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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Generalstabsarzt Dr. von Vogt bezeichnet in diesem Buche Serings Satz "Die
Landbevölkerung bildet nach wie vor die Hauptquelle der physischen Kraft der
Nation" in der Auffassung, "daß das Land, aber nicht die Landwirtschaft die meisten
und die tüchtigsten Rekruten liefert," als vollgiltig für Bayern. Das Stadtleben
äußert eine verderbliche Wirkung nach seiner Ansicht dadurch, daß es die Nach¬
kommen der nach der Erfüllung der Wehrpflicht vom Lande einwandernden körperlich
schwach macht. Berlin erhält einen fortwährend steigenden Zuzug aus der Provinz
Brandenburg, die eine ungewöhnlich hohe Tauglichkeitszahl, 82 Prozent, hat. Aber
trotz dem reichlich nach der Hauptstadt strömenden gesunden Blut sinkt die Tauglich¬
keitszahl Berlins fortwährend, bis zu 38 Prozent. So prompt arbeitet die Sybaris
von Brandenburg. Doch sieht der Verfasser in der "Industrialisierung" keine Gefahr
und in der Vergrößerung und der Vermehrung der Städte nicht die Hauptgefahr
für die Wehrfähigkeit. Er bezeichnet die Kindersterblichkeit und die Tuberkulose
als die Schäden, die die Zahl und die Tauglichkeit der bayrischen Wehrpflichtigen
am tiefsten herabsetzen. Im Jahre 1901 fielen 41.3 Prozent aller Sterbefälle
männlicher Wesen in das erste Lebensjahr. "Fast aller Verlust an Wehrkraft und
aller Gewinn drängt sich in der Kindersterblichkeit bzw. ihrer Bekämpfung zusammen."
Die Vorenthnltung der Mutterbrust und damit eine unvollkommne und fehlerhafte
Ernährung sind der Hauptgrund der hohen Kindersterblichkeit in Bayern. Der
Verfasser erhärtet und beleuchtet diese Behauptung, indem er eine wichtige Beobach¬
tung mitteilt, die im letzten deutsch-französischen Kriege gemacht worden ist: in
Paris sank während der Belagerung die Kindersterblichkeit von 30 Prozent auf
17 Prozent, weil die Mütter infolge der Absperrung der Milchzusuhr gezwungen
waren, ihre Kinder zu stillen. Und auf dem Lande rings um Paris nahm die
Kindersterblichkeit ab, weil in der schweren Kriegszeit die schwerste Not für die
Neugebornen, die Muttermilchnot, schwand, da die Mütter keine Ammenstellen in
der Hauptstadt annehmen konnten. -- Wo die Sterblichkeit infolge der Tuberkulose
sehr hoch ist, sind die Wehrpflichtigen körperlich von geringem Wert, "sei dies nun
durch sogenannte Disposition oder durch latente oder manifeste Tuberkulose." Ebenso
ist die Tauglichkeitszahl niedrig, wo die Kindersterblichkeit hoch ist. Mit dem jähr¬
lichen Verluste von 50000 Neugebornen ist es nicht abgetan, nicht bloß die Zahl
der Wehrpflichtigen, sondern auch die Tauglichkeit der Wehrpflichtigen wird durch
die verkehrte Ernährung der Säuglinge herabgesetzt. Die Geographie der Kinder¬
sterblichkeit und der Tuberkulose ergibt, daß die beiden Übel in ihrem tiefsten
Stande örtlich zusammenfallen.

Neben der Bekämpfung der Kindersterblichkeit und der Tuberkulose bezeichnet
Dr. von Vogt die Erhöhung der Tauglichkeit der Wehrpflichtigen zur Tüchtigkeit
als die dringendste Aufgabe der Volkswirtschaft und fordert zu diesem Zweck
energisch eine Umgestaltung unsrer körperlichen Jugenderziehung. Er hat gefunden,
daß die Wehrpflichtigen vom Lande, die Wehrpflichtigen des Handelsstandes und
die Studierenden der Mittelschulen am deutlichsten den Mangel körperlicher Er¬
ziehung zeigen. Sein Urteil über die aus den Mittelschulen hervorgehenden
Wehrpflichtigen lautet: "Die Studierenden der Mittelschulen, namentlich der huma¬
nistischen, erweisen sich fast durchaus körperlich zurückgeblieben; wenn in Deutschland.
60--70 "/g zum Einjährigfreiwilligen-Dienst Berechtigter, worunter diese Mittel¬
schüler überwiegen, untauglich befunden worden find, so ist dies eine Tatsache, die
zu denken gibt, speziell auch bei uns; denn es ist hier nicht besser. Sie findet
allerdings eine Erklärung auch in der durch Schwächlichkeit bestimmten Berufswahl
und in der Häufigkeit anderer Gebrechen, besonders Fehler der Sinnesorgane etc.,
aber der Hauptsache nach muß sie doch auf Schwächlichkeit zurückgeführt werden
und diese auf mangelhafte körperliche Erziehung; es wäre sonst nicht möglich, daA
mitunter Studierende der Mittelschulen bei den ersten Versuchen am Gerüste eirr
geradezu beschämendes Defizit an Kraft zur Schau tragen. Wir haben in unseren
Landschulen keine Analphabeten im Lesen und Schreiben, aber auf unseren Hoch¬
schulen eine Fülle von Analphabeten in der Schule des Körpers, d. h. solcher


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Generalstabsarzt Dr. von Vogt bezeichnet in diesem Buche Serings Satz „Die
Landbevölkerung bildet nach wie vor die Hauptquelle der physischen Kraft der
Nation" in der Auffassung, „daß das Land, aber nicht die Landwirtschaft die meisten
und die tüchtigsten Rekruten liefert," als vollgiltig für Bayern. Das Stadtleben
äußert eine verderbliche Wirkung nach seiner Ansicht dadurch, daß es die Nach¬
kommen der nach der Erfüllung der Wehrpflicht vom Lande einwandernden körperlich
schwach macht. Berlin erhält einen fortwährend steigenden Zuzug aus der Provinz
Brandenburg, die eine ungewöhnlich hohe Tauglichkeitszahl, 82 Prozent, hat. Aber
trotz dem reichlich nach der Hauptstadt strömenden gesunden Blut sinkt die Tauglich¬
keitszahl Berlins fortwährend, bis zu 38 Prozent. So prompt arbeitet die Sybaris
von Brandenburg. Doch sieht der Verfasser in der „Industrialisierung" keine Gefahr
und in der Vergrößerung und der Vermehrung der Städte nicht die Hauptgefahr
für die Wehrfähigkeit. Er bezeichnet die Kindersterblichkeit und die Tuberkulose
als die Schäden, die die Zahl und die Tauglichkeit der bayrischen Wehrpflichtigen
am tiefsten herabsetzen. Im Jahre 1901 fielen 41.3 Prozent aller Sterbefälle
männlicher Wesen in das erste Lebensjahr. „Fast aller Verlust an Wehrkraft und
aller Gewinn drängt sich in der Kindersterblichkeit bzw. ihrer Bekämpfung zusammen."
Die Vorenthnltung der Mutterbrust und damit eine unvollkommne und fehlerhafte
Ernährung sind der Hauptgrund der hohen Kindersterblichkeit in Bayern. Der
Verfasser erhärtet und beleuchtet diese Behauptung, indem er eine wichtige Beobach¬
tung mitteilt, die im letzten deutsch-französischen Kriege gemacht worden ist: in
Paris sank während der Belagerung die Kindersterblichkeit von 30 Prozent auf
17 Prozent, weil die Mütter infolge der Absperrung der Milchzusuhr gezwungen
waren, ihre Kinder zu stillen. Und auf dem Lande rings um Paris nahm die
Kindersterblichkeit ab, weil in der schweren Kriegszeit die schwerste Not für die
Neugebornen, die Muttermilchnot, schwand, da die Mütter keine Ammenstellen in
der Hauptstadt annehmen konnten. — Wo die Sterblichkeit infolge der Tuberkulose
sehr hoch ist, sind die Wehrpflichtigen körperlich von geringem Wert, „sei dies nun
durch sogenannte Disposition oder durch latente oder manifeste Tuberkulose." Ebenso
ist die Tauglichkeitszahl niedrig, wo die Kindersterblichkeit hoch ist. Mit dem jähr¬
lichen Verluste von 50000 Neugebornen ist es nicht abgetan, nicht bloß die Zahl
der Wehrpflichtigen, sondern auch die Tauglichkeit der Wehrpflichtigen wird durch
die verkehrte Ernährung der Säuglinge herabgesetzt. Die Geographie der Kinder¬
sterblichkeit und der Tuberkulose ergibt, daß die beiden Übel in ihrem tiefsten
Stande örtlich zusammenfallen.

Neben der Bekämpfung der Kindersterblichkeit und der Tuberkulose bezeichnet
Dr. von Vogt die Erhöhung der Tauglichkeit der Wehrpflichtigen zur Tüchtigkeit
als die dringendste Aufgabe der Volkswirtschaft und fordert zu diesem Zweck
energisch eine Umgestaltung unsrer körperlichen Jugenderziehung. Er hat gefunden,
daß die Wehrpflichtigen vom Lande, die Wehrpflichtigen des Handelsstandes und
die Studierenden der Mittelschulen am deutlichsten den Mangel körperlicher Er¬
ziehung zeigen. Sein Urteil über die aus den Mittelschulen hervorgehenden
Wehrpflichtigen lautet: „Die Studierenden der Mittelschulen, namentlich der huma¬
nistischen, erweisen sich fast durchaus körperlich zurückgeblieben; wenn in Deutschland.
60—70 "/g zum Einjährigfreiwilligen-Dienst Berechtigter, worunter diese Mittel¬
schüler überwiegen, untauglich befunden worden find, so ist dies eine Tatsache, die
zu denken gibt, speziell auch bei uns; denn es ist hier nicht besser. Sie findet
allerdings eine Erklärung auch in der durch Schwächlichkeit bestimmten Berufswahl
und in der Häufigkeit anderer Gebrechen, besonders Fehler der Sinnesorgane etc.,
aber der Hauptsache nach muß sie doch auf Schwächlichkeit zurückgeführt werden
und diese auf mangelhafte körperliche Erziehung; es wäre sonst nicht möglich, daA
mitunter Studierende der Mittelschulen bei den ersten Versuchen am Gerüste eirr
geradezu beschämendes Defizit an Kraft zur Schau tragen. Wir haben in unseren
Landschulen keine Analphabeten im Lesen und Schreiben, aber auf unseren Hoch¬
schulen eine Fülle von Analphabeten in der Schule des Körpers, d. h. solcher


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[0059] Maßgebliches und Unmaßgebliches Generalstabsarzt Dr. von Vogt bezeichnet in diesem Buche Serings Satz „Die Landbevölkerung bildet nach wie vor die Hauptquelle der physischen Kraft der Nation" in der Auffassung, „daß das Land, aber nicht die Landwirtschaft die meisten und die tüchtigsten Rekruten liefert," als vollgiltig für Bayern. Das Stadtleben äußert eine verderbliche Wirkung nach seiner Ansicht dadurch, daß es die Nach¬ kommen der nach der Erfüllung der Wehrpflicht vom Lande einwandernden körperlich schwach macht. Berlin erhält einen fortwährend steigenden Zuzug aus der Provinz Brandenburg, die eine ungewöhnlich hohe Tauglichkeitszahl, 82 Prozent, hat. Aber trotz dem reichlich nach der Hauptstadt strömenden gesunden Blut sinkt die Tauglich¬ keitszahl Berlins fortwährend, bis zu 38 Prozent. So prompt arbeitet die Sybaris von Brandenburg. Doch sieht der Verfasser in der „Industrialisierung" keine Gefahr und in der Vergrößerung und der Vermehrung der Städte nicht die Hauptgefahr für die Wehrfähigkeit. Er bezeichnet die Kindersterblichkeit und die Tuberkulose als die Schäden, die die Zahl und die Tauglichkeit der bayrischen Wehrpflichtigen am tiefsten herabsetzen. Im Jahre 1901 fielen 41.3 Prozent aller Sterbefälle männlicher Wesen in das erste Lebensjahr. „Fast aller Verlust an Wehrkraft und aller Gewinn drängt sich in der Kindersterblichkeit bzw. ihrer Bekämpfung zusammen." Die Vorenthnltung der Mutterbrust und damit eine unvollkommne und fehlerhafte Ernährung sind der Hauptgrund der hohen Kindersterblichkeit in Bayern. Der Verfasser erhärtet und beleuchtet diese Behauptung, indem er eine wichtige Beobach¬ tung mitteilt, die im letzten deutsch-französischen Kriege gemacht worden ist: in Paris sank während der Belagerung die Kindersterblichkeit von 30 Prozent auf 17 Prozent, weil die Mütter infolge der Absperrung der Milchzusuhr gezwungen waren, ihre Kinder zu stillen. Und auf dem Lande rings um Paris nahm die Kindersterblichkeit ab, weil in der schweren Kriegszeit die schwerste Not für die Neugebornen, die Muttermilchnot, schwand, da die Mütter keine Ammenstellen in der Hauptstadt annehmen konnten. — Wo die Sterblichkeit infolge der Tuberkulose sehr hoch ist, sind die Wehrpflichtigen körperlich von geringem Wert, „sei dies nun durch sogenannte Disposition oder durch latente oder manifeste Tuberkulose." Ebenso ist die Tauglichkeitszahl niedrig, wo die Kindersterblichkeit hoch ist. Mit dem jähr¬ lichen Verluste von 50000 Neugebornen ist es nicht abgetan, nicht bloß die Zahl der Wehrpflichtigen, sondern auch die Tauglichkeit der Wehrpflichtigen wird durch die verkehrte Ernährung der Säuglinge herabgesetzt. Die Geographie der Kinder¬ sterblichkeit und der Tuberkulose ergibt, daß die beiden Übel in ihrem tiefsten Stande örtlich zusammenfallen. Neben der Bekämpfung der Kindersterblichkeit und der Tuberkulose bezeichnet Dr. von Vogt die Erhöhung der Tauglichkeit der Wehrpflichtigen zur Tüchtigkeit als die dringendste Aufgabe der Volkswirtschaft und fordert zu diesem Zweck energisch eine Umgestaltung unsrer körperlichen Jugenderziehung. Er hat gefunden, daß die Wehrpflichtigen vom Lande, die Wehrpflichtigen des Handelsstandes und die Studierenden der Mittelschulen am deutlichsten den Mangel körperlicher Er¬ ziehung zeigen. Sein Urteil über die aus den Mittelschulen hervorgehenden Wehrpflichtigen lautet: „Die Studierenden der Mittelschulen, namentlich der huma¬ nistischen, erweisen sich fast durchaus körperlich zurückgeblieben; wenn in Deutschland. 60—70 "/g zum Einjährigfreiwilligen-Dienst Berechtigter, worunter diese Mittel¬ schüler überwiegen, untauglich befunden worden find, so ist dies eine Tatsache, die zu denken gibt, speziell auch bei uns; denn es ist hier nicht besser. Sie findet allerdings eine Erklärung auch in der durch Schwächlichkeit bestimmten Berufswahl und in der Häufigkeit anderer Gebrechen, besonders Fehler der Sinnesorgane etc., aber der Hauptsache nach muß sie doch auf Schwächlichkeit zurückgeführt werden und diese auf mangelhafte körperliche Erziehung; es wäre sonst nicht möglich, daA mitunter Studierende der Mittelschulen bei den ersten Versuchen am Gerüste eirr geradezu beschämendes Defizit an Kraft zur Schau tragen. Wir haben in unseren Landschulen keine Analphabeten im Lesen und Schreiben, aber auf unseren Hoch¬ schulen eine Fülle von Analphabeten in der Schule des Körpers, d. h. solcher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/59>, abgerufen am 27.09.2024.