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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Junge Herzen

mit einem strahlenden Lächeln, als schimmre all der Mondglanz der Nacht in den
dunkeln Augen, die Treppe hinabkam und sagte: Wollen Sie mich, bitte, wecken,
wenn wir in die Bucht einfahren?

Dann legte sie sich in die Koje, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Sie
hörte das Plätschern des Wassers gegen die Seiten des Schiffes und den sonderbar
seufzenden Laut, der die Fahrt eines Schiffes durch die Wellen begleitet. Sie
hörte Schnarchen und Sprechen im Schlaf; ein Kind weinte, eine Dame bat um
ein Glas Wasser. Doch das alles störte sie gar nicht. Sie lag in ihre Gedanken
versunken da und sah ihr ganzes vergangnes Leben an sich vorüberziehn.

Das stille Heim in Kopenhagen, wo der Vater, der bleiche, magere Hilfs¬
lehrer, fast immer, wenn er zuhause war, saß und Hefte korrigierte, während die
Mutter genug mit dem Haushalt und dem Ausbessern der Kleider zu tun hatte.
Ein friedliches und glückliches Heim, und doch ein rümpfendes Heim. Denn die
bescheidne Einnahme des Vaters reichte nur eben für den Lebensunterhalt hin.

Sie sah so deutlich die Mutter an einem Winterabend zu dem Vater gehn,
der bei seiner kleinen Studierlampe in einer Ecke des Eßzimmers saß -- das war
sein Arbeitsraum --, und ihm über die Stirn streichen. Er sah dankbar und
müde zu ihr auf, die ihm liebevoll zulächelte und die hohe, weiße Stirn unter
dem ergrauenden Haar küßte -- Dankbarkeit von seiner Seite, Liebe von der ihren,
das war diese Ehe.

Er hatte als nicht mehr ganz junger Student bei ihrer Mutter gewohnt, die
eine arme Witwe war und Zimmer vermietete. In einer schweren Krankheit hatte
ihn die Tochter gepflegt. Als er vom Krankenlager aufstand, hatte er aus Dankbar¬
keit gegen das sanfte, schöne Gesicht, das in langen Nächten über ihm gewacht hatte,
ihr seine Hand angeboten. Sie hatte ihn lange geliebt, und er gewann sie von Herzen
lieb. Aber die Krankheit hatte ihn gebrochen. Er hatte niemals sein Oberlehrer¬
examen gemacht. Auf Grund seiner guten Kenntnisse gelang es ihm jedoch endlich,
eine Stelle als Hilfslehrer zu erlangen. Er hatte eine kleine poetische Ader, schrieb,
immer anonym, allerlei Kleinigkeiten, die von den Zeitungen angenommen wurden,-
dies im Verein mit einigen Übersetzungen verschaffte ihm kleine Nebeneinnahmen,
die in der Hauptsache zu kleinen Ausflügen mit der Bahn in die herrlichen Wälder
Nordseelands benutzt wurden. Wie freuten sich nicht Helene und ihre kleine Schwester
Betty auf diese Ausflüge, kleine erfrischende Oasen in der Wüste des täglichen Lebens!
Wenn sie dann im Grase saßen, und die angenommnen Speisen verzehrt waren,
zündete der Vater seine kurze Pfeife an. Dann vergaß er die Schule, die Korrek¬
turen und die tägliche Plage und erzählte von fern und nah. Er konnte viel
amüsanter erzählen als die meisten Bücher. Und oft kleidete er seine Erzählung
in das Gewand eines Märchens.

Du hättest Dichter werden sollen! sagte dann die Mutter zu ihm.

Nein nein, sage das nicht! entgegnete er und schüttelte den Kopf; ein Dichter,
das ist ein ganz andrer Mann; ich bin nur ein Erzähler. Ich kann euch allerlei
erzählen, was ihr nicht wißt, weil ihr so wenig kennt. Ich kann euch eine kurze
Weile amüsieren. Aber ein Dichter, das ist ein Mann, der die Leute zugleich
lachen und weinen macht. Und was er schildert, das vergißt man niemals!

Trotz seinem stillen Wesen war er es, der die lange Arbeitsnacht des Heims
erleuchtete, nicht wie eine Sonne, sondern wie ein sanft schimmernder Stern.

Aber dann erlosch der Stern in einer Nacht, während sie alle um sein
Lager saßen.

Kurz zuvor hatte Helene ihren Eltern die große Freude gemacht, ihr
Lehrerinnenexamen zu bestehn. Sie hatte im Grunde keine Lust dazu gehabt, nur
die bittre Notwendigkeit regte ihr Pflichtgefühl so weit an, spannte den Bogen so
straff, daß der Pfeil das Ziel nicht verfehlte. Sie hatte das Glück, daß ihre
Persönlichkeit alle bezauberte; ihr ganzes Auftreten gab weitgehende Verheißungen,
die man von vornherein für den vollen Wert annahm.


Junge Herzen

mit einem strahlenden Lächeln, als schimmre all der Mondglanz der Nacht in den
dunkeln Augen, die Treppe hinabkam und sagte: Wollen Sie mich, bitte, wecken,
wenn wir in die Bucht einfahren?

Dann legte sie sich in die Koje, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Sie
hörte das Plätschern des Wassers gegen die Seiten des Schiffes und den sonderbar
seufzenden Laut, der die Fahrt eines Schiffes durch die Wellen begleitet. Sie
hörte Schnarchen und Sprechen im Schlaf; ein Kind weinte, eine Dame bat um
ein Glas Wasser. Doch das alles störte sie gar nicht. Sie lag in ihre Gedanken
versunken da und sah ihr ganzes vergangnes Leben an sich vorüberziehn.

Das stille Heim in Kopenhagen, wo der Vater, der bleiche, magere Hilfs¬
lehrer, fast immer, wenn er zuhause war, saß und Hefte korrigierte, während die
Mutter genug mit dem Haushalt und dem Ausbessern der Kleider zu tun hatte.
Ein friedliches und glückliches Heim, und doch ein rümpfendes Heim. Denn die
bescheidne Einnahme des Vaters reichte nur eben für den Lebensunterhalt hin.

Sie sah so deutlich die Mutter an einem Winterabend zu dem Vater gehn,
der bei seiner kleinen Studierlampe in einer Ecke des Eßzimmers saß — das war
sein Arbeitsraum —, und ihm über die Stirn streichen. Er sah dankbar und
müde zu ihr auf, die ihm liebevoll zulächelte und die hohe, weiße Stirn unter
dem ergrauenden Haar küßte — Dankbarkeit von seiner Seite, Liebe von der ihren,
das war diese Ehe.

Er hatte als nicht mehr ganz junger Student bei ihrer Mutter gewohnt, die
eine arme Witwe war und Zimmer vermietete. In einer schweren Krankheit hatte
ihn die Tochter gepflegt. Als er vom Krankenlager aufstand, hatte er aus Dankbar¬
keit gegen das sanfte, schöne Gesicht, das in langen Nächten über ihm gewacht hatte,
ihr seine Hand angeboten. Sie hatte ihn lange geliebt, und er gewann sie von Herzen
lieb. Aber die Krankheit hatte ihn gebrochen. Er hatte niemals sein Oberlehrer¬
examen gemacht. Auf Grund seiner guten Kenntnisse gelang es ihm jedoch endlich,
eine Stelle als Hilfslehrer zu erlangen. Er hatte eine kleine poetische Ader, schrieb,
immer anonym, allerlei Kleinigkeiten, die von den Zeitungen angenommen wurden,-
dies im Verein mit einigen Übersetzungen verschaffte ihm kleine Nebeneinnahmen,
die in der Hauptsache zu kleinen Ausflügen mit der Bahn in die herrlichen Wälder
Nordseelands benutzt wurden. Wie freuten sich nicht Helene und ihre kleine Schwester
Betty auf diese Ausflüge, kleine erfrischende Oasen in der Wüste des täglichen Lebens!
Wenn sie dann im Grase saßen, und die angenommnen Speisen verzehrt waren,
zündete der Vater seine kurze Pfeife an. Dann vergaß er die Schule, die Korrek¬
turen und die tägliche Plage und erzählte von fern und nah. Er konnte viel
amüsanter erzählen als die meisten Bücher. Und oft kleidete er seine Erzählung
in das Gewand eines Märchens.

Du hättest Dichter werden sollen! sagte dann die Mutter zu ihm.

Nein nein, sage das nicht! entgegnete er und schüttelte den Kopf; ein Dichter,
das ist ein ganz andrer Mann; ich bin nur ein Erzähler. Ich kann euch allerlei
erzählen, was ihr nicht wißt, weil ihr so wenig kennt. Ich kann euch eine kurze
Weile amüsieren. Aber ein Dichter, das ist ein Mann, der die Leute zugleich
lachen und weinen macht. Und was er schildert, das vergißt man niemals!

Trotz seinem stillen Wesen war er es, der die lange Arbeitsnacht des Heims
erleuchtete, nicht wie eine Sonne, sondern wie ein sanft schimmernder Stern.

Aber dann erlosch der Stern in einer Nacht, während sie alle um sein
Lager saßen.

Kurz zuvor hatte Helene ihren Eltern die große Freude gemacht, ihr
Lehrerinnenexamen zu bestehn. Sie hatte im Grunde keine Lust dazu gehabt, nur
die bittre Notwendigkeit regte ihr Pflichtgefühl so weit an, spannte den Bogen so
straff, daß der Pfeil das Ziel nicht verfehlte. Sie hatte das Glück, daß ihre
Persönlichkeit alle bezauberte; ihr ganzes Auftreten gab weitgehende Verheißungen,
die man von vornherein für den vollen Wert annahm.


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[0443] Junge Herzen mit einem strahlenden Lächeln, als schimmre all der Mondglanz der Nacht in den dunkeln Augen, die Treppe hinabkam und sagte: Wollen Sie mich, bitte, wecken, wenn wir in die Bucht einfahren? Dann legte sie sich in die Koje, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Sie hörte das Plätschern des Wassers gegen die Seiten des Schiffes und den sonderbar seufzenden Laut, der die Fahrt eines Schiffes durch die Wellen begleitet. Sie hörte Schnarchen und Sprechen im Schlaf; ein Kind weinte, eine Dame bat um ein Glas Wasser. Doch das alles störte sie gar nicht. Sie lag in ihre Gedanken versunken da und sah ihr ganzes vergangnes Leben an sich vorüberziehn. Das stille Heim in Kopenhagen, wo der Vater, der bleiche, magere Hilfs¬ lehrer, fast immer, wenn er zuhause war, saß und Hefte korrigierte, während die Mutter genug mit dem Haushalt und dem Ausbessern der Kleider zu tun hatte. Ein friedliches und glückliches Heim, und doch ein rümpfendes Heim. Denn die bescheidne Einnahme des Vaters reichte nur eben für den Lebensunterhalt hin. Sie sah so deutlich die Mutter an einem Winterabend zu dem Vater gehn, der bei seiner kleinen Studierlampe in einer Ecke des Eßzimmers saß — das war sein Arbeitsraum —, und ihm über die Stirn streichen. Er sah dankbar und müde zu ihr auf, die ihm liebevoll zulächelte und die hohe, weiße Stirn unter dem ergrauenden Haar küßte — Dankbarkeit von seiner Seite, Liebe von der ihren, das war diese Ehe. Er hatte als nicht mehr ganz junger Student bei ihrer Mutter gewohnt, die eine arme Witwe war und Zimmer vermietete. In einer schweren Krankheit hatte ihn die Tochter gepflegt. Als er vom Krankenlager aufstand, hatte er aus Dankbar¬ keit gegen das sanfte, schöne Gesicht, das in langen Nächten über ihm gewacht hatte, ihr seine Hand angeboten. Sie hatte ihn lange geliebt, und er gewann sie von Herzen lieb. Aber die Krankheit hatte ihn gebrochen. Er hatte niemals sein Oberlehrer¬ examen gemacht. Auf Grund seiner guten Kenntnisse gelang es ihm jedoch endlich, eine Stelle als Hilfslehrer zu erlangen. Er hatte eine kleine poetische Ader, schrieb, immer anonym, allerlei Kleinigkeiten, die von den Zeitungen angenommen wurden,- dies im Verein mit einigen Übersetzungen verschaffte ihm kleine Nebeneinnahmen, die in der Hauptsache zu kleinen Ausflügen mit der Bahn in die herrlichen Wälder Nordseelands benutzt wurden. Wie freuten sich nicht Helene und ihre kleine Schwester Betty auf diese Ausflüge, kleine erfrischende Oasen in der Wüste des täglichen Lebens! Wenn sie dann im Grase saßen, und die angenommnen Speisen verzehrt waren, zündete der Vater seine kurze Pfeife an. Dann vergaß er die Schule, die Korrek¬ turen und die tägliche Plage und erzählte von fern und nah. Er konnte viel amüsanter erzählen als die meisten Bücher. Und oft kleidete er seine Erzählung in das Gewand eines Märchens. Du hättest Dichter werden sollen! sagte dann die Mutter zu ihm. Nein nein, sage das nicht! entgegnete er und schüttelte den Kopf; ein Dichter, das ist ein ganz andrer Mann; ich bin nur ein Erzähler. Ich kann euch allerlei erzählen, was ihr nicht wißt, weil ihr so wenig kennt. Ich kann euch eine kurze Weile amüsieren. Aber ein Dichter, das ist ein Mann, der die Leute zugleich lachen und weinen macht. Und was er schildert, das vergißt man niemals! Trotz seinem stillen Wesen war er es, der die lange Arbeitsnacht des Heims erleuchtete, nicht wie eine Sonne, sondern wie ein sanft schimmernder Stern. Aber dann erlosch der Stern in einer Nacht, während sie alle um sein Lager saßen. Kurz zuvor hatte Helene ihren Eltern die große Freude gemacht, ihr Lehrerinnenexamen zu bestehn. Sie hatte im Grunde keine Lust dazu gehabt, nur die bittre Notwendigkeit regte ihr Pflichtgefühl so weit an, spannte den Bogen so straff, daß der Pfeil das Ziel nicht verfehlte. Sie hatte das Glück, daß ihre Persönlichkeit alle bezauberte; ihr ganzes Auftreten gab weitgehende Verheißungen, die man von vornherein für den vollen Wert annahm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/443>, abgerufen am 27.09.2024.