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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

dem Wunsch Ausdruck verliehn, daß die Anwesenheit der Kanalflotte an den deutschen
Küsten der Ausgangspunkt zu einem freundlichern Verhältnis zwischen beiden Nationen
werden möge. Kaiser Wilhelm hat sich diesem Gedankengang dadurch angeschlossen,
daß er die Schlachtflotte zur Begrüßung der Kanalflotte nach Swinemünde entsandt
hat, und so lagen die beiden "ideellen Gegner" zu freundschaftlichem Verkehr ein¬
ander gegenüber. Unter diesen Umständen ist es wirklich von geringerm Belang,
ob der Kaiser und der König einander jetzt in Deutschland begegnen oder nicht,
eine Begegnung würde vielleicht kaum einen Einfluß auf die Situation ausüben,
würde jedoch immerhin dartun, daß eine persönliche Spannung zwischen den beiden
Souveränen nicht oder nicht mehr besteht. Über die Rückreise König Eduards
kursieren allerlei Versionen. Die eine läßt ihn nochmals nach Paris gehn, um mit
Herrn Loubet einen "letzten" Händedruck zu tauschen, die zweite über Vlissingen,
also über Köln, die dritte und nicht unbeglaubigte läßt ihn gar in Kopenhagen
zugleich mit der englischen Kanalflotte erwartet werden. Der Weg dorthin müßte
von Marienbad direkt über Berlin führen. Man wird das alles in Ruhe abwarten
müssen. In Berlin war zu Anfang der Woche näheres darüber nicht bekannt.
Wenn aber das "Neue Wiener Tagblatt" in einem Marienbader Telegramm "von
besondrer Seite" behauptet, "daß vor der Marienbader Reise alle Vorbereitungen
zu einer Zusammenkunft mit Kaiser Wilhelm getroffen gewesen seien, die Entrevue
jedoch infolge der erregten Preßstimmen hüben und drüben, aufgegeben worden sei,"
so sagt diese "besondre Seite" wissentlich oder unwissentlich nicht die Wahrheit.
Weder dem Berliner Hofe noch den Berliner Regierungskreisen noch der deutschen
Botschaft in London war irgendeine Mitteilung einer solchen Absicht zugegangen.

Selbstverständlich wird es auch in Zukunft an gelegentlichen Reibungen und
an geringen oder starken Interessengegensätzen in andern Weltteilen zwischen den
beiden Nationen nicht fehlen, aber von diesen Gegensätzen wird hoffentlich keiner
groß genug sein, zu ernsten Koalitionen oder gar zu kriegerischen Bedrohungen
Anlaß zu bieten. In allen ernstern Streitfragen zwischen Deutschland und Frank¬
reich hat sich England jederzeit aus die französische Seite geneigt, mögen auch noch
so viele koloniale Differenzpunkte zwischen beiden Ländern vorhanden gewesen sein.
Ebenso hat Frankreich Englands schwierige Lagen nicht gegen England ausgenutzt,
so verführerisch die Gelegenheit auch gewesen sein mochte. Hieran werden auch
einzelne koloniale Friktionen nichts ändern, die den Gang der hohen Politik zwischen
beiden Ländern nicht beeinflussen. Dies wird und mag auch in Zukunft noch lange
so bleiben! Deutschland wünscht keinerlei englisch-französische Konflikte, die uns nur
zu einer uns unbequemen Parteiergreifung nötigen würden. Nachdem die jetzige
Situation zur Genüge erkennbar gemacht hat, daß Frankreich trotz allem nicht so
leicht geneigt sein wird, England als Landsoldat gegen Deutschland zu dienen,
wollen wir aus dieser Verstimmungsepisode alle Lehren und allen Nutzen ziehn,
aber sie im übrigen als abgeschlossen betrachten. Wir haben den russisch-französischen
Zweibund fünfzehn Jahre lang ertragen und brauchen auch einem englisch-fran¬
zösischen Zweibund gegenüber, wenn er je zur Wahrheit werden sollte, nicht aus
dem Häuschen zu geraten. Der liebe Gott hat unser deutsches Volk mit einer
reichen Fülle guter Eigenschaften gesegnet: entwickeln wir diese Kräfte, die vielleicht
unser größter Nationalreichtum siud, verhüten wir in Pflichttreue und Vaterlands¬
liebe ein Einrosten auf den Lorbeeren der Väter -- und wir werden eine Welt in
Waffen nicht zu fürchten brauchen.

Die Neigung, auf den Lorbeeren der Väter einzuschlafen, tritt namentlich in den
Parteikämpfen zutage, in unsern innern politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen
Gegensätzen, diesem Luxus eiuer langen Friedenszeit mit allen Auswüchsen einer
solchen. Je mehr der alte Partikularismus, der einst die deutschen Stämme trennte
nud sie schließlich widereinander zu den Waffen rief, zu verblassen beginnt -- wir
sagen "verblassen," ungeachtet mancher wenig erfreulichen Erscheinungen der jüngsten
Zeit --, desto breiter macht sich der Fraktionsparlamentarismus in seiner ganzen
zersetzenden Tätigkeit. Ohne dieses Unwesen, das am Marke des Reichs zehrt, wäre


Maßgebliches und Unmaßgebliches

dem Wunsch Ausdruck verliehn, daß die Anwesenheit der Kanalflotte an den deutschen
Küsten der Ausgangspunkt zu einem freundlichern Verhältnis zwischen beiden Nationen
werden möge. Kaiser Wilhelm hat sich diesem Gedankengang dadurch angeschlossen,
daß er die Schlachtflotte zur Begrüßung der Kanalflotte nach Swinemünde entsandt
hat, und so lagen die beiden „ideellen Gegner" zu freundschaftlichem Verkehr ein¬
ander gegenüber. Unter diesen Umständen ist es wirklich von geringerm Belang,
ob der Kaiser und der König einander jetzt in Deutschland begegnen oder nicht,
eine Begegnung würde vielleicht kaum einen Einfluß auf die Situation ausüben,
würde jedoch immerhin dartun, daß eine persönliche Spannung zwischen den beiden
Souveränen nicht oder nicht mehr besteht. Über die Rückreise König Eduards
kursieren allerlei Versionen. Die eine läßt ihn nochmals nach Paris gehn, um mit
Herrn Loubet einen „letzten" Händedruck zu tauschen, die zweite über Vlissingen,
also über Köln, die dritte und nicht unbeglaubigte läßt ihn gar in Kopenhagen
zugleich mit der englischen Kanalflotte erwartet werden. Der Weg dorthin müßte
von Marienbad direkt über Berlin führen. Man wird das alles in Ruhe abwarten
müssen. In Berlin war zu Anfang der Woche näheres darüber nicht bekannt.
Wenn aber das „Neue Wiener Tagblatt" in einem Marienbader Telegramm „von
besondrer Seite" behauptet, „daß vor der Marienbader Reise alle Vorbereitungen
zu einer Zusammenkunft mit Kaiser Wilhelm getroffen gewesen seien, die Entrevue
jedoch infolge der erregten Preßstimmen hüben und drüben, aufgegeben worden sei,"
so sagt diese „besondre Seite" wissentlich oder unwissentlich nicht die Wahrheit.
Weder dem Berliner Hofe noch den Berliner Regierungskreisen noch der deutschen
Botschaft in London war irgendeine Mitteilung einer solchen Absicht zugegangen.

Selbstverständlich wird es auch in Zukunft an gelegentlichen Reibungen und
an geringen oder starken Interessengegensätzen in andern Weltteilen zwischen den
beiden Nationen nicht fehlen, aber von diesen Gegensätzen wird hoffentlich keiner
groß genug sein, zu ernsten Koalitionen oder gar zu kriegerischen Bedrohungen
Anlaß zu bieten. In allen ernstern Streitfragen zwischen Deutschland und Frank¬
reich hat sich England jederzeit aus die französische Seite geneigt, mögen auch noch
so viele koloniale Differenzpunkte zwischen beiden Ländern vorhanden gewesen sein.
Ebenso hat Frankreich Englands schwierige Lagen nicht gegen England ausgenutzt,
so verführerisch die Gelegenheit auch gewesen sein mochte. Hieran werden auch
einzelne koloniale Friktionen nichts ändern, die den Gang der hohen Politik zwischen
beiden Ländern nicht beeinflussen. Dies wird und mag auch in Zukunft noch lange
so bleiben! Deutschland wünscht keinerlei englisch-französische Konflikte, die uns nur
zu einer uns unbequemen Parteiergreifung nötigen würden. Nachdem die jetzige
Situation zur Genüge erkennbar gemacht hat, daß Frankreich trotz allem nicht so
leicht geneigt sein wird, England als Landsoldat gegen Deutschland zu dienen,
wollen wir aus dieser Verstimmungsepisode alle Lehren und allen Nutzen ziehn,
aber sie im übrigen als abgeschlossen betrachten. Wir haben den russisch-französischen
Zweibund fünfzehn Jahre lang ertragen und brauchen auch einem englisch-fran¬
zösischen Zweibund gegenüber, wenn er je zur Wahrheit werden sollte, nicht aus
dem Häuschen zu geraten. Der liebe Gott hat unser deutsches Volk mit einer
reichen Fülle guter Eigenschaften gesegnet: entwickeln wir diese Kräfte, die vielleicht
unser größter Nationalreichtum siud, verhüten wir in Pflichttreue und Vaterlands¬
liebe ein Einrosten auf den Lorbeeren der Väter — und wir werden eine Welt in
Waffen nicht zu fürchten brauchen.

Die Neigung, auf den Lorbeeren der Väter einzuschlafen, tritt namentlich in den
Parteikämpfen zutage, in unsern innern politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen
Gegensätzen, diesem Luxus eiuer langen Friedenszeit mit allen Auswüchsen einer
solchen. Je mehr der alte Partikularismus, der einst die deutschen Stämme trennte
nud sie schließlich widereinander zu den Waffen rief, zu verblassen beginnt — wir
sagen „verblassen," ungeachtet mancher wenig erfreulichen Erscheinungen der jüngsten
Zeit —, desto breiter macht sich der Fraktionsparlamentarismus in seiner ganzen
zersetzenden Tätigkeit. Ohne dieses Unwesen, das am Marke des Reichs zehrt, wäre


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[0509] Maßgebliches und Unmaßgebliches dem Wunsch Ausdruck verliehn, daß die Anwesenheit der Kanalflotte an den deutschen Küsten der Ausgangspunkt zu einem freundlichern Verhältnis zwischen beiden Nationen werden möge. Kaiser Wilhelm hat sich diesem Gedankengang dadurch angeschlossen, daß er die Schlachtflotte zur Begrüßung der Kanalflotte nach Swinemünde entsandt hat, und so lagen die beiden „ideellen Gegner" zu freundschaftlichem Verkehr ein¬ ander gegenüber. Unter diesen Umständen ist es wirklich von geringerm Belang, ob der Kaiser und der König einander jetzt in Deutschland begegnen oder nicht, eine Begegnung würde vielleicht kaum einen Einfluß auf die Situation ausüben, würde jedoch immerhin dartun, daß eine persönliche Spannung zwischen den beiden Souveränen nicht oder nicht mehr besteht. Über die Rückreise König Eduards kursieren allerlei Versionen. Die eine läßt ihn nochmals nach Paris gehn, um mit Herrn Loubet einen „letzten" Händedruck zu tauschen, die zweite über Vlissingen, also über Köln, die dritte und nicht unbeglaubigte läßt ihn gar in Kopenhagen zugleich mit der englischen Kanalflotte erwartet werden. Der Weg dorthin müßte von Marienbad direkt über Berlin führen. Man wird das alles in Ruhe abwarten müssen. In Berlin war zu Anfang der Woche näheres darüber nicht bekannt. Wenn aber das „Neue Wiener Tagblatt" in einem Marienbader Telegramm „von besondrer Seite" behauptet, „daß vor der Marienbader Reise alle Vorbereitungen zu einer Zusammenkunft mit Kaiser Wilhelm getroffen gewesen seien, die Entrevue jedoch infolge der erregten Preßstimmen hüben und drüben, aufgegeben worden sei," so sagt diese „besondre Seite" wissentlich oder unwissentlich nicht die Wahrheit. Weder dem Berliner Hofe noch den Berliner Regierungskreisen noch der deutschen Botschaft in London war irgendeine Mitteilung einer solchen Absicht zugegangen. Selbstverständlich wird es auch in Zukunft an gelegentlichen Reibungen und an geringen oder starken Interessengegensätzen in andern Weltteilen zwischen den beiden Nationen nicht fehlen, aber von diesen Gegensätzen wird hoffentlich keiner groß genug sein, zu ernsten Koalitionen oder gar zu kriegerischen Bedrohungen Anlaß zu bieten. In allen ernstern Streitfragen zwischen Deutschland und Frank¬ reich hat sich England jederzeit aus die französische Seite geneigt, mögen auch noch so viele koloniale Differenzpunkte zwischen beiden Ländern vorhanden gewesen sein. Ebenso hat Frankreich Englands schwierige Lagen nicht gegen England ausgenutzt, so verführerisch die Gelegenheit auch gewesen sein mochte. Hieran werden auch einzelne koloniale Friktionen nichts ändern, die den Gang der hohen Politik zwischen beiden Ländern nicht beeinflussen. Dies wird und mag auch in Zukunft noch lange so bleiben! Deutschland wünscht keinerlei englisch-französische Konflikte, die uns nur zu einer uns unbequemen Parteiergreifung nötigen würden. Nachdem die jetzige Situation zur Genüge erkennbar gemacht hat, daß Frankreich trotz allem nicht so leicht geneigt sein wird, England als Landsoldat gegen Deutschland zu dienen, wollen wir aus dieser Verstimmungsepisode alle Lehren und allen Nutzen ziehn, aber sie im übrigen als abgeschlossen betrachten. Wir haben den russisch-französischen Zweibund fünfzehn Jahre lang ertragen und brauchen auch einem englisch-fran¬ zösischen Zweibund gegenüber, wenn er je zur Wahrheit werden sollte, nicht aus dem Häuschen zu geraten. Der liebe Gott hat unser deutsches Volk mit einer reichen Fülle guter Eigenschaften gesegnet: entwickeln wir diese Kräfte, die vielleicht unser größter Nationalreichtum siud, verhüten wir in Pflichttreue und Vaterlands¬ liebe ein Einrosten auf den Lorbeeren der Väter — und wir werden eine Welt in Waffen nicht zu fürchten brauchen. Die Neigung, auf den Lorbeeren der Väter einzuschlafen, tritt namentlich in den Parteikämpfen zutage, in unsern innern politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen Gegensätzen, diesem Luxus eiuer langen Friedenszeit mit allen Auswüchsen einer solchen. Je mehr der alte Partikularismus, der einst die deutschen Stämme trennte nud sie schließlich widereinander zu den Waffen rief, zu verblassen beginnt — wir sagen „verblassen," ungeachtet mancher wenig erfreulichen Erscheinungen der jüngsten Zeit —, desto breiter macht sich der Fraktionsparlamentarismus in seiner ganzen zersetzenden Tätigkeit. Ohne dieses Unwesen, das am Marke des Reichs zehrt, wäre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/509>, abgerufen am 27.09.2024.