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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die deutsche Sozialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung

Kurs der Kabulrupie genau beobachten, da wir für unsre Einkäufe in Kabul
afghanisches Silbergeld benötigten. Nach diesen Beobachtungen schwankte der
Wert einer Rupie zwischen 54 Pfennigen und 1,10 Mark, obwohl ihr Wert
90 Pfennige betragen sollte. Der Emir erläßt jedesmal, wenn er eine be¬
deutende Anzahl indischer Rupien zu hohem Preise hat umwechseln lassen, eine
Kundmachung, wonach der Wert einer indischen Rupie mit 4 Abasi festgesetzt
wird. Nach Ablauf von zwei bis drei Monaten stehn die indischen Rupien
wieder hoch im Preise, und wir Europäer ließen es uns angelegen sein, in solchen
Zeitpunkten unsern Bedarf an Kabuler Rupien zu decken. In der Prägestütte
zu Kabul sind an die dreißig Menschen, darunter mehrere Knaben von zwölf
bis fünfzehn Jahren, beschäftigt. Diese Knaben haben die Pflicht, die neuge-
prägten Rupien Stück für Stück zu wiegen und die mindergewichtigen dadurch
zu vollwichtigen zu machen, daß sie die Münzen durchkochen und in die Öff¬
nungen nieder schlagen. Das in der Prägestätte verwandte Personal wird
häufig gewechselt, da trotz aller Aufsicht und grausamen Strenge viel gestohlen
wird. Die Beamten werden samt den Arbeitern eingekerkert, wenn ein Personal¬
wechsel stattfindet, aber die Diebstähle nehmen trotzdem kein Ende. Jeder Be¬
amte und jeder Arbeiter, der in der Prägestätte beschäftigt war, ist auch in Haft
gewesen.

Im Frühjahr 1899 wurden einmal Nachts fünftausend Rupien aus der
Prügestätte gestohlen, obwohl das Geld in starken, mit Eisen beschlagnen Kisten
aufbewahrt wird, und Militär die abgesperrten Räume bewacht. Damals wurden
mehrere Arbeiter und die Beamten, denen die Verwahrung des Geldes obliegt,
verhaftet und gefoltert, aber sogar die "peinliche Frage" hatte kein Ergebnis.
Die Beamten und die Arbeiter blieben selbstverständlich im Gefängnisse. Wir
Europäer mutmaßten, daß der Diebstahl von der Militärwache verübt worden
sei, doch fühlten wir uns nicht veranlaßt, dem Emir unsre Vermutung mit¬
zuteilen.




Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische
Gesetzgebung
2

ur Beurteilung des Verhaltens und der Taktik der sozialdemo¬
kratischen Reichstagsfraktion sind die 34 Fälle, in denen sie
mit Nein votiere hat, viel lehrreicher als die 44, in denen
sie Ja gesagt hat. Von den 47 nicht feststellbaren Abstimmungen
dürfte die große Mehrzahl den ersten zuzuzählen sein. Be¬
dauerlich bleibt in mannigfacher Hinsicht, daß unsre parlamentarischen Ein¬
richtungen keine Handhabe bieten, die Stellung der Parteien bei den einzelnen
Abstimmungen amtlich zu verzeichnen. Das Land erhält dadurch ein völlig
unrichtiges Bild von den Leistungen seiner Volksvertretung. Daß der größere


Grenzboten III 1905 L4
Die deutsche Sozialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung

Kurs der Kabulrupie genau beobachten, da wir für unsre Einkäufe in Kabul
afghanisches Silbergeld benötigten. Nach diesen Beobachtungen schwankte der
Wert einer Rupie zwischen 54 Pfennigen und 1,10 Mark, obwohl ihr Wert
90 Pfennige betragen sollte. Der Emir erläßt jedesmal, wenn er eine be¬
deutende Anzahl indischer Rupien zu hohem Preise hat umwechseln lassen, eine
Kundmachung, wonach der Wert einer indischen Rupie mit 4 Abasi festgesetzt
wird. Nach Ablauf von zwei bis drei Monaten stehn die indischen Rupien
wieder hoch im Preise, und wir Europäer ließen es uns angelegen sein, in solchen
Zeitpunkten unsern Bedarf an Kabuler Rupien zu decken. In der Prägestütte
zu Kabul sind an die dreißig Menschen, darunter mehrere Knaben von zwölf
bis fünfzehn Jahren, beschäftigt. Diese Knaben haben die Pflicht, die neuge-
prägten Rupien Stück für Stück zu wiegen und die mindergewichtigen dadurch
zu vollwichtigen zu machen, daß sie die Münzen durchkochen und in die Öff¬
nungen nieder schlagen. Das in der Prägestätte verwandte Personal wird
häufig gewechselt, da trotz aller Aufsicht und grausamen Strenge viel gestohlen
wird. Die Beamten werden samt den Arbeitern eingekerkert, wenn ein Personal¬
wechsel stattfindet, aber die Diebstähle nehmen trotzdem kein Ende. Jeder Be¬
amte und jeder Arbeiter, der in der Prägestätte beschäftigt war, ist auch in Haft
gewesen.

Im Frühjahr 1899 wurden einmal Nachts fünftausend Rupien aus der
Prügestätte gestohlen, obwohl das Geld in starken, mit Eisen beschlagnen Kisten
aufbewahrt wird, und Militär die abgesperrten Räume bewacht. Damals wurden
mehrere Arbeiter und die Beamten, denen die Verwahrung des Geldes obliegt,
verhaftet und gefoltert, aber sogar die „peinliche Frage" hatte kein Ergebnis.
Die Beamten und die Arbeiter blieben selbstverständlich im Gefängnisse. Wir
Europäer mutmaßten, daß der Diebstahl von der Militärwache verübt worden
sei, doch fühlten wir uns nicht veranlaßt, dem Emir unsre Vermutung mit¬
zuteilen.




Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische
Gesetzgebung
2

ur Beurteilung des Verhaltens und der Taktik der sozialdemo¬
kratischen Reichstagsfraktion sind die 34 Fälle, in denen sie
mit Nein votiere hat, viel lehrreicher als die 44, in denen
sie Ja gesagt hat. Von den 47 nicht feststellbaren Abstimmungen
dürfte die große Mehrzahl den ersten zuzuzählen sein. Be¬
dauerlich bleibt in mannigfacher Hinsicht, daß unsre parlamentarischen Ein¬
richtungen keine Handhabe bieten, die Stellung der Parteien bei den einzelnen
Abstimmungen amtlich zu verzeichnen. Das Land erhält dadurch ein völlig
unrichtiges Bild von den Leistungen seiner Volksvertretung. Daß der größere


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[0433] Die deutsche Sozialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung Kurs der Kabulrupie genau beobachten, da wir für unsre Einkäufe in Kabul afghanisches Silbergeld benötigten. Nach diesen Beobachtungen schwankte der Wert einer Rupie zwischen 54 Pfennigen und 1,10 Mark, obwohl ihr Wert 90 Pfennige betragen sollte. Der Emir erläßt jedesmal, wenn er eine be¬ deutende Anzahl indischer Rupien zu hohem Preise hat umwechseln lassen, eine Kundmachung, wonach der Wert einer indischen Rupie mit 4 Abasi festgesetzt wird. Nach Ablauf von zwei bis drei Monaten stehn die indischen Rupien wieder hoch im Preise, und wir Europäer ließen es uns angelegen sein, in solchen Zeitpunkten unsern Bedarf an Kabuler Rupien zu decken. In der Prägestütte zu Kabul sind an die dreißig Menschen, darunter mehrere Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren, beschäftigt. Diese Knaben haben die Pflicht, die neuge- prägten Rupien Stück für Stück zu wiegen und die mindergewichtigen dadurch zu vollwichtigen zu machen, daß sie die Münzen durchkochen und in die Öff¬ nungen nieder schlagen. Das in der Prägestätte verwandte Personal wird häufig gewechselt, da trotz aller Aufsicht und grausamen Strenge viel gestohlen wird. Die Beamten werden samt den Arbeitern eingekerkert, wenn ein Personal¬ wechsel stattfindet, aber die Diebstähle nehmen trotzdem kein Ende. Jeder Be¬ amte und jeder Arbeiter, der in der Prägestätte beschäftigt war, ist auch in Haft gewesen. Im Frühjahr 1899 wurden einmal Nachts fünftausend Rupien aus der Prügestätte gestohlen, obwohl das Geld in starken, mit Eisen beschlagnen Kisten aufbewahrt wird, und Militär die abgesperrten Räume bewacht. Damals wurden mehrere Arbeiter und die Beamten, denen die Verwahrung des Geldes obliegt, verhaftet und gefoltert, aber sogar die „peinliche Frage" hatte kein Ergebnis. Die Beamten und die Arbeiter blieben selbstverständlich im Gefängnisse. Wir Europäer mutmaßten, daß der Diebstahl von der Militärwache verübt worden sei, doch fühlten wir uns nicht veranlaßt, dem Emir unsre Vermutung mit¬ zuteilen. Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung 2 ur Beurteilung des Verhaltens und der Taktik der sozialdemo¬ kratischen Reichstagsfraktion sind die 34 Fälle, in denen sie mit Nein votiere hat, viel lehrreicher als die 44, in denen sie Ja gesagt hat. Von den 47 nicht feststellbaren Abstimmungen dürfte die große Mehrzahl den ersten zuzuzählen sein. Be¬ dauerlich bleibt in mannigfacher Hinsicht, daß unsre parlamentarischen Ein¬ richtungen keine Handhabe bieten, die Stellung der Parteien bei den einzelnen Abstimmungen amtlich zu verzeichnen. Das Land erhält dadurch ein völlig unrichtiges Bild von den Leistungen seiner Volksvertretung. Daß der größere Grenzboten III 1905 L4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/433>, abgerufen am 27.09.2024.