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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

Gotha, der "Kahlenberg" bei Zug und Luzern, ja vielleicht auch der weit¬
berühmte "Kohlenberg" bei Basel. Ebenso hat man das " Galgentor" (z. B.
noch in Nürnberg) in ein "Kalktor" (so in Zeitz) oder in ein "Gallnstor"
(so in Frankfurt um Main), die Galgcngasse in eine "Gallusgcisse" (Frank¬
furt am Main) umgewandelt. Mit dem "Gallenfett" für Galgenfeld, d. h. das
Grundstück, worauf sich der Galgen befand, ist endlich wohl auch der nicht seltene
Familienname Gallenkamp verwandt.

(Fortsetzung folgt)




Der Marquis von Marigny
Julius R. Haarhaus Line Lmigrcintengeschichtc von
(Fortsetzung)
12

adame Haßlacher hatte sogleich nach Marlgnys Abreise das "Atelier"
ihres Seligen einer gründlichen Reinigung unterworfen und dann
wieder den Äpfeln eingeräumt. Aber es schien beinahe, als ob sich
die schonen Renetten, Kalvillen und Schlotterkerne in diesen bösen
Zeitläuften ihres alten Domizils nicht mehr erfreuen sollten, denn
kaum hatten sie den Raum mit ihrem feinen Duft erfüllt, so erschien
ein österreichischer Quartiermacher, um ihn sür vier oder fünf blessierte Rotmttntler
in Anspruch zu nehmen. Diese Gefahr wurde zwar zum Glück noch einmal ab¬
gewandt, denn die Wittib erinnerte sich rechtzeitig ihrer Beziehungen zum kurfürst¬
lichen Hofe, rannte in ihrer Herzensangst zum Kapnuncustopfer Schickhausen und
ersuchte ihn, auf dem schon oft begangnen Instanzenwege für ihre Befreiung von
der Last einer Einquartierung zu wirken. Ein paar Körbe der besten Apfel, an
den Hcmptstatiouen des gedachten Wegs zurückgelassen, taten ein übriges, und so
erhielt die wackre Frau denn noch vor dem Eintreffen der Österreicher ein vom
Rate ausgefertigtes und gesiegeltes Zertifikat, worin zu lesen stand, daß sie als
alleinstehende Wittib mit Einquartierung zu verschonen und berechtigt sei, die ihr
zugedachten Soldaten an das Kartäuserkloster zu verweisen.

Trotz eines solchen Schutzbriefs fühlte sie sich aber nicht ganz sicher. Sie
hatte die Erfahrung gemacht, daß in Kriegszeiten Papier wenig gilt, und daß
Militärbehörden die Verfügungen eines hochweisen Magistrats nicht immer respek¬
tieren. Deshalb konnte sie sich, wenn sie allmorgentlich die stark gelichteten Reihen
ihrer Äpfel musterte, eiues bangen Gefühls nicht erwehren.

Heute weinte die Wittib, zwischen deu Strohschütten stehend, sogar helle
Tränen. Aber diese galten nicht den gefährdeten Früchten, sondern dem bisherigen
Inhaber der Mansardenwohnung, der, wie sie soeben von einer Nachbarin, der
Waschfrau des PostHalters Barth, vernommen hatte, vor einer Woche in Trier
eines gewaltsamen Todes verblichen war. Wenn Marigny nur auf ihre War¬
nungen gehört hätte! Sie war nur eine einfache Bürgersfrau, aber daß die Reise
ihres Franzosen ein Ende mit Schrecken nehmen würde, das hatte sie gleich ge¬
ahnt! Nun war er tot. von Meuchelmördern in dunkler Nacht hingemordet in
eiuer Stadt, wo ihn niemand kannte, niemand eine Seelenmesse für ihn lesen
lassen würde!

Sie wählte die größte und schönste Renette aus, um sie zur eignen Tröstung
zu verzehren und so wenigstens einen bescheidnen Leichenschmaus zu Ehren des
Verstorbnen zu veranstalten. Dabei entdeckte sie ein paar faule Apfel, die sie nicht


Der Marquis von Marigny

Gotha, der „Kahlenberg" bei Zug und Luzern, ja vielleicht auch der weit¬
berühmte „Kohlenberg" bei Basel. Ebenso hat man das „ Galgentor" (z. B.
noch in Nürnberg) in ein „Kalktor" (so in Zeitz) oder in ein „Gallnstor"
(so in Frankfurt um Main), die Galgcngasse in eine „Gallusgcisse" (Frank¬
furt am Main) umgewandelt. Mit dem „Gallenfett" für Galgenfeld, d. h. das
Grundstück, worauf sich der Galgen befand, ist endlich wohl auch der nicht seltene
Familienname Gallenkamp verwandt.

(Fortsetzung folgt)




Der Marquis von Marigny
Julius R. Haarhaus Line Lmigrcintengeschichtc von
(Fortsetzung)
12

adame Haßlacher hatte sogleich nach Marlgnys Abreise das „Atelier"
ihres Seligen einer gründlichen Reinigung unterworfen und dann
wieder den Äpfeln eingeräumt. Aber es schien beinahe, als ob sich
die schonen Renetten, Kalvillen und Schlotterkerne in diesen bösen
Zeitläuften ihres alten Domizils nicht mehr erfreuen sollten, denn
kaum hatten sie den Raum mit ihrem feinen Duft erfüllt, so erschien
ein österreichischer Quartiermacher, um ihn sür vier oder fünf blessierte Rotmttntler
in Anspruch zu nehmen. Diese Gefahr wurde zwar zum Glück noch einmal ab¬
gewandt, denn die Wittib erinnerte sich rechtzeitig ihrer Beziehungen zum kurfürst¬
lichen Hofe, rannte in ihrer Herzensangst zum Kapnuncustopfer Schickhausen und
ersuchte ihn, auf dem schon oft begangnen Instanzenwege für ihre Befreiung von
der Last einer Einquartierung zu wirken. Ein paar Körbe der besten Apfel, an
den Hcmptstatiouen des gedachten Wegs zurückgelassen, taten ein übriges, und so
erhielt die wackre Frau denn noch vor dem Eintreffen der Österreicher ein vom
Rate ausgefertigtes und gesiegeltes Zertifikat, worin zu lesen stand, daß sie als
alleinstehende Wittib mit Einquartierung zu verschonen und berechtigt sei, die ihr
zugedachten Soldaten an das Kartäuserkloster zu verweisen.

Trotz eines solchen Schutzbriefs fühlte sie sich aber nicht ganz sicher. Sie
hatte die Erfahrung gemacht, daß in Kriegszeiten Papier wenig gilt, und daß
Militärbehörden die Verfügungen eines hochweisen Magistrats nicht immer respek¬
tieren. Deshalb konnte sie sich, wenn sie allmorgentlich die stark gelichteten Reihen
ihrer Äpfel musterte, eiues bangen Gefühls nicht erwehren.

Heute weinte die Wittib, zwischen deu Strohschütten stehend, sogar helle
Tränen. Aber diese galten nicht den gefährdeten Früchten, sondern dem bisherigen
Inhaber der Mansardenwohnung, der, wie sie soeben von einer Nachbarin, der
Waschfrau des PostHalters Barth, vernommen hatte, vor einer Woche in Trier
eines gewaltsamen Todes verblichen war. Wenn Marigny nur auf ihre War¬
nungen gehört hätte! Sie war nur eine einfache Bürgersfrau, aber daß die Reise
ihres Franzosen ein Ende mit Schrecken nehmen würde, das hatte sie gleich ge¬
ahnt! Nun war er tot. von Meuchelmördern in dunkler Nacht hingemordet in
eiuer Stadt, wo ihn niemand kannte, niemand eine Seelenmesse für ihn lesen
lassen würde!

Sie wählte die größte und schönste Renette aus, um sie zur eignen Tröstung
zu verzehren und so wenigstens einen bescheidnen Leichenschmaus zu Ehren des
Verstorbnen zu veranstalten. Dabei entdeckte sie ein paar faule Apfel, die sie nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/375>, abgerufen am 23.11.2024.