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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

der Bau einer solchen Flotte aber noch andre Vorteile bringen wird, wie zum
Beispiel eine Entlastung unsrer heimischen Flotte (schon einmal mußten wir von
dieser eine Division nach Ostasien senden), eine machtvolle Stellung im Stillen Ozean
und damit auch die Aussicht auf Verbündete, wobei an Frankreich und die Ver¬
einigten Staaten zu denken wäre, dies nur nebenbei. Die Hauptsache bleibt der
Schutz Kiautschous und unsrer Interessen in China, der nur auf diese Weise ohne
unermeßliche Opfer nu Gut und Blut erreicht werden kann. ViSe-me oonsulss!


Phantasievolle Historiker.

Von der Sammlung: Kulturprobleme
der Gegenwart, die Leo Berg herausgibt, sind uns zwei weitere Bändchen
zugegangen. Der Idealstaat von Dr. Eugen Heinrich Schmitt (Berlin,
Johannes Rabe, 1904) ist eine Geschichte der Utopien, denen auch die Ideale der
Bodenreformer, der Zivilisten und Franz Oppenheimers beigezählt werden. Der
Jesuitenstaat Paraguay wird beschrieben, weil der Verfasser glaubt, in ihm sei das
soziale Ideal der römischen Kirche verwirklicht gewesen, was nicht ganz stimmt, da
uicht einmal die Jesuiten, geschweige denn alle angesehenen katholischen Theologen
geglaubt haben, daß sich die Völker Europas jemals wie südamerikanische Indianer
würden behandeln lassen. Sachlich erfahren wir von Schmitt nichts neues, aber
sein Buch ist dennoch interessant, weil er den Utopismus von seinem gnostischen
Standpunkt aus beurteilt, den wir bei Besprechung seiner "Gnosis" im vierten
vorjährigen Hefte dargelegt haben. Zwar sieht er im kirchlichen Christentum das
Gegenteil und den Erzfeind der Gnosis Jesu, im Liberalismus und im Kommu¬
nismus, die die Zwingburg der Geister untergraben, Fortschrittsmächte, aber Positives,
den wirklichen Idealstaat, vermag nach ihm keine der beiden zu schaffen, weil auch
sie dem Materialismus, "der Tierheit" verfallen sind. Der Liberalismus kennt
nicht die wahre Würde der menschlichen Persönlichkeit, ihre göttliche Natur. Ihm
sind die Individuen nur elende Nullen im unendlichen Universum, oder im besten
Falle raffinierte Bestien, die sich im Kampf ums Dasein balgen. Darum sind die
Freiheit und die Brüderlichkeit, die er verkündigt, nur Illusionen. Dasselbe gilt
von der Sozialdemokratie, die nur äußerliche Fesseln kennt, während in Wirklich¬
keit "der Materialismus der Weltanschauung die große Sklavenkette ist, die die
Menschheit seit Jahrtausenden mit sich schleppt." Der allergrößte ihrer Irrtümer
besteht in Marxens materialistischer Geschichtskonstruktion. Weit entfernt davon,
daß die Ideen bloße Spiegelbilder wirtschaftlicher Verhältnisse sein sollten, sind
diese, sind sogar die Bedürfnisse des Kulturmenschen ein Produkt der Denktätig¬
keit, die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ein Erzeugnis des mathema¬
tischen Denkens. Und nachdem der Verfasser das Utopische aller Utopien ganz
vortrefflich nachgewiesen hat, bereitet er uns die reinste Heiterkeit durch die aller-
lustigste aller Utopien. Die Vernunfterkenntuis wird uns ins Paradies führen --
durch das mathematische Denken. Wenn wir ihn recht verstehn, soll uns die
Infinitesimalrechnung erlösen. Vielleicht erfahren wir aus dem versprochnen zweiten
Teile seiner "Gnosis" genauer, wie er sich die Sache denkt.


Dr. I. Fromer

ist ein ehrlich radikaler Jude, dessen Buch: Das Wesen des
Judentums (Berlin, Leipzig, Paris, bei Hüpeden und Merzyn, 1905) seinen
Glaubens- und Stammesgenossen so schlecht gefallen hat, daß ihm, wenn die Zei¬
tungen wahr berichtet haben, der Berliner Synagogenvorstand sein Amt als
Bibliothekar entzogen hat. Er verwirft bei Erörterung der Fragen, welches die
Ursache der schlimmen Lage der Juden sei, und wie sich ihr Volkstum erhalten
konnte, die "transzendente" Erklärung sowohl der Talmudjuden, die Gottes Erwählung,
wie die der Reformjuden, die die Roheit und Schlechtigkeit der Wirtsvölker als
Ursache angeben. Fromer ist überzeugt, daß die Ursache immanent sei. d. h. in
den Juden selbst liege, in ihrer Eigentümlichkeit, die darin bestehe, daß sie von
den drei Trieben, deren harmonische Entwicklung den Vollmenschen ausmache, dem
logischen, dem ästhetischen und dem ethischen, nur den letzten ausgebildet hätten. Aus


Grenzboten III 190S 42
Maßgebliches und Unmaßgebliches

der Bau einer solchen Flotte aber noch andre Vorteile bringen wird, wie zum
Beispiel eine Entlastung unsrer heimischen Flotte (schon einmal mußten wir von
dieser eine Division nach Ostasien senden), eine machtvolle Stellung im Stillen Ozean
und damit auch die Aussicht auf Verbündete, wobei an Frankreich und die Ver¬
einigten Staaten zu denken wäre, dies nur nebenbei. Die Hauptsache bleibt der
Schutz Kiautschous und unsrer Interessen in China, der nur auf diese Weise ohne
unermeßliche Opfer nu Gut und Blut erreicht werden kann. ViSe-me oonsulss!


Phantasievolle Historiker.

Von der Sammlung: Kulturprobleme
der Gegenwart, die Leo Berg herausgibt, sind uns zwei weitere Bändchen
zugegangen. Der Idealstaat von Dr. Eugen Heinrich Schmitt (Berlin,
Johannes Rabe, 1904) ist eine Geschichte der Utopien, denen auch die Ideale der
Bodenreformer, der Zivilisten und Franz Oppenheimers beigezählt werden. Der
Jesuitenstaat Paraguay wird beschrieben, weil der Verfasser glaubt, in ihm sei das
soziale Ideal der römischen Kirche verwirklicht gewesen, was nicht ganz stimmt, da
uicht einmal die Jesuiten, geschweige denn alle angesehenen katholischen Theologen
geglaubt haben, daß sich die Völker Europas jemals wie südamerikanische Indianer
würden behandeln lassen. Sachlich erfahren wir von Schmitt nichts neues, aber
sein Buch ist dennoch interessant, weil er den Utopismus von seinem gnostischen
Standpunkt aus beurteilt, den wir bei Besprechung seiner „Gnosis" im vierten
vorjährigen Hefte dargelegt haben. Zwar sieht er im kirchlichen Christentum das
Gegenteil und den Erzfeind der Gnosis Jesu, im Liberalismus und im Kommu¬
nismus, die die Zwingburg der Geister untergraben, Fortschrittsmächte, aber Positives,
den wirklichen Idealstaat, vermag nach ihm keine der beiden zu schaffen, weil auch
sie dem Materialismus, „der Tierheit" verfallen sind. Der Liberalismus kennt
nicht die wahre Würde der menschlichen Persönlichkeit, ihre göttliche Natur. Ihm
sind die Individuen nur elende Nullen im unendlichen Universum, oder im besten
Falle raffinierte Bestien, die sich im Kampf ums Dasein balgen. Darum sind die
Freiheit und die Brüderlichkeit, die er verkündigt, nur Illusionen. Dasselbe gilt
von der Sozialdemokratie, die nur äußerliche Fesseln kennt, während in Wirklich¬
keit „der Materialismus der Weltanschauung die große Sklavenkette ist, die die
Menschheit seit Jahrtausenden mit sich schleppt." Der allergrößte ihrer Irrtümer
besteht in Marxens materialistischer Geschichtskonstruktion. Weit entfernt davon,
daß die Ideen bloße Spiegelbilder wirtschaftlicher Verhältnisse sein sollten, sind
diese, sind sogar die Bedürfnisse des Kulturmenschen ein Produkt der Denktätig¬
keit, die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ein Erzeugnis des mathema¬
tischen Denkens. Und nachdem der Verfasser das Utopische aller Utopien ganz
vortrefflich nachgewiesen hat, bereitet er uns die reinste Heiterkeit durch die aller-
lustigste aller Utopien. Die Vernunfterkenntuis wird uns ins Paradies führen —
durch das mathematische Denken. Wenn wir ihn recht verstehn, soll uns die
Infinitesimalrechnung erlösen. Vielleicht erfahren wir aus dem versprochnen zweiten
Teile seiner „Gnosis" genauer, wie er sich die Sache denkt.


Dr. I. Fromer

ist ein ehrlich radikaler Jude, dessen Buch: Das Wesen des
Judentums (Berlin, Leipzig, Paris, bei Hüpeden und Merzyn, 1905) seinen
Glaubens- und Stammesgenossen so schlecht gefallen hat, daß ihm, wenn die Zei¬
tungen wahr berichtet haben, der Berliner Synagogenvorstand sein Amt als
Bibliothekar entzogen hat. Er verwirft bei Erörterung der Fragen, welches die
Ursache der schlimmen Lage der Juden sei, und wie sich ihr Volkstum erhalten
konnte, die „transzendente" Erklärung sowohl der Talmudjuden, die Gottes Erwählung,
wie die der Reformjuden, die die Roheit und Schlechtigkeit der Wirtsvölker als
Ursache angeben. Fromer ist überzeugt, daß die Ursache immanent sei. d. h. in
den Juden selbst liege, in ihrer Eigentümlichkeit, die darin bestehe, daß sie von
den drei Trieben, deren harmonische Entwicklung den Vollmenschen ausmache, dem
logischen, dem ästhetischen und dem ethischen, nur den letzten ausgebildet hätten. Aus


Grenzboten III 190S 42
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[0337] Maßgebliches und Unmaßgebliches der Bau einer solchen Flotte aber noch andre Vorteile bringen wird, wie zum Beispiel eine Entlastung unsrer heimischen Flotte (schon einmal mußten wir von dieser eine Division nach Ostasien senden), eine machtvolle Stellung im Stillen Ozean und damit auch die Aussicht auf Verbündete, wobei an Frankreich und die Ver¬ einigten Staaten zu denken wäre, dies nur nebenbei. Die Hauptsache bleibt der Schutz Kiautschous und unsrer Interessen in China, der nur auf diese Weise ohne unermeßliche Opfer nu Gut und Blut erreicht werden kann. ViSe-me oonsulss! Phantasievolle Historiker. Von der Sammlung: Kulturprobleme der Gegenwart, die Leo Berg herausgibt, sind uns zwei weitere Bändchen zugegangen. Der Idealstaat von Dr. Eugen Heinrich Schmitt (Berlin, Johannes Rabe, 1904) ist eine Geschichte der Utopien, denen auch die Ideale der Bodenreformer, der Zivilisten und Franz Oppenheimers beigezählt werden. Der Jesuitenstaat Paraguay wird beschrieben, weil der Verfasser glaubt, in ihm sei das soziale Ideal der römischen Kirche verwirklicht gewesen, was nicht ganz stimmt, da uicht einmal die Jesuiten, geschweige denn alle angesehenen katholischen Theologen geglaubt haben, daß sich die Völker Europas jemals wie südamerikanische Indianer würden behandeln lassen. Sachlich erfahren wir von Schmitt nichts neues, aber sein Buch ist dennoch interessant, weil er den Utopismus von seinem gnostischen Standpunkt aus beurteilt, den wir bei Besprechung seiner „Gnosis" im vierten vorjährigen Hefte dargelegt haben. Zwar sieht er im kirchlichen Christentum das Gegenteil und den Erzfeind der Gnosis Jesu, im Liberalismus und im Kommu¬ nismus, die die Zwingburg der Geister untergraben, Fortschrittsmächte, aber Positives, den wirklichen Idealstaat, vermag nach ihm keine der beiden zu schaffen, weil auch sie dem Materialismus, „der Tierheit" verfallen sind. Der Liberalismus kennt nicht die wahre Würde der menschlichen Persönlichkeit, ihre göttliche Natur. Ihm sind die Individuen nur elende Nullen im unendlichen Universum, oder im besten Falle raffinierte Bestien, die sich im Kampf ums Dasein balgen. Darum sind die Freiheit und die Brüderlichkeit, die er verkündigt, nur Illusionen. Dasselbe gilt von der Sozialdemokratie, die nur äußerliche Fesseln kennt, während in Wirklich¬ keit „der Materialismus der Weltanschauung die große Sklavenkette ist, die die Menschheit seit Jahrtausenden mit sich schleppt." Der allergrößte ihrer Irrtümer besteht in Marxens materialistischer Geschichtskonstruktion. Weit entfernt davon, daß die Ideen bloße Spiegelbilder wirtschaftlicher Verhältnisse sein sollten, sind diese, sind sogar die Bedürfnisse des Kulturmenschen ein Produkt der Denktätig¬ keit, die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ein Erzeugnis des mathema¬ tischen Denkens. Und nachdem der Verfasser das Utopische aller Utopien ganz vortrefflich nachgewiesen hat, bereitet er uns die reinste Heiterkeit durch die aller- lustigste aller Utopien. Die Vernunfterkenntuis wird uns ins Paradies führen — durch das mathematische Denken. Wenn wir ihn recht verstehn, soll uns die Infinitesimalrechnung erlösen. Vielleicht erfahren wir aus dem versprochnen zweiten Teile seiner „Gnosis" genauer, wie er sich die Sache denkt. Dr. I. Fromer ist ein ehrlich radikaler Jude, dessen Buch: Das Wesen des Judentums (Berlin, Leipzig, Paris, bei Hüpeden und Merzyn, 1905) seinen Glaubens- und Stammesgenossen so schlecht gefallen hat, daß ihm, wenn die Zei¬ tungen wahr berichtet haben, der Berliner Synagogenvorstand sein Amt als Bibliothekar entzogen hat. Er verwirft bei Erörterung der Fragen, welches die Ursache der schlimmen Lage der Juden sei, und wie sich ihr Volkstum erhalten konnte, die „transzendente" Erklärung sowohl der Talmudjuden, die Gottes Erwählung, wie die der Reformjuden, die die Roheit und Schlechtigkeit der Wirtsvölker als Ursache angeben. Fromer ist überzeugt, daß die Ursache immanent sei. d. h. in den Juden selbst liege, in ihrer Eigentümlichkeit, die darin bestehe, daß sie von den drei Trieben, deren harmonische Entwicklung den Vollmenschen ausmache, dem logischen, dem ästhetischen und dem ethischen, nur den letzten ausgebildet hätten. Aus Grenzboten III 190S 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/337>, abgerufen am 27.09.2024.