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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Der Zweikampf bei Goethe

Welt aus eigner Kraft zur deutschen Muttererde zurück. Mit Staunen sehen
wir in griechischem Gewände deutsche Landschaft, deutsche Sitte lind eine
deutsch empfindende Frauenseele, die Roheit, Gewalt und List der Männer
bändigt und sie zu edlerer Sitte führt. Orestes will für seine und des Pylades
Freiheit, aber auch für die Einführung des Gastrechts nach griechischer Sitte
sein Leben wagen. Darum fordert er (V, 6) vom Könige Thoas, er möge
aus der Zahl der Edeln den besten auswählen und ihm gegenüberstellen,
soweit die Erde Heldensöhne nähre, sei keinem Fremdling dieses Gesuch ver¬
weigert worden. Thoas erwidert stolz, die Zahl der edeln und tapfern Männer
in seiner Begleitung sei groß, aber er selbst stehe noch dem Feinde und sei
bereit, mit ihm das Los der Waffen zu wagen. Iphigenie sucht den Kampf
zu verhüten. Die griechische Priesterin, die sich allein durch Wahrheit und
Liebe leiten läßt, bannt Zorn und mißverstcmdnes Ehrgefühl der streitenden
Männer, sie weckt die edlern Triebe der kampfbereiten Gegner und ruft ihnen
aus der Tiefe ihres reinen Herzens die Worte zu, die heute und für alle
Zeiten gelten: Der rasche Kampf verewigt einen Mann;
Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
Allein die Tränen, die unendlichen
Der überbliebnen, der verlaßnen Frau
Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt
Von tausend durchgemachten Tag- und Nächten,
Wo eine stille Seele den Verlornen,
Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich
Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.

Thoas ist bereit, den Zorn in seiner Brust zu bändigen, aber seine Vor¬
urteile nicht. Die Fremden sind nach Tauris gekommen, um das heilige Bild
der Göttin zu rauben, das fordert die Entscheidung der Waffen heraus. Erst
dann, als Orest erkennt, daß die Schwester, die der Orakelspruch des Gottes
meint, nicht Diana, sondern seine eigne Schwester Iphigenie ist, reicht Thoas
die Hand zur Versöhnung.

Im Torquato Tasso wünscht die Prinzessin, daß Tasso mit Antonio
Freundschaft schließe. Sie läßt bei diesem Wunsche die Verschiedenartigkeit
ihrer Naturen unberücksichtigt und stellt damit eine Forderung auf, die Un¬
mögliches verlangt und zum dramatischen Konflikt führen muß. Antonio er¬
kennt bei seiner Rückkehr nach Ferrara, daß Tasso ihn in der Gunst des
Fürsten und der beiden Frauen überholt hat. Der Neid treibt ihn, das
stürmische Werben Tassos um seine Freundschaft zurückzuweise". Er reizt ihn
dadurch, daß er an alle Worte Tassos einen guten Rat oder eine Zurecht¬
weisung knüpft, spricht von der Unmäßigkeit des Herzogs in seinen Be¬
lohnungen, von der Kühnheit des Jünglings, sich neben die großen Meister
der Vorzeit zu stellen, und nennt ihn sogar unsittlich, d. h. er wirft ihm
Mangel an Takt und richtigem Gefühle vor, weil sich Freundschaft nicht er¬
zwingen lasse. Zuletzt erklärt Tasso, den Schimpf nicht länger ertragen zu
können, und zieht unter Verletzung des Burgfriedens im Palast des Fürsten
den Degen. Der Herzog findet die Streitenden in dieser Lage und erklärt
zunächst zu Tasso gewandt:


Der Zweikampf bei Goethe

Welt aus eigner Kraft zur deutschen Muttererde zurück. Mit Staunen sehen
wir in griechischem Gewände deutsche Landschaft, deutsche Sitte lind eine
deutsch empfindende Frauenseele, die Roheit, Gewalt und List der Männer
bändigt und sie zu edlerer Sitte führt. Orestes will für seine und des Pylades
Freiheit, aber auch für die Einführung des Gastrechts nach griechischer Sitte
sein Leben wagen. Darum fordert er (V, 6) vom Könige Thoas, er möge
aus der Zahl der Edeln den besten auswählen und ihm gegenüberstellen,
soweit die Erde Heldensöhne nähre, sei keinem Fremdling dieses Gesuch ver¬
weigert worden. Thoas erwidert stolz, die Zahl der edeln und tapfern Männer
in seiner Begleitung sei groß, aber er selbst stehe noch dem Feinde und sei
bereit, mit ihm das Los der Waffen zu wagen. Iphigenie sucht den Kampf
zu verhüten. Die griechische Priesterin, die sich allein durch Wahrheit und
Liebe leiten läßt, bannt Zorn und mißverstcmdnes Ehrgefühl der streitenden
Männer, sie weckt die edlern Triebe der kampfbereiten Gegner und ruft ihnen
aus der Tiefe ihres reinen Herzens die Worte zu, die heute und für alle
Zeiten gelten: Der rasche Kampf verewigt einen Mann;
Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
Allein die Tränen, die unendlichen
Der überbliebnen, der verlaßnen Frau
Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt
Von tausend durchgemachten Tag- und Nächten,
Wo eine stille Seele den Verlornen,
Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich
Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.

Thoas ist bereit, den Zorn in seiner Brust zu bändigen, aber seine Vor¬
urteile nicht. Die Fremden sind nach Tauris gekommen, um das heilige Bild
der Göttin zu rauben, das fordert die Entscheidung der Waffen heraus. Erst
dann, als Orest erkennt, daß die Schwester, die der Orakelspruch des Gottes
meint, nicht Diana, sondern seine eigne Schwester Iphigenie ist, reicht Thoas
die Hand zur Versöhnung.

Im Torquato Tasso wünscht die Prinzessin, daß Tasso mit Antonio
Freundschaft schließe. Sie läßt bei diesem Wunsche die Verschiedenartigkeit
ihrer Naturen unberücksichtigt und stellt damit eine Forderung auf, die Un¬
mögliches verlangt und zum dramatischen Konflikt führen muß. Antonio er¬
kennt bei seiner Rückkehr nach Ferrara, daß Tasso ihn in der Gunst des
Fürsten und der beiden Frauen überholt hat. Der Neid treibt ihn, das
stürmische Werben Tassos um seine Freundschaft zurückzuweise». Er reizt ihn
dadurch, daß er an alle Worte Tassos einen guten Rat oder eine Zurecht¬
weisung knüpft, spricht von der Unmäßigkeit des Herzogs in seinen Be¬
lohnungen, von der Kühnheit des Jünglings, sich neben die großen Meister
der Vorzeit zu stellen, und nennt ihn sogar unsittlich, d. h. er wirft ihm
Mangel an Takt und richtigem Gefühle vor, weil sich Freundschaft nicht er¬
zwingen lasse. Zuletzt erklärt Tasso, den Schimpf nicht länger ertragen zu
können, und zieht unter Verletzung des Burgfriedens im Palast des Fürsten
den Degen. Der Herzog findet die Streitenden in dieser Lage und erklärt
zunächst zu Tasso gewandt:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/205>, abgerufen am 27.09.2024.