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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Unter Unnden, Komödianten und wilden Tieren

waren, dann lüftete der Floßführer den Hut und sprach ein Gebet; wir alle folgten
seinem Beispiel. Überhaupt wurde das Hutabnehmeu und Beten fleißig geübt, es
geschah bei jeder Kirche, die wir passierten. Dafür entschädigte sich der Floßführer
aber in der Zwischenzeit bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit durch
reichliches Fluchen, besonders beim Länder, das jedesmal ein schweres Stück Arbeit
war. Zum erstenmal geschah es am Nachmittag gegen vier Uhr bei Eltville; dort
hatten die beiden Leute, die im Nachen vorausgefahren waren, Halt gemacht und
gaben uns schon aus weiter Entfernung Zeichen. Wir warfen ihnen eine lange
Leine zu, an deren Ende das schwere Halttau befestigt war, das auf der hintern
Schmalseite in Form einer riesigen Rolle lag, und das durch ein Gefüge von
Rundhölzern geleitet und zur Verminderung der Reibung mit Wasser begossen
wurde. Dieses Tau wurde zum Ufer hinübergezogen und dort mehrmals um einen
starken Pfahl gewunden. Darauf wurden die vier "Hunde" (Anker), die an jeder
Ecke des Flosses befestigt waren, ins Wasser geworfen. Es dauerte lange, bis das
Floß still lag. Mit dieser beschwerlichen Arbeit war unser erstes Tagewerk voll¬
bracht, und wir eilten in die Bretterbuden, um uns zu wärmen und an dem Biere,
das in einem eisernen Topf warm gemacht wurde, zu stärken. Nach einer Stunde
gab es ein warmes Abendbrot, das, was Quantität und Qualität anlangte, nichts
zu wünschen übrig ließ. Die Zeit nach dem Abendessen wurde mit Erzählungen
und gemeinsamem Gesänge alter Schifferlieder verkürzt. Andre wußten sich auch
nützlicher zu beschäftigen, so z. B. ein Schneider, dem von der Polizei die "Fleppe"
konfisziert worden war, und der an ihrer Stelle eine sogenannte "Marschroute"
erhalten hatte. Eine solche Marschroute, in Sachsen gewöhnlich die "Grüne" ge¬
nannt, ist unter allen Staatspapieren das am wenigsten erfreuliche. Sie ver¬
pflichtet nämlich den Inhaber, an einem bestimmten Tage wieder in seiner Heimat
zu sein, berechtigt ihn aber auch allerdings dazu, sich bei jedem Ortsvorstand eine
Unterstützung zu holen. Der Schneider hatte keine Lust, sich an die ihm vor-
geschriebue Tour zu binden, sondern trug sich mit dem Gedanken, die ihm ab¬
genommn? "Fleppe" durch eine neue zu ersetzen, deren Beschaffung ihm zwar wenig
Gewissensbisse, aber desto mehr Arbeit machte. Unter der sehr gemischten Gesell¬
schaft der Flößer -- es mochten etwa siebzig Mann sein -- war auch ein ver¬
krachter Kaufmann, der eine schöne Hand schrieb und sich bereit finden ließ, dem
Schneider ein neues Legitimationspapier zu schreiben. Natürlich war dieses Papier
inhaltlich weit schöner, als "Fleppen" gewöhnlich zu sein pflegen. Es dokumen¬
tierte, daß der Inhaber bei den besten Meistern gearbeitet und von ihnen die
wunderbarsten Empfehlungen erhalten hatte. Eine Fleppe ohne "Zinken" (Stempel)
hat aber bekanntlich wenig Wert, und so mußte auch ein glaubwürdiger Stempel
verschafft werden. Auch dafür wußte der Schneider Rat, er hatte sich vorsorglich
ein Stückchen Schiefer mitgebracht, in das er mit einer Stopfnadel beim trüben
Lichte einer Petroleumlampe unter unsäglichen Anstrengungen einen Stempel gra¬
vierte, der, als er nach mehreren Abenden glücklich fertig war, an Schönheit und
Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Mit Hilfe dieses Stempels, der.mit Öl
und Lampenruß angeschwärzt wurde, stellte er dann den vorschriftsmäßigen Zinken
her und konnte nun als ein Mann, dessen Papiere in der besten Ordnung waren,
der Zukunft entgegensehen.

Am zweiten Tage ereignete sich nichts besondres, wir landeten in Geisenheim
und hörten noch an demselben Abend von ein paar alten Kunden, die die Reise
schon mehrmals mitgemacht hatten, daß am andern Tage eine sehr schwere Arbeit
bevorstehe. Am andern Morgen bekamen wir zeitig den Niederwald mit dem
Denkmal zu Gesicht, bald darauf erschien der Mäuseturm, von dessen Flaggenmast
eine weiße Fahne wehte, ein Zeichen für die zu Berg fahrenden Schiffe, daß sie
halten mußten. Wir waren bis gegen halb elf Uhr gefahren, als plötzlich auf dem
vordem Teil des Floßes ein großer Lärm ausbrach, und die Ankerknechte mit einem
armstarken Tau gelaufen kamen, das sie quer über das Floß schleppten und mit


Grenzboten III 1905 13
Unter Unnden, Komödianten und wilden Tieren

waren, dann lüftete der Floßführer den Hut und sprach ein Gebet; wir alle folgten
seinem Beispiel. Überhaupt wurde das Hutabnehmeu und Beten fleißig geübt, es
geschah bei jeder Kirche, die wir passierten. Dafür entschädigte sich der Floßführer
aber in der Zwischenzeit bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit durch
reichliches Fluchen, besonders beim Länder, das jedesmal ein schweres Stück Arbeit
war. Zum erstenmal geschah es am Nachmittag gegen vier Uhr bei Eltville; dort
hatten die beiden Leute, die im Nachen vorausgefahren waren, Halt gemacht und
gaben uns schon aus weiter Entfernung Zeichen. Wir warfen ihnen eine lange
Leine zu, an deren Ende das schwere Halttau befestigt war, das auf der hintern
Schmalseite in Form einer riesigen Rolle lag, und das durch ein Gefüge von
Rundhölzern geleitet und zur Verminderung der Reibung mit Wasser begossen
wurde. Dieses Tau wurde zum Ufer hinübergezogen und dort mehrmals um einen
starken Pfahl gewunden. Darauf wurden die vier „Hunde" (Anker), die an jeder
Ecke des Flosses befestigt waren, ins Wasser geworfen. Es dauerte lange, bis das
Floß still lag. Mit dieser beschwerlichen Arbeit war unser erstes Tagewerk voll¬
bracht, und wir eilten in die Bretterbuden, um uns zu wärmen und an dem Biere,
das in einem eisernen Topf warm gemacht wurde, zu stärken. Nach einer Stunde
gab es ein warmes Abendbrot, das, was Quantität und Qualität anlangte, nichts
zu wünschen übrig ließ. Die Zeit nach dem Abendessen wurde mit Erzählungen
und gemeinsamem Gesänge alter Schifferlieder verkürzt. Andre wußten sich auch
nützlicher zu beschäftigen, so z. B. ein Schneider, dem von der Polizei die „Fleppe"
konfisziert worden war, und der an ihrer Stelle eine sogenannte „Marschroute"
erhalten hatte. Eine solche Marschroute, in Sachsen gewöhnlich die „Grüne" ge¬
nannt, ist unter allen Staatspapieren das am wenigsten erfreuliche. Sie ver¬
pflichtet nämlich den Inhaber, an einem bestimmten Tage wieder in seiner Heimat
zu sein, berechtigt ihn aber auch allerdings dazu, sich bei jedem Ortsvorstand eine
Unterstützung zu holen. Der Schneider hatte keine Lust, sich an die ihm vor-
geschriebue Tour zu binden, sondern trug sich mit dem Gedanken, die ihm ab¬
genommn? „Fleppe" durch eine neue zu ersetzen, deren Beschaffung ihm zwar wenig
Gewissensbisse, aber desto mehr Arbeit machte. Unter der sehr gemischten Gesell¬
schaft der Flößer — es mochten etwa siebzig Mann sein — war auch ein ver¬
krachter Kaufmann, der eine schöne Hand schrieb und sich bereit finden ließ, dem
Schneider ein neues Legitimationspapier zu schreiben. Natürlich war dieses Papier
inhaltlich weit schöner, als „Fleppen" gewöhnlich zu sein pflegen. Es dokumen¬
tierte, daß der Inhaber bei den besten Meistern gearbeitet und von ihnen die
wunderbarsten Empfehlungen erhalten hatte. Eine Fleppe ohne „Zinken" (Stempel)
hat aber bekanntlich wenig Wert, und so mußte auch ein glaubwürdiger Stempel
verschafft werden. Auch dafür wußte der Schneider Rat, er hatte sich vorsorglich
ein Stückchen Schiefer mitgebracht, in das er mit einer Stopfnadel beim trüben
Lichte einer Petroleumlampe unter unsäglichen Anstrengungen einen Stempel gra¬
vierte, der, als er nach mehreren Abenden glücklich fertig war, an Schönheit und
Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Mit Hilfe dieses Stempels, der.mit Öl
und Lampenruß angeschwärzt wurde, stellte er dann den vorschriftsmäßigen Zinken
her und konnte nun als ein Mann, dessen Papiere in der besten Ordnung waren,
der Zukunft entgegensehen.

Am zweiten Tage ereignete sich nichts besondres, wir landeten in Geisenheim
und hörten noch an demselben Abend von ein paar alten Kunden, die die Reise
schon mehrmals mitgemacht hatten, daß am andern Tage eine sehr schwere Arbeit
bevorstehe. Am andern Morgen bekamen wir zeitig den Niederwald mit dem
Denkmal zu Gesicht, bald darauf erschien der Mäuseturm, von dessen Flaggenmast
eine weiße Fahne wehte, ein Zeichen für die zu Berg fahrenden Schiffe, daß sie
halten mußten. Wir waren bis gegen halb elf Uhr gefahren, als plötzlich auf dem
vordem Teil des Floßes ein großer Lärm ausbrach, und die Ankerknechte mit einem
armstarken Tau gelaufen kamen, das sie quer über das Floß schleppten und mit


Grenzboten III 1905 13
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/105>, abgerufen am 27.09.2024.