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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Brügge

aus acht Mündungsarmen und vielen dazwischen liegenden Inseln besteht,
damals noch weit vielgestaltiger war. Heute ist der Hort oder die Wester-
schelde der südlichste Arm. Im Mittelalter gab es noch einen südlichern, sehr
gut schiffbaren Arm, das Zwyn (Schwein). An ihm lag Brügge. Noch
heute ist ein ganz kleiner Rest dieses Scheldearms vorhanden: eine schmale
Rinne bei der holländischen Festung Sluis. Das Zwyn stand mit dem
übrigen untern Flußgebiet der Scheide in Verbindung. Täglich strömte zwei¬
mal die Flut hier herein, und täglich strömte zweimal die Ebbe hinaus.
Durch diese starke Bewegung wurde das Fahrwasser offen gehalten; die
Schlammmassen konnten sich nicht ablagern. Aber teils die Natur, teils
der Mensch bereiteten dem Meeresarm die Vernichtung. Stürme rissen ge¬
legentlich die Ränder des Landes und der Inseln durch, womit dann Sand¬
bänke und Verlegungen der Stromrinne eintraten. Verhängnisvoller war noch,
das; die Bewohner der stromaufwärts liegenden Ländereien dem Strom immer
mehr Land abgewannen, indem sie es mit Deichen (Dämmen) umgaben, sodaß
es der Überschwemmung entzogen wurde. Damit wurde die Masse ein- und
allsströmenden Wassers verringert, und neue Schlammablagerungen wurden
begünstigt, die dann wieder zu Landgewinnungen führten. So wurde all-
mühlich aus dem Meeresarm, wo die Galeeren der Genuesen und der Vene¬
zianer mit Wein, Südfrüchten, Teppichen und Seidenstoffen einliefen, um die
wetterfesten hanseatischen Segler mit russischem Flachs, Hanf und Talg, mit
schwedischen Holz und norwegischen Heringen und Stockfischen an den Knif
von Brügge zu treffen, weite Kuhweiden, auf denen höchstens ein Möwenschrei
an die See erinnert.

Um 1100 war der südlichste Scheldearm, das Zwyn, noch unter den
Mauern Brügges. Um 1200 hatte er sich schon nach Damme, vier Kilometer
von Brügge, zurückgezogen. Die Stadt baute einen Seekanal von dort her
und fesselte die Schiffahrt an sich. Bei Damme, das heute mitten im Weide¬
land liegt, war 1213 noch eine meerbusenartige Erweiterung der Schelde,
sodaß dort 1213 zwischen Franzosen und Engländern eine große Seeschlacht
geschlagen werden konnte, wo Philipp August von Frankreich seine ganze
Flotte, viele hundert Segel, verlor. Immer weiter rückte das Land nach
Nordwesten vor, und die Brügger mußten mit, um Verbindung mit der See
zu behalten, die sie dann doch wieder durch Dämme von dem niedrigen Lande
abwehren mußten. Der Ruhm dieses heldenmütigen Kampfes drang bis zu
Dantes Ohren; er spricht von dem Damm, der den Tränenstrom von der
Sandwüste trennt, gleich dem, den die Brügger von ihrer Stadt nach Kadzand
gebaut haben. Das wachsende Unheil spottete allen Anstrengungen, sodaß sich
die Stadt um 1400 entschließen mußte, einen ganz andern Kanal nach dem
22 Kilometer entfernt liegenden, schon erwähnten Hafen Sluis herzustellen.
Der Erfolg war überwältigend. Die größten damaligen Schiffe, 400 bis
500 Tonnen groß, konnten auf diesem Wege Brügge erreichen. Man liest
in den Chroniken, daß im Jahre 1468 bei einer einzigen Flut zweihundert¬
funfzig Schiffe in Sluis einliefen. Bei Sluis, das heute nur durch einen
winzigen Wasserfaden mit dem Meere verbunden ist, war damals eine weite


Brügge

aus acht Mündungsarmen und vielen dazwischen liegenden Inseln besteht,
damals noch weit vielgestaltiger war. Heute ist der Hort oder die Wester-
schelde der südlichste Arm. Im Mittelalter gab es noch einen südlichern, sehr
gut schiffbaren Arm, das Zwyn (Schwein). An ihm lag Brügge. Noch
heute ist ein ganz kleiner Rest dieses Scheldearms vorhanden: eine schmale
Rinne bei der holländischen Festung Sluis. Das Zwyn stand mit dem
übrigen untern Flußgebiet der Scheide in Verbindung. Täglich strömte zwei¬
mal die Flut hier herein, und täglich strömte zweimal die Ebbe hinaus.
Durch diese starke Bewegung wurde das Fahrwasser offen gehalten; die
Schlammmassen konnten sich nicht ablagern. Aber teils die Natur, teils
der Mensch bereiteten dem Meeresarm die Vernichtung. Stürme rissen ge¬
legentlich die Ränder des Landes und der Inseln durch, womit dann Sand¬
bänke und Verlegungen der Stromrinne eintraten. Verhängnisvoller war noch,
das; die Bewohner der stromaufwärts liegenden Ländereien dem Strom immer
mehr Land abgewannen, indem sie es mit Deichen (Dämmen) umgaben, sodaß
es der Überschwemmung entzogen wurde. Damit wurde die Masse ein- und
allsströmenden Wassers verringert, und neue Schlammablagerungen wurden
begünstigt, die dann wieder zu Landgewinnungen führten. So wurde all-
mühlich aus dem Meeresarm, wo die Galeeren der Genuesen und der Vene¬
zianer mit Wein, Südfrüchten, Teppichen und Seidenstoffen einliefen, um die
wetterfesten hanseatischen Segler mit russischem Flachs, Hanf und Talg, mit
schwedischen Holz und norwegischen Heringen und Stockfischen an den Knif
von Brügge zu treffen, weite Kuhweiden, auf denen höchstens ein Möwenschrei
an die See erinnert.

Um 1100 war der südlichste Scheldearm, das Zwyn, noch unter den
Mauern Brügges. Um 1200 hatte er sich schon nach Damme, vier Kilometer
von Brügge, zurückgezogen. Die Stadt baute einen Seekanal von dort her
und fesselte die Schiffahrt an sich. Bei Damme, das heute mitten im Weide¬
land liegt, war 1213 noch eine meerbusenartige Erweiterung der Schelde,
sodaß dort 1213 zwischen Franzosen und Engländern eine große Seeschlacht
geschlagen werden konnte, wo Philipp August von Frankreich seine ganze
Flotte, viele hundert Segel, verlor. Immer weiter rückte das Land nach
Nordwesten vor, und die Brügger mußten mit, um Verbindung mit der See
zu behalten, die sie dann doch wieder durch Dämme von dem niedrigen Lande
abwehren mußten. Der Ruhm dieses heldenmütigen Kampfes drang bis zu
Dantes Ohren; er spricht von dem Damm, der den Tränenstrom von der
Sandwüste trennt, gleich dem, den die Brügger von ihrer Stadt nach Kadzand
gebaut haben. Das wachsende Unheil spottete allen Anstrengungen, sodaß sich
die Stadt um 1400 entschließen mußte, einen ganz andern Kanal nach dem
22 Kilometer entfernt liegenden, schon erwähnten Hafen Sluis herzustellen.
Der Erfolg war überwältigend. Die größten damaligen Schiffe, 400 bis
500 Tonnen groß, konnten auf diesem Wege Brügge erreichen. Man liest
in den Chroniken, daß im Jahre 1468 bei einer einzigen Flut zweihundert¬
funfzig Schiffe in Sluis einliefen. Bei Sluis, das heute nur durch einen
winzigen Wasserfaden mit dem Meere verbunden ist, war damals eine weite


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/366>, abgerufen am 27.09.2024.