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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Negermärchen

Nur eine, die sich undankbar erwiesen hatte, behielt er zurück Alsbald erreichen
dann die Mädchen ihre Verwandten wieder. Ein zweites Märchen, das Kind
und der Regen (Ur. 18), beruht ebenfalls von Anfang bis zu Ende auf ein¬
heimischen Vorstellungen. Es berichtet, daß sich in einer dürren Zeit einstmals
Kinder mit Spielen vergnügten. Eins von ihnen schlug vor, daß alle Kinder
Wasserköpfe herbeiholen und in einem Kreise aufstellen sollten. Nachdem dies
geschehn war, stellte es sich in die Mitte und schaute gen Himmel, wo sich
alsobald einige Wolken zusammenballten und Tropfen fallen ließen, die aber
nur in die Kochtöpfe hineinsielen. Das Kind wird vor den Sultan geführt, in
dessen Gegenwart es einen Wolkenbruch herbeizaubert und unter Donner und
Blitz in den Wolken verschwindet. Man sieht, daß das Wunderbare in diesem
Märchen auf dem allen Negern gemeinsamen Regenglauben beruht.

Eine besondre Klasse bilden sieben Kettenmärchen, die sich in ähnlicher Form
auch bei den meisten europäischen Völkern finden. Das Wesen dieser Märchen be¬
steht darin, daß der Bericht einer Reihe gleichartiger Erlebnisse (im vorliegenden
Falle das mehrfach wiederholte Eintauschen eines Gegenstandes gegen einen andern)
kettenartig aneinandergebunden wird zu einem immer länger werdenden Satz. So
findet nach dem Märchen Ur. 53 ein Kind eine Frucht und gibt sie der Mutter
zur Verwahrung; diese ißt die Frucht auf und gibt dem Mädchen dafür eine
Nadel, für die Nadel tauscht es vom Vater eine Axt ein, für diese von einigen
Knaben Honig, für den Honig von einem alten Weibe Negerkorn, für das Korn
von einigen Pfauen Federn. Jedesmal, wenn das Mädchen den geliehenen
Gegenstand zurückfordert, ist er verzehrt oder zerbrochen. So kommt denn am
Ende die lange Klage des Kindes zustande. "Warum habt ihr meine Federn
zerbrochen, die ich von den Pfauen bekommen hatte, die mein Negerkorn ver¬
zehrt hatten, das ich von dem alten Weibe erhalten hatte, das meinen Honig
aß, den mir die Kinder gegeben hatten, die meine Axt zerbrachen, die ein Ge¬
schenk war von meinem Vater, der meine Nadel zerbrochen hat, die mir meine
Mutter gab, die meine Eingui gegessen hat, die ich für mich von unserm Baume
gepflückt habe?" Wer fühlt sich hierbei nicht von ferne an unsern Schwank
vom Läuschen und vom Flöhchen erinnert, das Grimm in Kassel aufgezeichnet
hatte (Ur. 30)? Ein Läuschen und ein Flöhchen lebten zusammen und branden
Bier in einer Eierschale. Da fiel das Läuschen hinein und verbrühte sich.
Darüber fing das Flöhchen laut an zu schreien. Da sprach die kleine Stuben¬
tür: "Was schreist du, Flöhchen?" "Weil Läuschen sich verbrannt hat." Da
sing die Tür an zu knarren. Da sprach ein Besenchen in der Ecke: "Was
knarrst du, Türchen?" "Soll ich nicht knarren? Läuschen hat sich verbrannt,
Flöhchen weint." Nacheinander mischen sich dann noch ein Wägelchen, das
Mistchen, das Bäumchen ein, bis am Ende folgende Kette entsteht:


Negermärchen

Nur eine, die sich undankbar erwiesen hatte, behielt er zurück Alsbald erreichen
dann die Mädchen ihre Verwandten wieder. Ein zweites Märchen, das Kind
und der Regen (Ur. 18), beruht ebenfalls von Anfang bis zu Ende auf ein¬
heimischen Vorstellungen. Es berichtet, daß sich in einer dürren Zeit einstmals
Kinder mit Spielen vergnügten. Eins von ihnen schlug vor, daß alle Kinder
Wasserköpfe herbeiholen und in einem Kreise aufstellen sollten. Nachdem dies
geschehn war, stellte es sich in die Mitte und schaute gen Himmel, wo sich
alsobald einige Wolken zusammenballten und Tropfen fallen ließen, die aber
nur in die Kochtöpfe hineinsielen. Das Kind wird vor den Sultan geführt, in
dessen Gegenwart es einen Wolkenbruch herbeizaubert und unter Donner und
Blitz in den Wolken verschwindet. Man sieht, daß das Wunderbare in diesem
Märchen auf dem allen Negern gemeinsamen Regenglauben beruht.

Eine besondre Klasse bilden sieben Kettenmärchen, die sich in ähnlicher Form
auch bei den meisten europäischen Völkern finden. Das Wesen dieser Märchen be¬
steht darin, daß der Bericht einer Reihe gleichartiger Erlebnisse (im vorliegenden
Falle das mehrfach wiederholte Eintauschen eines Gegenstandes gegen einen andern)
kettenartig aneinandergebunden wird zu einem immer länger werdenden Satz. So
findet nach dem Märchen Ur. 53 ein Kind eine Frucht und gibt sie der Mutter
zur Verwahrung; diese ißt die Frucht auf und gibt dem Mädchen dafür eine
Nadel, für die Nadel tauscht es vom Vater eine Axt ein, für diese von einigen
Knaben Honig, für den Honig von einem alten Weibe Negerkorn, für das Korn
von einigen Pfauen Federn. Jedesmal, wenn das Mädchen den geliehenen
Gegenstand zurückfordert, ist er verzehrt oder zerbrochen. So kommt denn am
Ende die lange Klage des Kindes zustande. „Warum habt ihr meine Federn
zerbrochen, die ich von den Pfauen bekommen hatte, die mein Negerkorn ver¬
zehrt hatten, das ich von dem alten Weibe erhalten hatte, das meinen Honig
aß, den mir die Kinder gegeben hatten, die meine Axt zerbrachen, die ein Ge¬
schenk war von meinem Vater, der meine Nadel zerbrochen hat, die mir meine
Mutter gab, die meine Eingui gegessen hat, die ich für mich von unserm Baume
gepflückt habe?" Wer fühlt sich hierbei nicht von ferne an unsern Schwank
vom Läuschen und vom Flöhchen erinnert, das Grimm in Kassel aufgezeichnet
hatte (Ur. 30)? Ein Läuschen und ein Flöhchen lebten zusammen und branden
Bier in einer Eierschale. Da fiel das Läuschen hinein und verbrühte sich.
Darüber fing das Flöhchen laut an zu schreien. Da sprach die kleine Stuben¬
tür: „Was schreist du, Flöhchen?" „Weil Läuschen sich verbrannt hat." Da
sing die Tür an zu knarren. Da sprach ein Besenchen in der Ecke: „Was
knarrst du, Türchen?" „Soll ich nicht knarren? Läuschen hat sich verbrannt,
Flöhchen weint." Nacheinander mischen sich dann noch ein Wägelchen, das
Mistchen, das Bäumchen ein, bis am Ende folgende Kette entsteht:


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[0211] Negermärchen Nur eine, die sich undankbar erwiesen hatte, behielt er zurück Alsbald erreichen dann die Mädchen ihre Verwandten wieder. Ein zweites Märchen, das Kind und der Regen (Ur. 18), beruht ebenfalls von Anfang bis zu Ende auf ein¬ heimischen Vorstellungen. Es berichtet, daß sich in einer dürren Zeit einstmals Kinder mit Spielen vergnügten. Eins von ihnen schlug vor, daß alle Kinder Wasserköpfe herbeiholen und in einem Kreise aufstellen sollten. Nachdem dies geschehn war, stellte es sich in die Mitte und schaute gen Himmel, wo sich alsobald einige Wolken zusammenballten und Tropfen fallen ließen, die aber nur in die Kochtöpfe hineinsielen. Das Kind wird vor den Sultan geführt, in dessen Gegenwart es einen Wolkenbruch herbeizaubert und unter Donner und Blitz in den Wolken verschwindet. Man sieht, daß das Wunderbare in diesem Märchen auf dem allen Negern gemeinsamen Regenglauben beruht. Eine besondre Klasse bilden sieben Kettenmärchen, die sich in ähnlicher Form auch bei den meisten europäischen Völkern finden. Das Wesen dieser Märchen be¬ steht darin, daß der Bericht einer Reihe gleichartiger Erlebnisse (im vorliegenden Falle das mehrfach wiederholte Eintauschen eines Gegenstandes gegen einen andern) kettenartig aneinandergebunden wird zu einem immer länger werdenden Satz. So findet nach dem Märchen Ur. 53 ein Kind eine Frucht und gibt sie der Mutter zur Verwahrung; diese ißt die Frucht auf und gibt dem Mädchen dafür eine Nadel, für die Nadel tauscht es vom Vater eine Axt ein, für diese von einigen Knaben Honig, für den Honig von einem alten Weibe Negerkorn, für das Korn von einigen Pfauen Federn. Jedesmal, wenn das Mädchen den geliehenen Gegenstand zurückfordert, ist er verzehrt oder zerbrochen. So kommt denn am Ende die lange Klage des Kindes zustande. „Warum habt ihr meine Federn zerbrochen, die ich von den Pfauen bekommen hatte, die mein Negerkorn ver¬ zehrt hatten, das ich von dem alten Weibe erhalten hatte, das meinen Honig aß, den mir die Kinder gegeben hatten, die meine Axt zerbrachen, die ein Ge¬ schenk war von meinem Vater, der meine Nadel zerbrochen hat, die mir meine Mutter gab, die meine Eingui gegessen hat, die ich für mich von unserm Baume gepflückt habe?" Wer fühlt sich hierbei nicht von ferne an unsern Schwank vom Läuschen und vom Flöhchen erinnert, das Grimm in Kassel aufgezeichnet hatte (Ur. 30)? Ein Läuschen und ein Flöhchen lebten zusammen und branden Bier in einer Eierschale. Da fiel das Läuschen hinein und verbrühte sich. Darüber fing das Flöhchen laut an zu schreien. Da sprach die kleine Stuben¬ tür: „Was schreist du, Flöhchen?" „Weil Läuschen sich verbrannt hat." Da sing die Tür an zu knarren. Da sprach ein Besenchen in der Ecke: „Was knarrst du, Türchen?" „Soll ich nicht knarren? Läuschen hat sich verbrannt, Flöhchen weint." Nacheinander mischen sich dann noch ein Wägelchen, das Mistchen, das Bäumchen ein, bis am Ende folgende Kette entsteht:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/211>, abgerufen am 27.09.2024.