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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren

"Hallen" waren eine öffentliche Warenniederlage und Börse. Das Rathaus,
ein überaus zierlicher und geschmackvoller Bau, wohl der reizendste, den die
niederländische Gotik hervorgebracht hat, liegt ganz in der Nähe, wo auch
noch die Überreste der burgundischen Herzogsburg sind. Die Tore der alten
Stadtmauer, die von Auszug und Verteidigung, von Sieg und Niederlage
manches erzählen könnten, hat man pietätvoll erhalten. Ihre mächtigen
Kolosse liegen träumend in der sich doch fühlbar umgestaltenden Umgebung.
Im Gewirr der kleinen Straßen fehlt nur das Menschengewühl von 1400,
sonst könnte man sich mit einem Zaubermantel wieder in die Vergangenheit
hinübergetragen denken.

Von den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien bis zur Einverleibung in
Frankreich war Belgien tatsächlich und rechtlich vom Meer abgeschlossen. Durch
die Aufhebung des Scheldezolls ist Antwerpen zu einer großartigen See¬
handelsstadt geworden. Eben jetzt hat der belgische Staat Brügge eine Wasser¬
straße nach dem Meere gegeben. Käme es nur darauf an, so hätte Brügge
eine glänzende Zukunft. Leider hat aber Antwerpen eine günstigere Lage,
weil es tiefer im Lande, näher seinem Hinterkante liegt. Das ist heutzutage
das Entscheidende. Nur für einen ganz kleinen Umkreis liegt Brügge günstiger
als Antwerpen. Fast für ganz Belgien, für Westdeutschland und Nordfrankreich
liegt Antwerpen so günstig, daß Brügge ihm nicht viel Konkurrenz wird machen
können. Die Stadt wird das beklagen, der Freund altertümlicher Stadt¬
bilder nicht.




Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren
Robert Thomas Lebenserinnerungen von
(Fortsetzung)

on Amriswyl reisten wir zum Bundesschießen nach Bern und fuhren
über die Kirchenfeldbrücke zum Festplatze. Dort herrschte schon ein
internationales Leben, da Schützen aus aller Herren Ländern, sogar
aus Amerika, anlangten. Wir waren an einem Nachmittag ange¬
kommen, hatten noch an demselben Tage die Wagen zurechtgestellt
und benutzten die übrigen Stunden zu einem Spaziergang über den
Festplatz. Die bedeutendste Sehenswürdigkeit war die Menagerie Bach, die über
zweiundzwanzig Wagen verfügte und Tiere enthielt, die sonst selten oder gar nicht
in Menagerien angetroffen werden. Dazu gehörte vor allem ein Nilpferd, das
einen Wagen für sich allein bewohnte, und ein Nashorn. Von andern Tieren
waren vorhanden: ein Elefant, ein Zebra, ein Gnu, ein Lama, zwei Giraffen, sehr
viele Raubtiere, darunter drei Tiger, ferner ein ganzer Wagen voll Affen. Von
Dressurgruppen waren zwei vorhanden, deren jede aus drei Löwen bestand. Außer¬
dem gab es noch eine Dressur für eine Dame mit Hyänen und Wölfen. Das
Personal der Menagerie bestand aus achtzehn Mann, außer der Böhmischen Musik¬
kapelle.

Nach der Besichtigung des Festplatzes aß ich zu Abend und ging dann in die
Stadt, von wo ich gegen zehn Uhr über die Kirchfelder Brücke zurückkam. Dabei
bemerkte ich, daß vor der Menagerie ein Petroleumflambeau brannte, und daß sich
eine erregte Menschenmenge darum hin und her bewegte. Als ich näher kam, fiel
mir auf, daß die Menschen sich trotz ihrem eiligen Treiben schweigsam verhielten,


Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren

„Hallen" waren eine öffentliche Warenniederlage und Börse. Das Rathaus,
ein überaus zierlicher und geschmackvoller Bau, wohl der reizendste, den die
niederländische Gotik hervorgebracht hat, liegt ganz in der Nähe, wo auch
noch die Überreste der burgundischen Herzogsburg sind. Die Tore der alten
Stadtmauer, die von Auszug und Verteidigung, von Sieg und Niederlage
manches erzählen könnten, hat man pietätvoll erhalten. Ihre mächtigen
Kolosse liegen träumend in der sich doch fühlbar umgestaltenden Umgebung.
Im Gewirr der kleinen Straßen fehlt nur das Menschengewühl von 1400,
sonst könnte man sich mit einem Zaubermantel wieder in die Vergangenheit
hinübergetragen denken.

Von den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien bis zur Einverleibung in
Frankreich war Belgien tatsächlich und rechtlich vom Meer abgeschlossen. Durch
die Aufhebung des Scheldezolls ist Antwerpen zu einer großartigen See¬
handelsstadt geworden. Eben jetzt hat der belgische Staat Brügge eine Wasser¬
straße nach dem Meere gegeben. Käme es nur darauf an, so hätte Brügge
eine glänzende Zukunft. Leider hat aber Antwerpen eine günstigere Lage,
weil es tiefer im Lande, näher seinem Hinterkante liegt. Das ist heutzutage
das Entscheidende. Nur für einen ganz kleinen Umkreis liegt Brügge günstiger
als Antwerpen. Fast für ganz Belgien, für Westdeutschland und Nordfrankreich
liegt Antwerpen so günstig, daß Brügge ihm nicht viel Konkurrenz wird machen
können. Die Stadt wird das beklagen, der Freund altertümlicher Stadt¬
bilder nicht.




Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren
Robert Thomas Lebenserinnerungen von
(Fortsetzung)

on Amriswyl reisten wir zum Bundesschießen nach Bern und fuhren
über die Kirchenfeldbrücke zum Festplatze. Dort herrschte schon ein
internationales Leben, da Schützen aus aller Herren Ländern, sogar
aus Amerika, anlangten. Wir waren an einem Nachmittag ange¬
kommen, hatten noch an demselben Tage die Wagen zurechtgestellt
und benutzten die übrigen Stunden zu einem Spaziergang über den
Festplatz. Die bedeutendste Sehenswürdigkeit war die Menagerie Bach, die über
zweiundzwanzig Wagen verfügte und Tiere enthielt, die sonst selten oder gar nicht
in Menagerien angetroffen werden. Dazu gehörte vor allem ein Nilpferd, das
einen Wagen für sich allein bewohnte, und ein Nashorn. Von andern Tieren
waren vorhanden: ein Elefant, ein Zebra, ein Gnu, ein Lama, zwei Giraffen, sehr
viele Raubtiere, darunter drei Tiger, ferner ein ganzer Wagen voll Affen. Von
Dressurgruppen waren zwei vorhanden, deren jede aus drei Löwen bestand. Außer¬
dem gab es noch eine Dressur für eine Dame mit Hyänen und Wölfen. Das
Personal der Menagerie bestand aus achtzehn Mann, außer der Böhmischen Musik¬
kapelle.

Nach der Besichtigung des Festplatzes aß ich zu Abend und ging dann in die
Stadt, von wo ich gegen zehn Uhr über die Kirchfelder Brücke zurückkam. Dabei
bemerkte ich, daß vor der Menagerie ein Petroleumflambeau brannte, und daß sich
eine erregte Menschenmenge darum hin und her bewegte. Als ich näher kam, fiel
mir auf, daß die Menschen sich trotz ihrem eiligen Treiben schweigsam verhielten,


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[0371] Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren „Hallen" waren eine öffentliche Warenniederlage und Börse. Das Rathaus, ein überaus zierlicher und geschmackvoller Bau, wohl der reizendste, den die niederländische Gotik hervorgebracht hat, liegt ganz in der Nähe, wo auch noch die Überreste der burgundischen Herzogsburg sind. Die Tore der alten Stadtmauer, die von Auszug und Verteidigung, von Sieg und Niederlage manches erzählen könnten, hat man pietätvoll erhalten. Ihre mächtigen Kolosse liegen träumend in der sich doch fühlbar umgestaltenden Umgebung. Im Gewirr der kleinen Straßen fehlt nur das Menschengewühl von 1400, sonst könnte man sich mit einem Zaubermantel wieder in die Vergangenheit hinübergetragen denken. Von den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien bis zur Einverleibung in Frankreich war Belgien tatsächlich und rechtlich vom Meer abgeschlossen. Durch die Aufhebung des Scheldezolls ist Antwerpen zu einer großartigen See¬ handelsstadt geworden. Eben jetzt hat der belgische Staat Brügge eine Wasser¬ straße nach dem Meere gegeben. Käme es nur darauf an, so hätte Brügge eine glänzende Zukunft. Leider hat aber Antwerpen eine günstigere Lage, weil es tiefer im Lande, näher seinem Hinterkante liegt. Das ist heutzutage das Entscheidende. Nur für einen ganz kleinen Umkreis liegt Brügge günstiger als Antwerpen. Fast für ganz Belgien, für Westdeutschland und Nordfrankreich liegt Antwerpen so günstig, daß Brügge ihm nicht viel Konkurrenz wird machen können. Die Stadt wird das beklagen, der Freund altertümlicher Stadt¬ bilder nicht. Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren Robert Thomas Lebenserinnerungen von (Fortsetzung) on Amriswyl reisten wir zum Bundesschießen nach Bern und fuhren über die Kirchenfeldbrücke zum Festplatze. Dort herrschte schon ein internationales Leben, da Schützen aus aller Herren Ländern, sogar aus Amerika, anlangten. Wir waren an einem Nachmittag ange¬ kommen, hatten noch an demselben Tage die Wagen zurechtgestellt und benutzten die übrigen Stunden zu einem Spaziergang über den Festplatz. Die bedeutendste Sehenswürdigkeit war die Menagerie Bach, die über zweiundzwanzig Wagen verfügte und Tiere enthielt, die sonst selten oder gar nicht in Menagerien angetroffen werden. Dazu gehörte vor allem ein Nilpferd, das einen Wagen für sich allein bewohnte, und ein Nashorn. Von andern Tieren waren vorhanden: ein Elefant, ein Zebra, ein Gnu, ein Lama, zwei Giraffen, sehr viele Raubtiere, darunter drei Tiger, ferner ein ganzer Wagen voll Affen. Von Dressurgruppen waren zwei vorhanden, deren jede aus drei Löwen bestand. Außer¬ dem gab es noch eine Dressur für eine Dame mit Hyänen und Wölfen. Das Personal der Menagerie bestand aus achtzehn Mann, außer der Böhmischen Musik¬ kapelle. Nach der Besichtigung des Festplatzes aß ich zu Abend und ging dann in die Stadt, von wo ich gegen zehn Uhr über die Kirchfelder Brücke zurückkam. Dabei bemerkte ich, daß vor der Menagerie ein Petroleumflambeau brannte, und daß sich eine erregte Menschenmenge darum hin und her bewegte. Als ich näher kam, fiel mir auf, daß die Menschen sich trotz ihrem eiligen Treiben schweigsam verhielten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/371>, abgerufen am 27.09.2024.