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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die deutsche Sozialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung

einstimmig angenommen worden ist, ohne daß sich ein sozialdemokratischer Redner
dazu geäußert hat, oder aber, wenn eine Annahme mit Stimmenmehrheit
erfolgt ist, und der Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion ausdrücklich erklärt
hat, seine Fraktion werde dem Entwurf zustimmen. In diesen beiden Fällen
wird man einer Behauptung der Sozialdemokraten dahin, sie hätten für das
fragliche Gesetz gestimmt, nicht entgegentreten können, wenngleich ein klarer
Beweis für eine solche Behauptung nicht zu erbringen ist.

Ergänzt werden die amtlichen Sitzungsberichte des Reichstags für den
obigen Zweck durch die Protokolle über die alljährlich stattfindenden sozial¬
demokratischen Parteitage und die Berichte des Parteivorstands. Solche Proto¬
kolle liegen allerdings erst seit 1890 vor. Von 1867 bis 1878 gab es solche
Protokolle nicht, wohl deshalb, weil bis 1875 die beiden sozialistischen Rich¬
tungen noch nicht vereinigt waren, und weil von 1875 bis 1878 die Organi¬
sation der nun vereinigten Parteien noch nicht so straff und festgefügt gewesen
ist. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, also von 1878 bis 1890,
sind selbstverständlich solche Protokolle oder Berichte nicht erschienen, obwohl
ja auch in dieser Zeit Parteitage, wenn auch außerhalb der deutschen Neichs-
grenzen, abgehalten worden sind. Übrigens ist auch noch nach 1890 einigemal
der Fall zu verzeichnen, daß man, auch wenn man die Parteitagsprotokolle zu
Hilfe nimmt, keine endgiltige Feststellung über die Abstimmung treffen kann. Die
Angaben in den Parteiprotokollen selbst dürfen wohl nicht in Zweifel gezogen
werden, wenigstens ist ein Widerspruch wegen der Angaben über die Abstimmung
nicht bekannt geworden. Von Interesse ist dabei, festzustellen, daß nur in
einem einzigen Fall, und zwar bei dem Gesetz über die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten, die Partei sich im Reichstage gespalten hat, der größere
Teil hat für, der kleinere gegen das Gesetz gestimmt, und der Abgeordnete
Zubeil erklärte in der Sitzung vom 12. Juni 1900 ausdrücklich: "Dieser Ent¬
wurf ist bei uns nicht zur Parteisache gemacht worden und unterliegt nicht
dem Fraktionszwange. Jeder kann dazu Stellung nehmen, wie er es für seine
Person für richtig befindet."

Zunächst dürfte folgende Übersicht von Interesse sein. In den seit der
Errichtung des Norddeutschen Bundes verflossenen zwölf Legislaturperioden,
von denen die zwölfte allerdings noch andauert, weist die sozialdemokratische
Vertretung im Reichstage folgende Zahlen auf:

1867 bis 1871...........4 Abgeordnete (Bebel, Hasenclever,,
Liebknecht, Schweizer),
1871 " 1874 ........... 1 Abgeordneter (Bebey
1874 " 1877 ........... 9 Abgeordnete
1877 " 1878 ...........II
1878 " 1881 (nach der Auslösung infolge Ab¬
lehnung des Sozialistengesetzes) 11 "
1881 " 1884 ........... 13
1884 " 1887 ........... 22
1887 " 1890 (Sevtennatsreichstag) ... 11
1890 " 1893 (nach Aufhebung des Sozialisten-
geseyes)........ 36 "
1893 " 1898 ........... 43
1898 " 1903 ........... 66
1903. .............. 78

Die deutsche Sozialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung

einstimmig angenommen worden ist, ohne daß sich ein sozialdemokratischer Redner
dazu geäußert hat, oder aber, wenn eine Annahme mit Stimmenmehrheit
erfolgt ist, und der Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion ausdrücklich erklärt
hat, seine Fraktion werde dem Entwurf zustimmen. In diesen beiden Fällen
wird man einer Behauptung der Sozialdemokraten dahin, sie hätten für das
fragliche Gesetz gestimmt, nicht entgegentreten können, wenngleich ein klarer
Beweis für eine solche Behauptung nicht zu erbringen ist.

Ergänzt werden die amtlichen Sitzungsberichte des Reichstags für den
obigen Zweck durch die Protokolle über die alljährlich stattfindenden sozial¬
demokratischen Parteitage und die Berichte des Parteivorstands. Solche Proto¬
kolle liegen allerdings erst seit 1890 vor. Von 1867 bis 1878 gab es solche
Protokolle nicht, wohl deshalb, weil bis 1875 die beiden sozialistischen Rich¬
tungen noch nicht vereinigt waren, und weil von 1875 bis 1878 die Organi¬
sation der nun vereinigten Parteien noch nicht so straff und festgefügt gewesen
ist. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, also von 1878 bis 1890,
sind selbstverständlich solche Protokolle oder Berichte nicht erschienen, obwohl
ja auch in dieser Zeit Parteitage, wenn auch außerhalb der deutschen Neichs-
grenzen, abgehalten worden sind. Übrigens ist auch noch nach 1890 einigemal
der Fall zu verzeichnen, daß man, auch wenn man die Parteitagsprotokolle zu
Hilfe nimmt, keine endgiltige Feststellung über die Abstimmung treffen kann. Die
Angaben in den Parteiprotokollen selbst dürfen wohl nicht in Zweifel gezogen
werden, wenigstens ist ein Widerspruch wegen der Angaben über die Abstimmung
nicht bekannt geworden. Von Interesse ist dabei, festzustellen, daß nur in
einem einzigen Fall, und zwar bei dem Gesetz über die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten, die Partei sich im Reichstage gespalten hat, der größere
Teil hat für, der kleinere gegen das Gesetz gestimmt, und der Abgeordnete
Zubeil erklärte in der Sitzung vom 12. Juni 1900 ausdrücklich: „Dieser Ent¬
wurf ist bei uns nicht zur Parteisache gemacht worden und unterliegt nicht
dem Fraktionszwange. Jeder kann dazu Stellung nehmen, wie er es für seine
Person für richtig befindet."

Zunächst dürfte folgende Übersicht von Interesse sein. In den seit der
Errichtung des Norddeutschen Bundes verflossenen zwölf Legislaturperioden,
von denen die zwölfte allerdings noch andauert, weist die sozialdemokratische
Vertretung im Reichstage folgende Zahlen auf:

1867 bis 1871...........4 Abgeordnete (Bebel, Hasenclever,,
Liebknecht, Schweizer),
1871 „ 1874 ........... 1 Abgeordneter (Bebey
1874 „ 1877 ........... 9 Abgeordnete
1877 „ 1878 ...........II
1878 „ 1881 (nach der Auslösung infolge Ab¬
lehnung des Sozialistengesetzes) 11 „
1881 „ 1884 ........... 13
1884 „ 1887 ........... 22
1887 „ 1890 (Sevtennatsreichstag) ... 11
1890 „ 1893 (nach Aufhebung des Sozialisten-
geseyes)........ 36 „
1893 „ 1898 ........... 43
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1903. .............. 78

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[0347] Die deutsche Sozialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung einstimmig angenommen worden ist, ohne daß sich ein sozialdemokratischer Redner dazu geäußert hat, oder aber, wenn eine Annahme mit Stimmenmehrheit erfolgt ist, und der Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion ausdrücklich erklärt hat, seine Fraktion werde dem Entwurf zustimmen. In diesen beiden Fällen wird man einer Behauptung der Sozialdemokraten dahin, sie hätten für das fragliche Gesetz gestimmt, nicht entgegentreten können, wenngleich ein klarer Beweis für eine solche Behauptung nicht zu erbringen ist. Ergänzt werden die amtlichen Sitzungsberichte des Reichstags für den obigen Zweck durch die Protokolle über die alljährlich stattfindenden sozial¬ demokratischen Parteitage und die Berichte des Parteivorstands. Solche Proto¬ kolle liegen allerdings erst seit 1890 vor. Von 1867 bis 1878 gab es solche Protokolle nicht, wohl deshalb, weil bis 1875 die beiden sozialistischen Rich¬ tungen noch nicht vereinigt waren, und weil von 1875 bis 1878 die Organi¬ sation der nun vereinigten Parteien noch nicht so straff und festgefügt gewesen ist. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, also von 1878 bis 1890, sind selbstverständlich solche Protokolle oder Berichte nicht erschienen, obwohl ja auch in dieser Zeit Parteitage, wenn auch außerhalb der deutschen Neichs- grenzen, abgehalten worden sind. Übrigens ist auch noch nach 1890 einigemal der Fall zu verzeichnen, daß man, auch wenn man die Parteitagsprotokolle zu Hilfe nimmt, keine endgiltige Feststellung über die Abstimmung treffen kann. Die Angaben in den Parteiprotokollen selbst dürfen wohl nicht in Zweifel gezogen werden, wenigstens ist ein Widerspruch wegen der Angaben über die Abstimmung nicht bekannt geworden. Von Interesse ist dabei, festzustellen, daß nur in einem einzigen Fall, und zwar bei dem Gesetz über die Bekämpfung gemein¬ gefährlicher Krankheiten, die Partei sich im Reichstage gespalten hat, der größere Teil hat für, der kleinere gegen das Gesetz gestimmt, und der Abgeordnete Zubeil erklärte in der Sitzung vom 12. Juni 1900 ausdrücklich: „Dieser Ent¬ wurf ist bei uns nicht zur Parteisache gemacht worden und unterliegt nicht dem Fraktionszwange. Jeder kann dazu Stellung nehmen, wie er es für seine Person für richtig befindet." Zunächst dürfte folgende Übersicht von Interesse sein. In den seit der Errichtung des Norddeutschen Bundes verflossenen zwölf Legislaturperioden, von denen die zwölfte allerdings noch andauert, weist die sozialdemokratische Vertretung im Reichstage folgende Zahlen auf: 1867 bis 1871...........4 Abgeordnete (Bebel, Hasenclever,, Liebknecht, Schweizer), 1871 „ 1874 ........... 1 Abgeordneter (Bebey 1874 „ 1877 ........... 9 Abgeordnete 1877 „ 1878 ...........II 1878 „ 1881 (nach der Auslösung infolge Ab¬ lehnung des Sozialistengesetzes) 11 „ 1881 „ 1884 ........... 13 1884 „ 1887 ........... 22 1887 „ 1890 (Sevtennatsreichstag) ... 11 1890 „ 1893 (nach Aufhebung des Sozialisten- geseyes)........ 36 „ 1893 „ 1898 ........... 43 1898 „ 1903 ........... 66 1903. .............. 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/347>, abgerufen am 27.09.2024.