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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Richter im Spiegel der Kritik

iinige halten ihn geradezu für dumm; Wohlmeinendere für para¬
graphenkundig, aber haarspaltend; die meisten für ein leidlich ge¬
lehrtes Tier, das am grünen Tische der Schreibstube statt auf
grüner Flur des praktische" Lebens weidet, unbewandert in den
Gebräuchen des Verkehrs und fremd gegenüber seinen Bedürf¬
nissen. Das ist der Eindruck von der Wertschätzung des deutschen Richters
bei seinen lieben Mitbürgern, den man erhält, wenn man die Urteile über
seine Urteile in den Zeitungen liest und an der Bierbank hört. Der Richter
schweigt hierzu. Es ist nicht jedermanns Sache, sich gegen den Vorwurf der
Beschränktheit zu verteidigen. Er weiß, alle diese Urteile beruhen ja zum
großen Teil auf Mißverständnissen, gründen sich auf irrige Berichte der Zei¬
tungschreiber oder richten sich in Wahrheit gegen die Bestimmungen des Ge¬
setzes selbst, nicht gegen die, die nur berufen sind, es anzuwenden. Wie wurde
zum Beispiel das Reichsgericht verhöhnt, als es seinerzeit die Entziehung des
elektrischen Stroms nicht als Diebstahl anerkannte. Und warum? Weil die
meisten daraus den falschen Schluß zogen, daß nun überhaupt diese Entziehung
erlaubt sei, und dem Verletzten nicht einmal ein Entschädigungsanspruch zustehe.
Ich sehe noch das erstaunte Gesicht des Mannes, der weidlich darüber ge¬
schimpft hatte, als ich ihn über seinen Irrtum aufklärte. Und es war ein
Studierter Mann. Vielleicht wäre es oft besser, wenn in ähnlichen Fällen
weniger vornehme Zurückhaltung vou den Richtern geübt und verstündige Auf
klärung gegeben würde. Denn es ist nicht gleichgiltig, wie das Volk über
die Richtigkeit der Sprüche seiner Richter denkt. Doch die deutschen Richter
trösteten sich bisher mit dem Bewußtsein, streng ihre Pflicht zu tun, und wem,
nicht ihre geistigen Leistungen, so doch ihre Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue
anerkannt zu wissen.

Jetzt ist es unternommen worden, auch diese ihnen abzusprechen, ihnen
Rechtsbeugung und Pflichtvergessenheit vorzuwerfen. Da wäre Schweigen
Schwäche. Nicht nur die persönliche Ehre der deutschen Richter fordert, diesen
Vorwürfen ins Auge zu sehen. Würde sich die Meinung festsetzen, daß sie
berechtigt seien, so wäre die Rechtsordnung und mit ihr der Bestand des
Staates aufs schwerste gefährdet. Wer diese Vorwürfe gegen die deutschen


Grenzboten III 190ü 22


Der deutsche Richter im Spiegel der Kritik

iinige halten ihn geradezu für dumm; Wohlmeinendere für para¬
graphenkundig, aber haarspaltend; die meisten für ein leidlich ge¬
lehrtes Tier, das am grünen Tische der Schreibstube statt auf
grüner Flur des praktische» Lebens weidet, unbewandert in den
Gebräuchen des Verkehrs und fremd gegenüber seinen Bedürf¬
nissen. Das ist der Eindruck von der Wertschätzung des deutschen Richters
bei seinen lieben Mitbürgern, den man erhält, wenn man die Urteile über
seine Urteile in den Zeitungen liest und an der Bierbank hört. Der Richter
schweigt hierzu. Es ist nicht jedermanns Sache, sich gegen den Vorwurf der
Beschränktheit zu verteidigen. Er weiß, alle diese Urteile beruhen ja zum
großen Teil auf Mißverständnissen, gründen sich auf irrige Berichte der Zei¬
tungschreiber oder richten sich in Wahrheit gegen die Bestimmungen des Ge¬
setzes selbst, nicht gegen die, die nur berufen sind, es anzuwenden. Wie wurde
zum Beispiel das Reichsgericht verhöhnt, als es seinerzeit die Entziehung des
elektrischen Stroms nicht als Diebstahl anerkannte. Und warum? Weil die
meisten daraus den falschen Schluß zogen, daß nun überhaupt diese Entziehung
erlaubt sei, und dem Verletzten nicht einmal ein Entschädigungsanspruch zustehe.
Ich sehe noch das erstaunte Gesicht des Mannes, der weidlich darüber ge¬
schimpft hatte, als ich ihn über seinen Irrtum aufklärte. Und es war ein
Studierter Mann. Vielleicht wäre es oft besser, wenn in ähnlichen Fällen
weniger vornehme Zurückhaltung vou den Richtern geübt und verstündige Auf
klärung gegeben würde. Denn es ist nicht gleichgiltig, wie das Volk über
die Richtigkeit der Sprüche seiner Richter denkt. Doch die deutschen Richter
trösteten sich bisher mit dem Bewußtsein, streng ihre Pflicht zu tun, und wem,
nicht ihre geistigen Leistungen, so doch ihre Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue
anerkannt zu wissen.

Jetzt ist es unternommen worden, auch diese ihnen abzusprechen, ihnen
Rechtsbeugung und Pflichtvergessenheit vorzuwerfen. Da wäre Schweigen
Schwäche. Nicht nur die persönliche Ehre der deutschen Richter fordert, diesen
Vorwürfen ins Auge zu sehen. Würde sich die Meinung festsetzen, daß sie
berechtigt seien, so wäre die Rechtsordnung und mit ihr der Bestand des
Staates aufs schwerste gefährdet. Wer diese Vorwürfe gegen die deutschen


Grenzboten III 190ü 22
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[0177] [Abbildung] Der deutsche Richter im Spiegel der Kritik iinige halten ihn geradezu für dumm; Wohlmeinendere für para¬ graphenkundig, aber haarspaltend; die meisten für ein leidlich ge¬ lehrtes Tier, das am grünen Tische der Schreibstube statt auf grüner Flur des praktische» Lebens weidet, unbewandert in den Gebräuchen des Verkehrs und fremd gegenüber seinen Bedürf¬ nissen. Das ist der Eindruck von der Wertschätzung des deutschen Richters bei seinen lieben Mitbürgern, den man erhält, wenn man die Urteile über seine Urteile in den Zeitungen liest und an der Bierbank hört. Der Richter schweigt hierzu. Es ist nicht jedermanns Sache, sich gegen den Vorwurf der Beschränktheit zu verteidigen. Er weiß, alle diese Urteile beruhen ja zum großen Teil auf Mißverständnissen, gründen sich auf irrige Berichte der Zei¬ tungschreiber oder richten sich in Wahrheit gegen die Bestimmungen des Ge¬ setzes selbst, nicht gegen die, die nur berufen sind, es anzuwenden. Wie wurde zum Beispiel das Reichsgericht verhöhnt, als es seinerzeit die Entziehung des elektrischen Stroms nicht als Diebstahl anerkannte. Und warum? Weil die meisten daraus den falschen Schluß zogen, daß nun überhaupt diese Entziehung erlaubt sei, und dem Verletzten nicht einmal ein Entschädigungsanspruch zustehe. Ich sehe noch das erstaunte Gesicht des Mannes, der weidlich darüber ge¬ schimpft hatte, als ich ihn über seinen Irrtum aufklärte. Und es war ein Studierter Mann. Vielleicht wäre es oft besser, wenn in ähnlichen Fällen weniger vornehme Zurückhaltung vou den Richtern geübt und verstündige Auf klärung gegeben würde. Denn es ist nicht gleichgiltig, wie das Volk über die Richtigkeit der Sprüche seiner Richter denkt. Doch die deutschen Richter trösteten sich bisher mit dem Bewußtsein, streng ihre Pflicht zu tun, und wem, nicht ihre geistigen Leistungen, so doch ihre Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue anerkannt zu wissen. Jetzt ist es unternommen worden, auch diese ihnen abzusprechen, ihnen Rechtsbeugung und Pflichtvergessenheit vorzuwerfen. Da wäre Schweigen Schwäche. Nicht nur die persönliche Ehre der deutschen Richter fordert, diesen Vorwürfen ins Auge zu sehen. Würde sich die Meinung festsetzen, daß sie berechtigt seien, so wäre die Rechtsordnung und mit ihr der Bestand des Staates aufs schwerste gefährdet. Wer diese Vorwürfe gegen die deutschen Grenzboten III 190ü 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/177>, abgerufen am 27.09.2024.