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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Reiseschilderungen

ihre Generation hinaus gegönnt ist, jede neue Generntion die Welt mit andern
Augen sieht, so mag es wohl den meisten gleichgiltig erscheinen, wie sich die
Eigentümlichkeiten und Vorurteile litterarischer Richtungen in so kleinen und
rasch vergänglichen Arbeiten spiegeln. Dennoch wäre es sicher nicht ohne Ge¬
winn, gelegentlich auch diesen halbverwischten Spuren nachzugehen. Man
braucht nur an die Grundverschiedenheiten der als klassisch geltenden und darum
noch heute gelesenen Neiseschilderuugen zu denken, an die Gegensätze zwischen
Forsters Schilderungen der Südseeinseln oder Ansichten vom Niederrhein und
Goethes Tagebuchblätteru und Briefen aus Italien, um zu bemerken, daß es
sich dabei um ganz interessante und fruchtbare Untersuchungen handeln würde,
bei denen der Reiz der Stilvergleichung noch das geringste wäre.

Freilich, um so gewichtige und so vornehme Leistungen kann es sich nur
in wenigen Füllen und in der Litteratur des Tages nnn gar nicht handeln.
Die heute vorherrschende Reiseskizze oder Studie ist meist für das Feuilleton
der Zeitungen berechnet, es ist schon viel, wenn sie wirklich Geschehenes und
Gelebtes einschließt und nicht auf eine müßige Plauderei hinausläuft. Wie
selten aber steht vollends hinter den Plaudereien eine liebenswürdige, warm¬
herzige und geistig klare Persönlichkeit, wie z. B. hinter den Sommer¬
wanderungen und Winterfahrten von I. V. Widmcinn (Frauenfeld,
I. Huber), deren beste Skizzen schweizerische und oberitalienische Wärter- und
Ferientage des Verfassers leicht, aber lebendig und anziehend schildern! Die
Abschnitte "Im Sonnenschein und Schatten," "Spätsvmmertage im Jura,"
"Aus westschweizerischen Sommerfrischen," "Zum obern Steinberg," "Ein
Ausflug nach Neuenburg," "Sabaudische Frühlingstage" sind aus der Fülle
der Eindrücke und des Genusses geschöpft. Widmann meint mit Recht, es
werde "zu viel gereist und zu wenig spazieren gegangen in der Schweiz," und
man kann das ruhig für die ganze Welt verallgemeinern. "Aber genußvoller
ist es doch, wenn man sich Jahr für Jahr nur ein bestimmt begrenztes, kleineres
Gebiet zum Wanderziel setzt und sich in diesem Bezirk dann recht behaglich
umsieht. Daß wir Landesbewohner es so machen, ist selbstverständlich und
uns nicht als sonderliche Tugend anzurechnen; wir Habens eben in dieser Be¬
ziehung bequem. Ich kann in Bern noch bis gegen elf Uhr vormittags meiner
Berufsarbeit bequem obliegen und nachmittags etwas nach vier Uhr bereits
auf irgend einem einsamen Hügel hinter Murren Alpenrosen pflücken." Man
merkt denn auch, daß Widmnnn auf den einsamsten Wegen und in den ver¬
stecktesten Hochthälern der Schweiz und der norditalienischen Alpen gründlich
zu Hause ist. Seine Schilderungen des Prachtwinkels zwischen dem Lngmier
und dem Comer See, der einsamen Abgründe und tosenden Wasserstürze am
Tschingelhorn, der savoyischen Südufer des Genfer Sees, des altertümlichen
Neuenburg mit seinen vielen hübschen jungen Schulmeistcrinnen werden von
jedem, der etwas von dem Geschilderten kennt, der überhaupt Auge und Seele


Reiseschilderungen

ihre Generation hinaus gegönnt ist, jede neue Generntion die Welt mit andern
Augen sieht, so mag es wohl den meisten gleichgiltig erscheinen, wie sich die
Eigentümlichkeiten und Vorurteile litterarischer Richtungen in so kleinen und
rasch vergänglichen Arbeiten spiegeln. Dennoch wäre es sicher nicht ohne Ge¬
winn, gelegentlich auch diesen halbverwischten Spuren nachzugehen. Man
braucht nur an die Grundverschiedenheiten der als klassisch geltenden und darum
noch heute gelesenen Neiseschilderuugen zu denken, an die Gegensätze zwischen
Forsters Schilderungen der Südseeinseln oder Ansichten vom Niederrhein und
Goethes Tagebuchblätteru und Briefen aus Italien, um zu bemerken, daß es
sich dabei um ganz interessante und fruchtbare Untersuchungen handeln würde,
bei denen der Reiz der Stilvergleichung noch das geringste wäre.

Freilich, um so gewichtige und so vornehme Leistungen kann es sich nur
in wenigen Füllen und in der Litteratur des Tages nnn gar nicht handeln.
Die heute vorherrschende Reiseskizze oder Studie ist meist für das Feuilleton
der Zeitungen berechnet, es ist schon viel, wenn sie wirklich Geschehenes und
Gelebtes einschließt und nicht auf eine müßige Plauderei hinausläuft. Wie
selten aber steht vollends hinter den Plaudereien eine liebenswürdige, warm¬
herzige und geistig klare Persönlichkeit, wie z. B. hinter den Sommer¬
wanderungen und Winterfahrten von I. V. Widmcinn (Frauenfeld,
I. Huber), deren beste Skizzen schweizerische und oberitalienische Wärter- und
Ferientage des Verfassers leicht, aber lebendig und anziehend schildern! Die
Abschnitte „Im Sonnenschein und Schatten," „Spätsvmmertage im Jura,"
„Aus westschweizerischen Sommerfrischen," „Zum obern Steinberg," „Ein
Ausflug nach Neuenburg," „Sabaudische Frühlingstage" sind aus der Fülle
der Eindrücke und des Genusses geschöpft. Widmann meint mit Recht, es
werde „zu viel gereist und zu wenig spazieren gegangen in der Schweiz," und
man kann das ruhig für die ganze Welt verallgemeinern. „Aber genußvoller
ist es doch, wenn man sich Jahr für Jahr nur ein bestimmt begrenztes, kleineres
Gebiet zum Wanderziel setzt und sich in diesem Bezirk dann recht behaglich
umsieht. Daß wir Landesbewohner es so machen, ist selbstverständlich und
uns nicht als sonderliche Tugend anzurechnen; wir Habens eben in dieser Be¬
ziehung bequem. Ich kann in Bern noch bis gegen elf Uhr vormittags meiner
Berufsarbeit bequem obliegen und nachmittags etwas nach vier Uhr bereits
auf irgend einem einsamen Hügel hinter Murren Alpenrosen pflücken." Man
merkt denn auch, daß Widmnnn auf den einsamsten Wegen und in den ver¬
stecktesten Hochthälern der Schweiz und der norditalienischen Alpen gründlich
zu Hause ist. Seine Schilderungen des Prachtwinkels zwischen dem Lngmier
und dem Comer See, der einsamen Abgründe und tosenden Wasserstürze am
Tschingelhorn, der savoyischen Südufer des Genfer Sees, des altertümlichen
Neuenburg mit seinen vielen hübschen jungen Schulmeistcrinnen werden von
jedem, der etwas von dem Geschilderten kennt, der überhaupt Auge und Seele


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[0652] Reiseschilderungen ihre Generation hinaus gegönnt ist, jede neue Generntion die Welt mit andern Augen sieht, so mag es wohl den meisten gleichgiltig erscheinen, wie sich die Eigentümlichkeiten und Vorurteile litterarischer Richtungen in so kleinen und rasch vergänglichen Arbeiten spiegeln. Dennoch wäre es sicher nicht ohne Ge¬ winn, gelegentlich auch diesen halbverwischten Spuren nachzugehen. Man braucht nur an die Grundverschiedenheiten der als klassisch geltenden und darum noch heute gelesenen Neiseschilderuugen zu denken, an die Gegensätze zwischen Forsters Schilderungen der Südseeinseln oder Ansichten vom Niederrhein und Goethes Tagebuchblätteru und Briefen aus Italien, um zu bemerken, daß es sich dabei um ganz interessante und fruchtbare Untersuchungen handeln würde, bei denen der Reiz der Stilvergleichung noch das geringste wäre. Freilich, um so gewichtige und so vornehme Leistungen kann es sich nur in wenigen Füllen und in der Litteratur des Tages nnn gar nicht handeln. Die heute vorherrschende Reiseskizze oder Studie ist meist für das Feuilleton der Zeitungen berechnet, es ist schon viel, wenn sie wirklich Geschehenes und Gelebtes einschließt und nicht auf eine müßige Plauderei hinausläuft. Wie selten aber steht vollends hinter den Plaudereien eine liebenswürdige, warm¬ herzige und geistig klare Persönlichkeit, wie z. B. hinter den Sommer¬ wanderungen und Winterfahrten von I. V. Widmcinn (Frauenfeld, I. Huber), deren beste Skizzen schweizerische und oberitalienische Wärter- und Ferientage des Verfassers leicht, aber lebendig und anziehend schildern! Die Abschnitte „Im Sonnenschein und Schatten," „Spätsvmmertage im Jura," „Aus westschweizerischen Sommerfrischen," „Zum obern Steinberg," „Ein Ausflug nach Neuenburg," „Sabaudische Frühlingstage" sind aus der Fülle der Eindrücke und des Genusses geschöpft. Widmann meint mit Recht, es werde „zu viel gereist und zu wenig spazieren gegangen in der Schweiz," und man kann das ruhig für die ganze Welt verallgemeinern. „Aber genußvoller ist es doch, wenn man sich Jahr für Jahr nur ein bestimmt begrenztes, kleineres Gebiet zum Wanderziel setzt und sich in diesem Bezirk dann recht behaglich umsieht. Daß wir Landesbewohner es so machen, ist selbstverständlich und uns nicht als sonderliche Tugend anzurechnen; wir Habens eben in dieser Be¬ ziehung bequem. Ich kann in Bern noch bis gegen elf Uhr vormittags meiner Berufsarbeit bequem obliegen und nachmittags etwas nach vier Uhr bereits auf irgend einem einsamen Hügel hinter Murren Alpenrosen pflücken." Man merkt denn auch, daß Widmnnn auf den einsamsten Wegen und in den ver¬ stecktesten Hochthälern der Schweiz und der norditalienischen Alpen gründlich zu Hause ist. Seine Schilderungen des Prachtwinkels zwischen dem Lngmier und dem Comer See, der einsamen Abgründe und tosenden Wasserstürze am Tschingelhorn, der savoyischen Südufer des Genfer Sees, des altertümlichen Neuenburg mit seinen vielen hübschen jungen Schulmeistcrinnen werden von jedem, der etwas von dem Geschilderten kennt, der überhaupt Auge und Seele

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/652>, abgerufen am 27.09.2024.