirtschafts¬ krisis im Wolgabecken und in Polen werden ihre Bemühungen unterstützen. Gegen diese Macht hilft kein Trepow und keine Armee. Solche krank¬ haften Zustände können sich nicht, wie die Sozialisten behaupten, nur noch sechs bis acht Monate hinziehn, sondern zwei, ja drei Jahre. Dann aber sind die wirtschaftlichen, die finanziellen und die moralischen Kräfte des Landes erschöpft, und der Zusammenbruch ist unvermeidlich. Ob alsdann aber Ru߬ land noch stark genug sein wird, als politisches Ganze aus der Revolution hervorzugehn, möchte ich bezweifeln. So gibt es denn gegenwärtig nur ein einziges Mittel, Rußland, den Zaren und fein Haus vor dem Äußersten zu retten. Es ist die Berufung der Sjemstwogruppe zur politischen Arbeit, es ist die Erhebung des demo¬ kratischen Prinzips zum Staatsprinzip in Rußland. Die Sjemstwomünner sind die besten, solidesten Kräfte des demokratisierten und demoralisierten Landes, sie genießen das Vertrauen der weitesten Kreise, die heute in den Reihen der Kämpfer um den Fortschritt stehn. Gibt es überhaupt ein Mittel, Rußland noch zu retten, dann liegt es bei der Sjemstwo!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/648>, abgerufen am 27.09.2024.