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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Unter Runden, Romödiantcn und wilden Tieren

dichtes schwarzes Haar. Das Mädchen weckte den Meister, der großen Lärm machte,
worauf zuerst der Bayer und dann auch ich kündigten. Wir gingen zunächst nach
Frankfurt a. M. auf die Herberge, wohin mir der Hefeumnnn meinen Koffer brachte.
Ich benutzte den Aufenthalt in Frankfurt, mir die Sehenswürdigkeiten der alten
Krönungsstadt anzusehen, besah mir den Römer, das Zoologische Museum usw. und
machte, da ich meine Absicht, nach Wiesbaden zu gehn, wegen der vom Hochwasser
überschwemmten Straße nicht sobald verwirklichen konnte, Schulden.

Meinen Vorsatz, nach Wiesbaden zu gehn, verwirklichte ich aber doch, und
ich hielt mich einige Tage in der berühmten Bäderstadt auf. Von Wiesbaden
wanderte ich nach Mainz und ging dort auf die Herberge. In Mainz war wenig
zu holen, die Leute hatten unter dem Hochwasser gelitten, die Geschäfte lagen da¬
nieder, und darunter hatten auch wir Kunden zu leiden. Als ich am Abend mit
viel "Kohldampf" (Hunger) und ohne einen Poscher Kies in der Tasche in der
Herberge saß, trat plötzlich ein großer starker Mann ein, der erklärte, er brauche
zwanzig Leute. Ich war einer der ersten, der sich erhob, und fragte, wozu er Ar¬
beiter brauche. Er sagte, daß er Leute zur Bedienung des Floßes suche, das auf
der andern Rheinseite liege und am nächsten Morgen die Fahrt zu Tal (rhein-
abwärts) antreten solle. Nicht weniger als achtzehn Mann, darunter auch ich, er¬
klärten sich bereit, mit ihm zu gehn und die Reise auf dem Floß anzutreten. Der
Mann bezahlte für jeden noch ein Glas Bier und hieß uns dann ihm folgen.
Wir gingen über die Pontonbrücke nach Kastell und dort eine große Strecke lang
rheinabwärts. Plötzlich blieb der Mann stehn und pfiff auf den Fingern. Trotz
der Dunkelheit sahen wir, wie scheinbar von der Mitte des Stromes ein Boot
herankam und an der Stelle, wo wir standen, anlegte. Wir stiegen ein und wurden
zum Floß hinübergebracht. Das Floß, das aus riesigen Fichtenstämmen bestand,
die durch gedrehte Fichtenzweige miteinander verkoppelt waren, mochte eine Länge
von zweihundert, eine Breite von siebzig Metern haben. An den beiden Schmal¬
seiten waren lange Bretterflöße aufgeschichtet, auf denen die "Lappen" (Ruder)
lagen; es waren lange Bäume, an deren unterm Ende noch Bretter aufgenagelt
waren. Auf dem Floß standen vier Bretterhäuser, deren eines als Küche diente.
Hier lagen auch die Lebensmittel für die Bemannung, darunter ein ganzer Ochse
und acht Tonnen Bier. Die andern Häuser dienten als Schlafräume, waren mit
Strohlagern und Kanonenöfen ausgestattet, und einer wies sogar ein paar Betten
auf. Gleich nach unsrer Ankunft wurden wir mit mächtigen Portionen Reis und
Rindfleisch bewirtet und erhielten Bier, soviel wir trinken wollten. Das galt auch
für die ganze Reise, Schnaps und Kaffee mußten wir jedoch bezahlen. Am andern
Morgen, als es hell wurde, weckte man uns und rief uns zum Kaffee. Dann be¬
stiegen zwei Mann den Nachen, der uns zum Floß herübergebracht hatte, und
fuhren eine halbe Stunde voraus, um den zu Berg fahrenden Schiffen das Signal
zum Ausweichen zu geben, das Ausführen der Schiffbrücken zu veranlassen und
rechtzeitig eine Landungsstelle zu suchen. Gegen acht Uhr wurden wir an die
"Lappen" gerufen, deren jeder von acht Mann bedient wurde. In der Nacht
-- es war schon im Dezember -- hatte es gereift, die Stämme waren infolge¬
dessen so glatt, daß man nur mit Vorsicht darauf gehn konnte. Einer von uns,
ein Fleischer aus Sachsen, glitt aus und verschwand in einem Loche zwischen den
Stämmen. Zum Glück war ich unmittelbar hinter ihm, griff ihn bei den Haaren
und zog ihn aus dem eiskalten Wasser. Der arme Teufel hatte keine Zeit, seine
Kleider zu trocknen, sondern mußte, naß wie er war, an die Arbeit gehn. Der
Floßführer bestieg die Kommandobrücke, das Fesselseil wurde gelöst, und die "Hunde"
(Anker) gelichtet. Das Floß setzte sich langsam in Bewegung und wurde in die
Mitte der Strömung dirigiert, wobei der Floßführer die Kommandos durch Arm¬
bewegungen gab, die wir genau beobachten und durch den Ruf "Hesseland" (nach
rechts) und "Frankreich" (nach links) bestätigen mußten. Als das Floß richtig
trieb, wurden die "Lappen" hochgezogen und eingehängt, sodaß sie außer Wasser


Unter Runden, Romödiantcn und wilden Tieren

dichtes schwarzes Haar. Das Mädchen weckte den Meister, der großen Lärm machte,
worauf zuerst der Bayer und dann auch ich kündigten. Wir gingen zunächst nach
Frankfurt a. M. auf die Herberge, wohin mir der Hefeumnnn meinen Koffer brachte.
Ich benutzte den Aufenthalt in Frankfurt, mir die Sehenswürdigkeiten der alten
Krönungsstadt anzusehen, besah mir den Römer, das Zoologische Museum usw. und
machte, da ich meine Absicht, nach Wiesbaden zu gehn, wegen der vom Hochwasser
überschwemmten Straße nicht sobald verwirklichen konnte, Schulden.

Meinen Vorsatz, nach Wiesbaden zu gehn, verwirklichte ich aber doch, und
ich hielt mich einige Tage in der berühmten Bäderstadt auf. Von Wiesbaden
wanderte ich nach Mainz und ging dort auf die Herberge. In Mainz war wenig
zu holen, die Leute hatten unter dem Hochwasser gelitten, die Geschäfte lagen da¬
nieder, und darunter hatten auch wir Kunden zu leiden. Als ich am Abend mit
viel „Kohldampf" (Hunger) und ohne einen Poscher Kies in der Tasche in der
Herberge saß, trat plötzlich ein großer starker Mann ein, der erklärte, er brauche
zwanzig Leute. Ich war einer der ersten, der sich erhob, und fragte, wozu er Ar¬
beiter brauche. Er sagte, daß er Leute zur Bedienung des Floßes suche, das auf
der andern Rheinseite liege und am nächsten Morgen die Fahrt zu Tal (rhein-
abwärts) antreten solle. Nicht weniger als achtzehn Mann, darunter auch ich, er¬
klärten sich bereit, mit ihm zu gehn und die Reise auf dem Floß anzutreten. Der
Mann bezahlte für jeden noch ein Glas Bier und hieß uns dann ihm folgen.
Wir gingen über die Pontonbrücke nach Kastell und dort eine große Strecke lang
rheinabwärts. Plötzlich blieb der Mann stehn und pfiff auf den Fingern. Trotz
der Dunkelheit sahen wir, wie scheinbar von der Mitte des Stromes ein Boot
herankam und an der Stelle, wo wir standen, anlegte. Wir stiegen ein und wurden
zum Floß hinübergebracht. Das Floß, das aus riesigen Fichtenstämmen bestand,
die durch gedrehte Fichtenzweige miteinander verkoppelt waren, mochte eine Länge
von zweihundert, eine Breite von siebzig Metern haben. An den beiden Schmal¬
seiten waren lange Bretterflöße aufgeschichtet, auf denen die „Lappen" (Ruder)
lagen; es waren lange Bäume, an deren unterm Ende noch Bretter aufgenagelt
waren. Auf dem Floß standen vier Bretterhäuser, deren eines als Küche diente.
Hier lagen auch die Lebensmittel für die Bemannung, darunter ein ganzer Ochse
und acht Tonnen Bier. Die andern Häuser dienten als Schlafräume, waren mit
Strohlagern und Kanonenöfen ausgestattet, und einer wies sogar ein paar Betten
auf. Gleich nach unsrer Ankunft wurden wir mit mächtigen Portionen Reis und
Rindfleisch bewirtet und erhielten Bier, soviel wir trinken wollten. Das galt auch
für die ganze Reise, Schnaps und Kaffee mußten wir jedoch bezahlen. Am andern
Morgen, als es hell wurde, weckte man uns und rief uns zum Kaffee. Dann be¬
stiegen zwei Mann den Nachen, der uns zum Floß herübergebracht hatte, und
fuhren eine halbe Stunde voraus, um den zu Berg fahrenden Schiffen das Signal
zum Ausweichen zu geben, das Ausführen der Schiffbrücken zu veranlassen und
rechtzeitig eine Landungsstelle zu suchen. Gegen acht Uhr wurden wir an die
„Lappen" gerufen, deren jeder von acht Mann bedient wurde. In der Nacht
— es war schon im Dezember — hatte es gereift, die Stämme waren infolge¬
dessen so glatt, daß man nur mit Vorsicht darauf gehn konnte. Einer von uns,
ein Fleischer aus Sachsen, glitt aus und verschwand in einem Loche zwischen den
Stämmen. Zum Glück war ich unmittelbar hinter ihm, griff ihn bei den Haaren
und zog ihn aus dem eiskalten Wasser. Der arme Teufel hatte keine Zeit, seine
Kleider zu trocknen, sondern mußte, naß wie er war, an die Arbeit gehn. Der
Floßführer bestieg die Kommandobrücke, das Fesselseil wurde gelöst, und die „Hunde"
(Anker) gelichtet. Das Floß setzte sich langsam in Bewegung und wurde in die
Mitte der Strömung dirigiert, wobei der Floßführer die Kommandos durch Arm¬
bewegungen gab, die wir genau beobachten und durch den Ruf „Hesseland" (nach
rechts) und „Frankreich" (nach links) bestätigen mußten. Als das Floß richtig
trieb, wurden die „Lappen" hochgezogen und eingehängt, sodaß sie außer Wasser


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[0104] Unter Runden, Romödiantcn und wilden Tieren dichtes schwarzes Haar. Das Mädchen weckte den Meister, der großen Lärm machte, worauf zuerst der Bayer und dann auch ich kündigten. Wir gingen zunächst nach Frankfurt a. M. auf die Herberge, wohin mir der Hefeumnnn meinen Koffer brachte. Ich benutzte den Aufenthalt in Frankfurt, mir die Sehenswürdigkeiten der alten Krönungsstadt anzusehen, besah mir den Römer, das Zoologische Museum usw. und machte, da ich meine Absicht, nach Wiesbaden zu gehn, wegen der vom Hochwasser überschwemmten Straße nicht sobald verwirklichen konnte, Schulden. Meinen Vorsatz, nach Wiesbaden zu gehn, verwirklichte ich aber doch, und ich hielt mich einige Tage in der berühmten Bäderstadt auf. Von Wiesbaden wanderte ich nach Mainz und ging dort auf die Herberge. In Mainz war wenig zu holen, die Leute hatten unter dem Hochwasser gelitten, die Geschäfte lagen da¬ nieder, und darunter hatten auch wir Kunden zu leiden. Als ich am Abend mit viel „Kohldampf" (Hunger) und ohne einen Poscher Kies in der Tasche in der Herberge saß, trat plötzlich ein großer starker Mann ein, der erklärte, er brauche zwanzig Leute. Ich war einer der ersten, der sich erhob, und fragte, wozu er Ar¬ beiter brauche. Er sagte, daß er Leute zur Bedienung des Floßes suche, das auf der andern Rheinseite liege und am nächsten Morgen die Fahrt zu Tal (rhein- abwärts) antreten solle. Nicht weniger als achtzehn Mann, darunter auch ich, er¬ klärten sich bereit, mit ihm zu gehn und die Reise auf dem Floß anzutreten. Der Mann bezahlte für jeden noch ein Glas Bier und hieß uns dann ihm folgen. Wir gingen über die Pontonbrücke nach Kastell und dort eine große Strecke lang rheinabwärts. Plötzlich blieb der Mann stehn und pfiff auf den Fingern. Trotz der Dunkelheit sahen wir, wie scheinbar von der Mitte des Stromes ein Boot herankam und an der Stelle, wo wir standen, anlegte. Wir stiegen ein und wurden zum Floß hinübergebracht. Das Floß, das aus riesigen Fichtenstämmen bestand, die durch gedrehte Fichtenzweige miteinander verkoppelt waren, mochte eine Länge von zweihundert, eine Breite von siebzig Metern haben. An den beiden Schmal¬ seiten waren lange Bretterflöße aufgeschichtet, auf denen die „Lappen" (Ruder) lagen; es waren lange Bäume, an deren unterm Ende noch Bretter aufgenagelt waren. Auf dem Floß standen vier Bretterhäuser, deren eines als Küche diente. Hier lagen auch die Lebensmittel für die Bemannung, darunter ein ganzer Ochse und acht Tonnen Bier. Die andern Häuser dienten als Schlafräume, waren mit Strohlagern und Kanonenöfen ausgestattet, und einer wies sogar ein paar Betten auf. Gleich nach unsrer Ankunft wurden wir mit mächtigen Portionen Reis und Rindfleisch bewirtet und erhielten Bier, soviel wir trinken wollten. Das galt auch für die ganze Reise, Schnaps und Kaffee mußten wir jedoch bezahlen. Am andern Morgen, als es hell wurde, weckte man uns und rief uns zum Kaffee. Dann be¬ stiegen zwei Mann den Nachen, der uns zum Floß herübergebracht hatte, und fuhren eine halbe Stunde voraus, um den zu Berg fahrenden Schiffen das Signal zum Ausweichen zu geben, das Ausführen der Schiffbrücken zu veranlassen und rechtzeitig eine Landungsstelle zu suchen. Gegen acht Uhr wurden wir an die „Lappen" gerufen, deren jeder von acht Mann bedient wurde. In der Nacht — es war schon im Dezember — hatte es gereift, die Stämme waren infolge¬ dessen so glatt, daß man nur mit Vorsicht darauf gehn konnte. Einer von uns, ein Fleischer aus Sachsen, glitt aus und verschwand in einem Loche zwischen den Stämmen. Zum Glück war ich unmittelbar hinter ihm, griff ihn bei den Haaren und zog ihn aus dem eiskalten Wasser. Der arme Teufel hatte keine Zeit, seine Kleider zu trocknen, sondern mußte, naß wie er war, an die Arbeit gehn. Der Floßführer bestieg die Kommandobrücke, das Fesselseil wurde gelöst, und die „Hunde" (Anker) gelichtet. Das Floß setzte sich langsam in Bewegung und wurde in die Mitte der Strömung dirigiert, wobei der Floßführer die Kommandos durch Arm¬ bewegungen gab, die wir genau beobachten und durch den Ruf „Hesseland" (nach rechts) und „Frankreich" (nach links) bestätigen mußten. Als das Floß richtig trieb, wurden die „Lappen" hochgezogen und eingehängt, sodaß sie außer Wasser

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/104>, abgerufen am 27.09.2024.