Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die politischen Parteien In Rußland Ende Juli ^9^5

fürsten liegt darin, daß sie ohne genügende Vorbildung allerhand wichtige
Stellungen im Staatsdienst einnehmen. Dadurch werden sie hoffnungslos
den Machenschaften der sie umgebenden Kreaturen ausgeliefert, die sich unter
dem Schutz des großfürstlichen Namens die Taschen füllen, Sie sind ebenso
ein Opfer der Bureaukratie geworden wie das gesamte Volk. Auch was die
moralischen Eigenschaften der Großfürsten anlangt, ist maßlos übertrieben
worden, nur um damit politische Erfolge zu erreichen, Sie sind Menschen
wie wir alle, und es gibt unter ihnen Gerechte und Ungerechte,

Die Leute, die Rußland an den Rand des Abgrundes geführt haben,
sind die Schmeichler und Speichellecker, die ebenso wie der überzeugte Anarchist
unter dem Deckmantel eines gerade praktisch verwendbaren Ideals nur an den
eignen Vorteil denken. Das ist auch der Grund, daß ich sie hier mit den
revolutionären Parteien in einem Atemzuge nenne.

Wir kommen damit zu der Gruppe, die häufig fälschlicherweise konservativ
genannt wird, die aber in Wirklichkeit als die Nährerin und die Trägerin
der Anarchie zu bezeichnen ist. Es sind das die Leute, in deren Dienst sich
seit geraumer Zeit die Bnrecmkatie und die Neptilienpresse wie Moskowskija
Wjedomosti, swjet, Nowoje Wremja u, a. gestellt haben. Sie segeln unter
der Flagge "Interesse des Vaterlandes." Die Mittel, die sie anwenden, ab¬
sorbieren alle Kräfte des Landes -- moralische, geistige und materielle -- für
den Dienst einer durch den Entwicklungsstand des Landes nicht gerechtfertigten
Expansionspolitik, an der sich einige an den Fingern aufzählbare Personen
bereichern, ohne auch nur im geringsten die Reichtümer, die im Lande und in
dem hochintelligenten Russenvolke schlummern, für die fortgesetzte Stärkung
des "Staates" zu nutzen. Willkür, Diebstahl und Demoralisation waren die
nächsten Folgen der der Reaktion dienenden Politik, der unglückliche Verlauf
des Krieges gegen Japan ihre weitern.

Seit dem Beginn der Regierungszeit Alexanders des Dritten hat es in
Rußland keine bauende Hand gegeben. Die Regierung zerstörte, die Bureau¬
kratie stahl und erzog auch die Gesellschaft zu Zerstörung und Diebstahl.
Unter diesen Verhältnissen, die uns in besonders charakteristischen Strichen
E. von der Brügger ("Das heutige Rußland," Leipzig, Veit und Co., 1902)
gezeichnet hat, konnte sich natürlicherweise kein konservatives Element als
Stütze der Regierung erhalten oder gar entwickeln. Und als diese durch den
Krieg in Schwierigkeiten geriet, als Meuchelmord Minister und Angehörige
des Zarenhauses aus dem Leben riß, da hatten die empörten Kreise der
Gesellschaft, sogar solche, die durch ihre Herkunft, Bildung und wegen ihres
Besitzes als konservatives Element eigentlich für den Staat und seine Autorität
eintreten mußten, nur Sympathien für die Mörder und rückhaltlose Verurteilung
des "Systems" übrig. Eine furchtbare Verwirrung aller Begriffe ist dadurch
in die russische Gesellschaft hineingetragen worden, aus der hinaus ein Weg
noch nirgends erkennbar ist. (Fortsetzung folgt)




Die politischen Parteien In Rußland Ende Juli ^9^5

fürsten liegt darin, daß sie ohne genügende Vorbildung allerhand wichtige
Stellungen im Staatsdienst einnehmen. Dadurch werden sie hoffnungslos
den Machenschaften der sie umgebenden Kreaturen ausgeliefert, die sich unter
dem Schutz des großfürstlichen Namens die Taschen füllen, Sie sind ebenso
ein Opfer der Bureaukratie geworden wie das gesamte Volk. Auch was die
moralischen Eigenschaften der Großfürsten anlangt, ist maßlos übertrieben
worden, nur um damit politische Erfolge zu erreichen, Sie sind Menschen
wie wir alle, und es gibt unter ihnen Gerechte und Ungerechte,

Die Leute, die Rußland an den Rand des Abgrundes geführt haben,
sind die Schmeichler und Speichellecker, die ebenso wie der überzeugte Anarchist
unter dem Deckmantel eines gerade praktisch verwendbaren Ideals nur an den
eignen Vorteil denken. Das ist auch der Grund, daß ich sie hier mit den
revolutionären Parteien in einem Atemzuge nenne.

Wir kommen damit zu der Gruppe, die häufig fälschlicherweise konservativ
genannt wird, die aber in Wirklichkeit als die Nährerin und die Trägerin
der Anarchie zu bezeichnen ist. Es sind das die Leute, in deren Dienst sich
seit geraumer Zeit die Bnrecmkatie und die Neptilienpresse wie Moskowskija
Wjedomosti, swjet, Nowoje Wremja u, a. gestellt haben. Sie segeln unter
der Flagge „Interesse des Vaterlandes." Die Mittel, die sie anwenden, ab¬
sorbieren alle Kräfte des Landes — moralische, geistige und materielle — für
den Dienst einer durch den Entwicklungsstand des Landes nicht gerechtfertigten
Expansionspolitik, an der sich einige an den Fingern aufzählbare Personen
bereichern, ohne auch nur im geringsten die Reichtümer, die im Lande und in
dem hochintelligenten Russenvolke schlummern, für die fortgesetzte Stärkung
des „Staates" zu nutzen. Willkür, Diebstahl und Demoralisation waren die
nächsten Folgen der der Reaktion dienenden Politik, der unglückliche Verlauf
des Krieges gegen Japan ihre weitern.

Seit dem Beginn der Regierungszeit Alexanders des Dritten hat es in
Rußland keine bauende Hand gegeben. Die Regierung zerstörte, die Bureau¬
kratie stahl und erzog auch die Gesellschaft zu Zerstörung und Diebstahl.
Unter diesen Verhältnissen, die uns in besonders charakteristischen Strichen
E. von der Brügger („Das heutige Rußland," Leipzig, Veit und Co., 1902)
gezeichnet hat, konnte sich natürlicherweise kein konservatives Element als
Stütze der Regierung erhalten oder gar entwickeln. Und als diese durch den
Krieg in Schwierigkeiten geriet, als Meuchelmord Minister und Angehörige
des Zarenhauses aus dem Leben riß, da hatten die empörten Kreise der
Gesellschaft, sogar solche, die durch ihre Herkunft, Bildung und wegen ihres
Besitzes als konservatives Element eigentlich für den Staat und seine Autorität
eintreten mußten, nur Sympathien für die Mörder und rückhaltlose Verurteilung
des „Systems" übrig. Eine furchtbare Verwirrung aller Begriffe ist dadurch
in die russische Gesellschaft hineingetragen worden, aus der hinaus ein Weg
noch nirgends erkennbar ist. (Fortsetzung folgt)




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0464" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297983"/>
            <fw type="header" place="top"> Die politischen Parteien In Rußland Ende Juli ^9^5</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2266" prev="#ID_2265"> fürsten liegt darin, daß sie ohne genügende Vorbildung allerhand wichtige<lb/>
Stellungen im Staatsdienst einnehmen. Dadurch werden sie hoffnungslos<lb/>
den Machenschaften der sie umgebenden Kreaturen ausgeliefert, die sich unter<lb/>
dem Schutz des großfürstlichen Namens die Taschen füllen, Sie sind ebenso<lb/>
ein Opfer der Bureaukratie geworden wie das gesamte Volk. Auch was die<lb/>
moralischen Eigenschaften der Großfürsten anlangt, ist maßlos übertrieben<lb/>
worden, nur um damit politische Erfolge zu erreichen, Sie sind Menschen<lb/>
wie wir alle, und es gibt unter ihnen Gerechte und Ungerechte,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2267"> Die Leute, die Rußland an den Rand des Abgrundes geführt haben,<lb/>
sind die Schmeichler und Speichellecker, die ebenso wie der überzeugte Anarchist<lb/>
unter dem Deckmantel eines gerade praktisch verwendbaren Ideals nur an den<lb/>
eignen Vorteil denken. Das ist auch der Grund, daß ich sie hier mit den<lb/>
revolutionären Parteien in einem Atemzuge nenne.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2268"> Wir kommen damit zu der Gruppe, die häufig fälschlicherweise konservativ<lb/>
genannt wird, die aber in Wirklichkeit als die Nährerin und die Trägerin<lb/>
der Anarchie zu bezeichnen ist. Es sind das die Leute, in deren Dienst sich<lb/>
seit geraumer Zeit die Bnrecmkatie und die Neptilienpresse wie Moskowskija<lb/>
Wjedomosti, swjet, Nowoje Wremja u, a. gestellt haben. Sie segeln unter<lb/>
der Flagge &#x201E;Interesse des Vaterlandes." Die Mittel, die sie anwenden, ab¬<lb/>
sorbieren alle Kräfte des Landes &#x2014; moralische, geistige und materielle &#x2014; für<lb/>
den Dienst einer durch den Entwicklungsstand des Landes nicht gerechtfertigten<lb/>
Expansionspolitik, an der sich einige an den Fingern aufzählbare Personen<lb/>
bereichern, ohne auch nur im geringsten die Reichtümer, die im Lande und in<lb/>
dem hochintelligenten Russenvolke schlummern, für die fortgesetzte Stärkung<lb/>
des &#x201E;Staates" zu nutzen. Willkür, Diebstahl und Demoralisation waren die<lb/>
nächsten Folgen der der Reaktion dienenden Politik, der unglückliche Verlauf<lb/>
des Krieges gegen Japan ihre weitern.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2269"> Seit dem Beginn der Regierungszeit Alexanders des Dritten hat es in<lb/>
Rußland keine bauende Hand gegeben. Die Regierung zerstörte, die Bureau¬<lb/>
kratie stahl und erzog auch die Gesellschaft zu Zerstörung und Diebstahl.<lb/>
Unter diesen Verhältnissen, die uns in besonders charakteristischen Strichen<lb/>
E. von der Brügger (&#x201E;Das heutige Rußland," Leipzig, Veit und Co., 1902)<lb/>
gezeichnet hat, konnte sich natürlicherweise kein konservatives Element als<lb/>
Stütze der Regierung erhalten oder gar entwickeln. Und als diese durch den<lb/>
Krieg in Schwierigkeiten geriet, als Meuchelmord Minister und Angehörige<lb/>
des Zarenhauses aus dem Leben riß, da hatten die empörten Kreise der<lb/>
Gesellschaft, sogar solche, die durch ihre Herkunft, Bildung und wegen ihres<lb/>
Besitzes als konservatives Element eigentlich für den Staat und seine Autorität<lb/>
eintreten mußten, nur Sympathien für die Mörder und rückhaltlose Verurteilung<lb/>
des &#x201E;Systems" übrig. Eine furchtbare Verwirrung aller Begriffe ist dadurch<lb/>
in die russische Gesellschaft hineingetragen worden, aus der hinaus ein Weg<lb/>
noch nirgends erkennbar ist.   (Fortsetzung folgt)</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0464] Die politischen Parteien In Rußland Ende Juli ^9^5 fürsten liegt darin, daß sie ohne genügende Vorbildung allerhand wichtige Stellungen im Staatsdienst einnehmen. Dadurch werden sie hoffnungslos den Machenschaften der sie umgebenden Kreaturen ausgeliefert, die sich unter dem Schutz des großfürstlichen Namens die Taschen füllen, Sie sind ebenso ein Opfer der Bureaukratie geworden wie das gesamte Volk. Auch was die moralischen Eigenschaften der Großfürsten anlangt, ist maßlos übertrieben worden, nur um damit politische Erfolge zu erreichen, Sie sind Menschen wie wir alle, und es gibt unter ihnen Gerechte und Ungerechte, Die Leute, die Rußland an den Rand des Abgrundes geführt haben, sind die Schmeichler und Speichellecker, die ebenso wie der überzeugte Anarchist unter dem Deckmantel eines gerade praktisch verwendbaren Ideals nur an den eignen Vorteil denken. Das ist auch der Grund, daß ich sie hier mit den revolutionären Parteien in einem Atemzuge nenne. Wir kommen damit zu der Gruppe, die häufig fälschlicherweise konservativ genannt wird, die aber in Wirklichkeit als die Nährerin und die Trägerin der Anarchie zu bezeichnen ist. Es sind das die Leute, in deren Dienst sich seit geraumer Zeit die Bnrecmkatie und die Neptilienpresse wie Moskowskija Wjedomosti, swjet, Nowoje Wremja u, a. gestellt haben. Sie segeln unter der Flagge „Interesse des Vaterlandes." Die Mittel, die sie anwenden, ab¬ sorbieren alle Kräfte des Landes — moralische, geistige und materielle — für den Dienst einer durch den Entwicklungsstand des Landes nicht gerechtfertigten Expansionspolitik, an der sich einige an den Fingern aufzählbare Personen bereichern, ohne auch nur im geringsten die Reichtümer, die im Lande und in dem hochintelligenten Russenvolke schlummern, für die fortgesetzte Stärkung des „Staates" zu nutzen. Willkür, Diebstahl und Demoralisation waren die nächsten Folgen der der Reaktion dienenden Politik, der unglückliche Verlauf des Krieges gegen Japan ihre weitern. Seit dem Beginn der Regierungszeit Alexanders des Dritten hat es in Rußland keine bauende Hand gegeben. Die Regierung zerstörte, die Bureau¬ kratie stahl und erzog auch die Gesellschaft zu Zerstörung und Diebstahl. Unter diesen Verhältnissen, die uns in besonders charakteristischen Strichen E. von der Brügger („Das heutige Rußland," Leipzig, Veit und Co., 1902) gezeichnet hat, konnte sich natürlicherweise kein konservatives Element als Stütze der Regierung erhalten oder gar entwickeln. Und als diese durch den Krieg in Schwierigkeiten geriet, als Meuchelmord Minister und Angehörige des Zarenhauses aus dem Leben riß, da hatten die empörten Kreise der Gesellschaft, sogar solche, die durch ihre Herkunft, Bildung und wegen ihres Besitzes als konservatives Element eigentlich für den Staat und seine Autorität eintreten mußten, nur Sympathien für die Mörder und rückhaltlose Verurteilung des „Systems" übrig. Eine furchtbare Verwirrung aller Begriffe ist dadurch in die russische Gesellschaft hineingetragen worden, aus der hinaus ein Weg noch nirgends erkennbar ist. (Fortsetzung folgt)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/464
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/464>, abgerufen am 27.09.2024.