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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Holland und die Holländer
Adolf Mayer von

> le Kenntnis des uns zunächst liegenden wird oft durch uns merk¬
würdig vernachlässigt. Es kommt dies wohl daher, daß unser
Sinn phantastisch ins Weite schweift, während das Nähere als
das Gewöhnliche und leicht Erreichbare als etwas, das uns, wenn
! auch lange hinausgeschoben, immer zur Hand ist, leicht verabsäumt
wird. Ich habe zum Beispiel zehn Jahre in Mannheim gewohnt und all die
Zeit das nachbarliche Worms mit seinen großen historischen Erinnerungen und
später seinem weltberühmten Lutherdenkmal zu besuchen hinausgeschoben, während
ich keineswegs versäumte, die weiter abwärts liegenden Rheinlande, die Natur¬
schönheiten des Schwarzwalds und das damals noch französische Straßburg zu
wiederholten malen zu besichtigen. Auch in dieser Beziehung gilt das viel
verwendbare und viel angewandte Dichterwort: "Willst du immer weiter schweifen
Sieh, das Gute liegt so nah," sowie das andre, daß man nur das Naheliegende
zu packen habe, um zu merken, wie interessant auch dieses sein könne -- wenigstens
wenn man das Anpacken versteht.

Dieses Verhältnis gilt auch für uns Deutsche in bezug auf das nachbar¬
liche Holland. Wie genau sind wir häufig unterrichtet über Land und Leute
nicht bloß der großen Kulturstaaten, sondern auch von dem weiter abliegenden
Rußland, von Nordamerika und sogar von manchen exotischen Ländern, und
über Holland kursieren noch antiquierte Anekdoten, und werden auch noch in
den Kreisen der Gebildeten Pikanterien verbreitet und geglaubt, die schon vor
langer Zeit nur noch geeignet erscheinen konnten, einzelne Vorkommnisse in ein
kaum verdientes Licht zu rücken, nun aber kritiklos weitererzählt und durch die
Fama aufgebauscht ein sehr schiefes Bild von dem Wesen eines wichtigen
Kulturvolkes geben, während doch die Mittel, das Bild zurecht zu rücken, vor
unsrer Tür liegen.

Allerdings mögen dazu außer dem Umstände, von dem wir ausgegangen
sind, noch besondre Umstände mitgewirkt haben. Holland entbehrt, obwohl
keineswegs der malerischen, so doch der Naturschönheiten im gewöhnlichen Sinne
des Worts. Es fehlen die Berge und die hohe Luft, die einen so großen
Reiz für die moderne, nervös etwas überspannte Menschenseele haben, und die


Grenzboten III 190S 64


Holland und die Holländer
Adolf Mayer von

> le Kenntnis des uns zunächst liegenden wird oft durch uns merk¬
würdig vernachlässigt. Es kommt dies wohl daher, daß unser
Sinn phantastisch ins Weite schweift, während das Nähere als
das Gewöhnliche und leicht Erreichbare als etwas, das uns, wenn
! auch lange hinausgeschoben, immer zur Hand ist, leicht verabsäumt
wird. Ich habe zum Beispiel zehn Jahre in Mannheim gewohnt und all die
Zeit das nachbarliche Worms mit seinen großen historischen Erinnerungen und
später seinem weltberühmten Lutherdenkmal zu besuchen hinausgeschoben, während
ich keineswegs versäumte, die weiter abwärts liegenden Rheinlande, die Natur¬
schönheiten des Schwarzwalds und das damals noch französische Straßburg zu
wiederholten malen zu besichtigen. Auch in dieser Beziehung gilt das viel
verwendbare und viel angewandte Dichterwort: „Willst du immer weiter schweifen
Sieh, das Gute liegt so nah," sowie das andre, daß man nur das Naheliegende
zu packen habe, um zu merken, wie interessant auch dieses sein könne — wenigstens
wenn man das Anpacken versteht.

Dieses Verhältnis gilt auch für uns Deutsche in bezug auf das nachbar¬
liche Holland. Wie genau sind wir häufig unterrichtet über Land und Leute
nicht bloß der großen Kulturstaaten, sondern auch von dem weiter abliegenden
Rußland, von Nordamerika und sogar von manchen exotischen Ländern, und
über Holland kursieren noch antiquierte Anekdoten, und werden auch noch in
den Kreisen der Gebildeten Pikanterien verbreitet und geglaubt, die schon vor
langer Zeit nur noch geeignet erscheinen konnten, einzelne Vorkommnisse in ein
kaum verdientes Licht zu rücken, nun aber kritiklos weitererzählt und durch die
Fama aufgebauscht ein sehr schiefes Bild von dem Wesen eines wichtigen
Kulturvolkes geben, während doch die Mittel, das Bild zurecht zu rücken, vor
unsrer Tür liegen.

Allerdings mögen dazu außer dem Umstände, von dem wir ausgegangen
sind, noch besondre Umstände mitgewirkt haben. Holland entbehrt, obwohl
keineswegs der malerischen, so doch der Naturschönheiten im gewöhnlichen Sinne
des Worts. Es fehlen die Berge und die hohe Luft, die einen so großen
Reiz für die moderne, nervös etwas überspannte Menschenseele haben, und die


Grenzboten III 190S 64
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[0513] [Abbildung] Holland und die Holländer Adolf Mayer von > le Kenntnis des uns zunächst liegenden wird oft durch uns merk¬ würdig vernachlässigt. Es kommt dies wohl daher, daß unser Sinn phantastisch ins Weite schweift, während das Nähere als das Gewöhnliche und leicht Erreichbare als etwas, das uns, wenn ! auch lange hinausgeschoben, immer zur Hand ist, leicht verabsäumt wird. Ich habe zum Beispiel zehn Jahre in Mannheim gewohnt und all die Zeit das nachbarliche Worms mit seinen großen historischen Erinnerungen und später seinem weltberühmten Lutherdenkmal zu besuchen hinausgeschoben, während ich keineswegs versäumte, die weiter abwärts liegenden Rheinlande, die Natur¬ schönheiten des Schwarzwalds und das damals noch französische Straßburg zu wiederholten malen zu besichtigen. Auch in dieser Beziehung gilt das viel verwendbare und viel angewandte Dichterwort: „Willst du immer weiter schweifen Sieh, das Gute liegt so nah," sowie das andre, daß man nur das Naheliegende zu packen habe, um zu merken, wie interessant auch dieses sein könne — wenigstens wenn man das Anpacken versteht. Dieses Verhältnis gilt auch für uns Deutsche in bezug auf das nachbar¬ liche Holland. Wie genau sind wir häufig unterrichtet über Land und Leute nicht bloß der großen Kulturstaaten, sondern auch von dem weiter abliegenden Rußland, von Nordamerika und sogar von manchen exotischen Ländern, und über Holland kursieren noch antiquierte Anekdoten, und werden auch noch in den Kreisen der Gebildeten Pikanterien verbreitet und geglaubt, die schon vor langer Zeit nur noch geeignet erscheinen konnten, einzelne Vorkommnisse in ein kaum verdientes Licht zu rücken, nun aber kritiklos weitererzählt und durch die Fama aufgebauscht ein sehr schiefes Bild von dem Wesen eines wichtigen Kulturvolkes geben, während doch die Mittel, das Bild zurecht zu rücken, vor unsrer Tür liegen. Allerdings mögen dazu außer dem Umstände, von dem wir ausgegangen sind, noch besondre Umstände mitgewirkt haben. Holland entbehrt, obwohl keineswegs der malerischen, so doch der Naturschönheiten im gewöhnlichen Sinne des Worts. Es fehlen die Berge und die hohe Luft, die einen so großen Reiz für die moderne, nervös etwas überspannte Menschenseele haben, und die Grenzboten III 190S 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/513>, abgerufen am 27.09.2024.