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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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vom deutschen Theater

terrenis wie die Mcirtersteigsche nötig, es gehört auch dessen klares, gerades
Urteil und die nicht hoch genug zu schätzende Vornehmheit seiner Gesinnung
dazu, die ihn befähigt, auch da sachlich und billig zu urteilen, wo es sich um
Besprechung von Einrichtungen, Persönlichkeiten und Zielen handelt, denen er
entweder als grundsätzlicher Widersacher gegenübersteht, oder gegen die sich in
seinem Innern ein unwillkürliches Mißtrauen, eine fast unbewußte Abneigung
regt. Solche dunkle Gefühle, die Imponderabilien der Einzelseele, leiten jeden
von uns, nur mit dem Unterschiede, daß wir uns dessen je nach der vor-
handnen Selbsterkenntnis und je nach der betriebnen Selbsterforschung mehr
oder weniger bewußt sind.

Martersteig sucht sich mit einer Unparteilichkeit, die weder in politischen,
noch in religiösen, noch in rein literarischen Dingen eine häufig vorkommende
Tugend ist, von jedem Vorurteile frei zu machen, und das hat den für den
Leser unschätzbaren Erfolg, daß man mehr und mehr geneigt wird, sich in
Fällen, wo man den Tatbestand nicht kennt, seinem Urteile mit unbedingtem
Vertrauen anzuschließen. Ja auch da, wo man zu wissen glaubt, daß er
im Irrtum ist, oder wo er doch, weil nicht von beiden Seiten belehrt, nicht
ganz das Richtige zu treffen scheint, behält man das wohltuende Gefühl, daß
er sich mit dem, was er berichtet und behauptet, durchaus in gutem Glauben
befindet. Ein Beispiel wird leicht klar machen, was mit dem angedeuteten
Vorbehalt gemeint ist.

Er ist für die sogenannten Kavalierintendanturen und für die italienische
Oper, wie sie im achtzehnten Jahrhundert an den deutschen Fürstenhöfen sehr
in Gunst stand, nicht besonders eingenommen. Das fühlt man hier und da
an den von ihm gebrauchten Wendungen, und daß einem neuzeitlichen Fach¬
mann wie ihm das Herz bluten mußte, wenn er die unglaublichen Fehlgriffe
sah, zu denen sich einzelne mit Bühnenleitungen betraute Kavaliere im Be¬
wußtsein ihrer UnVerantwortlichkeit und infolge einseitigen Geschmacks und
Urteils in Kunstsachen verleiten ließen, ist durchaus begreiflich. Auch sein Be¬
dauern, daß zu der damaligen Zeit von den deutschen Höfen unverhältnismäßig
große Geldaufwendungen für ausländische Theater- und Musikware gemacht
wurden, während man oft deutsche Truppen, denen es weder an Geschmack,
noch an gutem Willen, noch an Talent fehlte, ohne Unterstützung ließ, wird
jeder teilen, der durch die auf uns gekommne zum Teil sehr interessante
Memoiren- und Briefliteratur mit den damaligen Verhältnissen bekannt ge¬
worden ist.

Und doch scheint mir Martersteigs Urteil zuungunsten des damals vor-
handnen Verständnisses und der dadurch veranlaßten Einrichtungen durch den
Umstand beeinflußt zu sein, daß er den heutigen Geschmack und die heutige
Kunsttendenz als Richtschnur und Maßstab für die damaligen Verhältnisse
ansehen zu dürfen glaubt, und daß er bei seinen Erwägungen von einer sich
mit den Tatsachen in einseitiger Weise abfindenden Erbitterung gegen die
führenden Klassen, namentlich aber auch gegen das italienische Gesangspersonal
geleitet wird. Selbstverständlich im besten Glauben und in der festen Zuver¬
sicht, daß seine Abneigung gerecht ist, und daß ihn das zur Beurteilung der


vom deutschen Theater

terrenis wie die Mcirtersteigsche nötig, es gehört auch dessen klares, gerades
Urteil und die nicht hoch genug zu schätzende Vornehmheit seiner Gesinnung
dazu, die ihn befähigt, auch da sachlich und billig zu urteilen, wo es sich um
Besprechung von Einrichtungen, Persönlichkeiten und Zielen handelt, denen er
entweder als grundsätzlicher Widersacher gegenübersteht, oder gegen die sich in
seinem Innern ein unwillkürliches Mißtrauen, eine fast unbewußte Abneigung
regt. Solche dunkle Gefühle, die Imponderabilien der Einzelseele, leiten jeden
von uns, nur mit dem Unterschiede, daß wir uns dessen je nach der vor-
handnen Selbsterkenntnis und je nach der betriebnen Selbsterforschung mehr
oder weniger bewußt sind.

Martersteig sucht sich mit einer Unparteilichkeit, die weder in politischen,
noch in religiösen, noch in rein literarischen Dingen eine häufig vorkommende
Tugend ist, von jedem Vorurteile frei zu machen, und das hat den für den
Leser unschätzbaren Erfolg, daß man mehr und mehr geneigt wird, sich in
Fällen, wo man den Tatbestand nicht kennt, seinem Urteile mit unbedingtem
Vertrauen anzuschließen. Ja auch da, wo man zu wissen glaubt, daß er
im Irrtum ist, oder wo er doch, weil nicht von beiden Seiten belehrt, nicht
ganz das Richtige zu treffen scheint, behält man das wohltuende Gefühl, daß
er sich mit dem, was er berichtet und behauptet, durchaus in gutem Glauben
befindet. Ein Beispiel wird leicht klar machen, was mit dem angedeuteten
Vorbehalt gemeint ist.

Er ist für die sogenannten Kavalierintendanturen und für die italienische
Oper, wie sie im achtzehnten Jahrhundert an den deutschen Fürstenhöfen sehr
in Gunst stand, nicht besonders eingenommen. Das fühlt man hier und da
an den von ihm gebrauchten Wendungen, und daß einem neuzeitlichen Fach¬
mann wie ihm das Herz bluten mußte, wenn er die unglaublichen Fehlgriffe
sah, zu denen sich einzelne mit Bühnenleitungen betraute Kavaliere im Be¬
wußtsein ihrer UnVerantwortlichkeit und infolge einseitigen Geschmacks und
Urteils in Kunstsachen verleiten ließen, ist durchaus begreiflich. Auch sein Be¬
dauern, daß zu der damaligen Zeit von den deutschen Höfen unverhältnismäßig
große Geldaufwendungen für ausländische Theater- und Musikware gemacht
wurden, während man oft deutsche Truppen, denen es weder an Geschmack,
noch an gutem Willen, noch an Talent fehlte, ohne Unterstützung ließ, wird
jeder teilen, der durch die auf uns gekommne zum Teil sehr interessante
Memoiren- und Briefliteratur mit den damaligen Verhältnissen bekannt ge¬
worden ist.

Und doch scheint mir Martersteigs Urteil zuungunsten des damals vor-
handnen Verständnisses und der dadurch veranlaßten Einrichtungen durch den
Umstand beeinflußt zu sein, daß er den heutigen Geschmack und die heutige
Kunsttendenz als Richtschnur und Maßstab für die damaligen Verhältnisse
ansehen zu dürfen glaubt, und daß er bei seinen Erwägungen von einer sich
mit den Tatsachen in einseitiger Weise abfindenden Erbitterung gegen die
führenden Klassen, namentlich aber auch gegen das italienische Gesangspersonal
geleitet wird. Selbstverständlich im besten Glauben und in der festen Zuver¬
sicht, daß seine Abneigung gerecht ist, und daß ihn das zur Beurteilung der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/258>, abgerufen am 27.09.2024.