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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^9^5

seit einem Menschenalter gewonnen hat, und eine wie starke politische Macht
mit den Juden unter den Slawen herangewachsen ist. Der mir zur Verfügung
gestellte Raum verbietet es mir leider. Es sei darum nur noch erwähnt, daß
die Organisation des Bundes selbst von zurückgekehrten Auswandrern aus
Amerika und aus England importiert wurde. Sie beruht auf einer be¬
wunderungswürdigen Hingebung der Massen an ihre Führer und auf straffer
Disziplin. Es bedürfte einer einzigen Mitteilung (am 10./23. Januar 1905),
in Petersburg sei die Revolution ausgebrochen, und das jüdische Prole¬
tariat von ganz Litauen und Polen griff zu den Waffen, ihre christlichen
Gesinnungsgenossen mit sich reißend. Es wird ein Wink von den Führern
genügen, die heutigen Straßenkämpfer in friedliche Arbeiter zu verwandeln.
Mit Rücksicht auf diese straffe Disziplin wird jeder, der dem Befreiungskampf
der russischen Gesellschaft überhaupt sympathisch gegenübersteht, auch den
jüdischen "Bundisten" eine gewisse Achtung nicht verweigern dürfen. Ihre
Kampfmittel sind zwar gemein, aber es sind dieselben, mit denen die Reaktion
die Juden seit Jahren zu vernichten strebt.

Die Zahl der Sozialrevolutionäre, der Bodenreformer, ist gering. Hier
in Rußland werden zurzeit schwerlich mehr von ihnen sein als fünfzig. Ihre
Propagandistische Tätigkeit ist im Wolgagebiet, wo Tataren, Kalmücken und
auch Russen den Gemeindebesitz nicht aus der Praxis kennen, besonders stark
und auch von Erfolg begleitet. Die Zahl der Sozialdemokraten -- ich meine
damit alle von den Sozialdemokraten organisierten männlichen Arbeiter --
setzt sich zusammen aus ungefähr 20000 bis 25000 Russen, 6000 Polen,
6000 Letten und Ehlen und 250000 Juden -- zusammen höchstens 300000
von der 2 Millionen starken städtischen Arbeiterbevölkerung. Die Theoretiker,
wie Professor Jssajeff und Tugan-Barauowski, gehören zurzeit nicht zu der
Partei



Außer den beiden organisierten revolutionären Parteien gibt es auch in
Rußland noch eine ganz kleine Gruppe, die den engherzigen, an Anarchismus
streifenden Standpunkt des individuellen Egoismus, dem kein Opfer ver¬
weigert werden darf, vertritt. Familie, Freundschaft, Religion, Vaterland,
Persönliche Ehre -- das sind in den Augen dieser Leute keine Ideale, für sie
gibt es nur das eigne "Ich," den eignen Magen und die eignen Sinne!
Sie rekrutieren sich vorwiegend aus den sogenannten besten russischen Familien
des Landes, deren sonstige Mitglieder der Reaktion dienen. Man erinnere
sich an Trepow und Leontjew, beides nahe Verwandte des gegenwärtigen
Polizeiministers! Im Pagenkorps, dessen Zöglinge mit der größten Sorgfalt
ausgewählt werden, wurden im Mürz 1905 zwei junge Leute der Beteiligung
an anarchistischen Umtrieben überführt. Ein trauriges Zeichen der Verwahr¬
losung der sogenannten "staaterhaltenden Elemente"! Mit Rücksicht auf die
maßlosen, törichten Anschuldigungen, die fortwährend gegen die Mitglieder der
kaiserlichen Familie erhoben werden, sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen,
daß kein objektiv urteilender Beobachter der Verhältnisse in das Geschrei der
"Professor" Rechner und Ko. einstimmen kann. Der Hauptfehler der Groß-


Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^9^5

seit einem Menschenalter gewonnen hat, und eine wie starke politische Macht
mit den Juden unter den Slawen herangewachsen ist. Der mir zur Verfügung
gestellte Raum verbietet es mir leider. Es sei darum nur noch erwähnt, daß
die Organisation des Bundes selbst von zurückgekehrten Auswandrern aus
Amerika und aus England importiert wurde. Sie beruht auf einer be¬
wunderungswürdigen Hingebung der Massen an ihre Führer und auf straffer
Disziplin. Es bedürfte einer einzigen Mitteilung (am 10./23. Januar 1905),
in Petersburg sei die Revolution ausgebrochen, und das jüdische Prole¬
tariat von ganz Litauen und Polen griff zu den Waffen, ihre christlichen
Gesinnungsgenossen mit sich reißend. Es wird ein Wink von den Führern
genügen, die heutigen Straßenkämpfer in friedliche Arbeiter zu verwandeln.
Mit Rücksicht auf diese straffe Disziplin wird jeder, der dem Befreiungskampf
der russischen Gesellschaft überhaupt sympathisch gegenübersteht, auch den
jüdischen „Bundisten" eine gewisse Achtung nicht verweigern dürfen. Ihre
Kampfmittel sind zwar gemein, aber es sind dieselben, mit denen die Reaktion
die Juden seit Jahren zu vernichten strebt.

Die Zahl der Sozialrevolutionäre, der Bodenreformer, ist gering. Hier
in Rußland werden zurzeit schwerlich mehr von ihnen sein als fünfzig. Ihre
Propagandistische Tätigkeit ist im Wolgagebiet, wo Tataren, Kalmücken und
auch Russen den Gemeindebesitz nicht aus der Praxis kennen, besonders stark
und auch von Erfolg begleitet. Die Zahl der Sozialdemokraten — ich meine
damit alle von den Sozialdemokraten organisierten männlichen Arbeiter —
setzt sich zusammen aus ungefähr 20000 bis 25000 Russen, 6000 Polen,
6000 Letten und Ehlen und 250000 Juden — zusammen höchstens 300000
von der 2 Millionen starken städtischen Arbeiterbevölkerung. Die Theoretiker,
wie Professor Jssajeff und Tugan-Barauowski, gehören zurzeit nicht zu der
Partei



Außer den beiden organisierten revolutionären Parteien gibt es auch in
Rußland noch eine ganz kleine Gruppe, die den engherzigen, an Anarchismus
streifenden Standpunkt des individuellen Egoismus, dem kein Opfer ver¬
weigert werden darf, vertritt. Familie, Freundschaft, Religion, Vaterland,
Persönliche Ehre — das sind in den Augen dieser Leute keine Ideale, für sie
gibt es nur das eigne „Ich," den eignen Magen und die eignen Sinne!
Sie rekrutieren sich vorwiegend aus den sogenannten besten russischen Familien
des Landes, deren sonstige Mitglieder der Reaktion dienen. Man erinnere
sich an Trepow und Leontjew, beides nahe Verwandte des gegenwärtigen
Polizeiministers! Im Pagenkorps, dessen Zöglinge mit der größten Sorgfalt
ausgewählt werden, wurden im Mürz 1905 zwei junge Leute der Beteiligung
an anarchistischen Umtrieben überführt. Ein trauriges Zeichen der Verwahr¬
losung der sogenannten „staaterhaltenden Elemente"! Mit Rücksicht auf die
maßlosen, törichten Anschuldigungen, die fortwährend gegen die Mitglieder der
kaiserlichen Familie erhoben werden, sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen,
daß kein objektiv urteilender Beobachter der Verhältnisse in das Geschrei der
„Professor" Rechner und Ko. einstimmen kann. Der Hauptfehler der Groß-


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[0463] Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^9^5 seit einem Menschenalter gewonnen hat, und eine wie starke politische Macht mit den Juden unter den Slawen herangewachsen ist. Der mir zur Verfügung gestellte Raum verbietet es mir leider. Es sei darum nur noch erwähnt, daß die Organisation des Bundes selbst von zurückgekehrten Auswandrern aus Amerika und aus England importiert wurde. Sie beruht auf einer be¬ wunderungswürdigen Hingebung der Massen an ihre Führer und auf straffer Disziplin. Es bedürfte einer einzigen Mitteilung (am 10./23. Januar 1905), in Petersburg sei die Revolution ausgebrochen, und das jüdische Prole¬ tariat von ganz Litauen und Polen griff zu den Waffen, ihre christlichen Gesinnungsgenossen mit sich reißend. Es wird ein Wink von den Führern genügen, die heutigen Straßenkämpfer in friedliche Arbeiter zu verwandeln. Mit Rücksicht auf diese straffe Disziplin wird jeder, der dem Befreiungskampf der russischen Gesellschaft überhaupt sympathisch gegenübersteht, auch den jüdischen „Bundisten" eine gewisse Achtung nicht verweigern dürfen. Ihre Kampfmittel sind zwar gemein, aber es sind dieselben, mit denen die Reaktion die Juden seit Jahren zu vernichten strebt. Die Zahl der Sozialrevolutionäre, der Bodenreformer, ist gering. Hier in Rußland werden zurzeit schwerlich mehr von ihnen sein als fünfzig. Ihre Propagandistische Tätigkeit ist im Wolgagebiet, wo Tataren, Kalmücken und auch Russen den Gemeindebesitz nicht aus der Praxis kennen, besonders stark und auch von Erfolg begleitet. Die Zahl der Sozialdemokraten — ich meine damit alle von den Sozialdemokraten organisierten männlichen Arbeiter — setzt sich zusammen aus ungefähr 20000 bis 25000 Russen, 6000 Polen, 6000 Letten und Ehlen und 250000 Juden — zusammen höchstens 300000 von der 2 Millionen starken städtischen Arbeiterbevölkerung. Die Theoretiker, wie Professor Jssajeff und Tugan-Barauowski, gehören zurzeit nicht zu der Partei Außer den beiden organisierten revolutionären Parteien gibt es auch in Rußland noch eine ganz kleine Gruppe, die den engherzigen, an Anarchismus streifenden Standpunkt des individuellen Egoismus, dem kein Opfer ver¬ weigert werden darf, vertritt. Familie, Freundschaft, Religion, Vaterland, Persönliche Ehre — das sind in den Augen dieser Leute keine Ideale, für sie gibt es nur das eigne „Ich," den eignen Magen und die eignen Sinne! Sie rekrutieren sich vorwiegend aus den sogenannten besten russischen Familien des Landes, deren sonstige Mitglieder der Reaktion dienen. Man erinnere sich an Trepow und Leontjew, beides nahe Verwandte des gegenwärtigen Polizeiministers! Im Pagenkorps, dessen Zöglinge mit der größten Sorgfalt ausgewählt werden, wurden im Mürz 1905 zwei junge Leute der Beteiligung an anarchistischen Umtrieben überführt. Ein trauriges Zeichen der Verwahr¬ losung der sogenannten „staaterhaltenden Elemente"! Mit Rücksicht auf die maßlosen, törichten Anschuldigungen, die fortwährend gegen die Mitglieder der kaiserlichen Familie erhoben werden, sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, daß kein objektiv urteilender Beobachter der Verhältnisse in das Geschrei der „Professor" Rechner und Ko. einstimmen kann. Der Hauptfehler der Groß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/463>, abgerufen am 27.09.2024.