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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik

Die allgemeine Wehrpflicht hatte die Beseitigung der Privilegien wie die
grundsätzliche Befreiung des Bauernstandes zur natürlichen Folge; völlig ver¬
eint traten Volk und Regierung in den Kampf für die Befreiung des Vater¬
lands. Leider war der Gegensatz aber noch nicht auf die Dauer beseitigt,
wieder gewann die Ansicht von der besondern Erleuchtung der Regierenden
und dem beschränkten Unterthanenverstande die Oberhand. Ein Jahrzehnt
nach dem Kriege waren Deutschlands Regierungen nach innen unfruchtbar
und despotisch, uach außen abhängig und wehrlos. Ein geistvoller preußischer
Soldat und Staatsmann urteilt gegen Ende der dreißiger Jahre über die innere
Politik: "Es wird vielleicht noch lange dauern, bis die Regierungen dahin
kommen werden, statt sich vor dem geistigen Entwicklungsgange ihrer Völker
zu fürchten, die Erhebung und Stärkung des Nationalgeistes als eine ihrer
ersten Pflichten anzusehen. Nur dann, wenn der Volkswille entweder aus
Mangel höherer Leitung oder gewaltsam niedergedrückt, sich selbst die Bahn
bricht, kann er zerstörend wirken, geht die Regierung aber, so wie Friedrich
that, beharrlich auf der Bahn des Lichtes voran, dann findet sie im Gegenteil
in der geistigen Entwicklung ihres Volks ihre stärkste Stütze und einen Anker,
der sie durch die Baude der Dankbarkeit aus dem stärksten Schiffbruch rettet."
Die tiefe Unzufriedenheit, zunächst durch das Vertrauen zur Gerechtigkeit und
Pflichttreue des Königs und die Liebe zu seiner Person zurückgehalten, brach
sich 1848 Bahn: es war "der große Anmeldetermin für alle lang gehegten
Wünsche und Beschwerden des deutschen Volkes," wie es ein bedeutender
Nationalökvnom treffend bezeichnet hat.

Wir haben den Faden der Entwicklung damit bis zu einer Zeit verfolgt,
die wir noch erlebt haben, oder unter deren unmittelbaren Nachwirkungen wir
noch heute leben. König Wilhelm trat in Preußen die Regierung an; in
richtiger Auffassung der äußern Verhältnisse setzt er mit dem vollen Bewußt¬
sein der übernommnen Verantwortung seine Krone an die Sicherung der Größe
und der Zukunft seines Volks gegen die in doktrinäre Theorien verrannten
Abgeordneten. Die Anpassung der Heercseinrichtungen an die Anforderungen
der äußern Lage gelingt, und der größte Staatsmann des Jahrhunderts setzt
nach drei siegreichen Kriegen Deutschland in den Sattel und spricht zuversicht¬
lich: "Reiten wird es schon können."

Nachdem diese Heroenzeit vergangen ist, haben wir Anlaß zu der Frage:
Kann Deutschland wirklich reiten? War Bismarcks Zuversicht gerechtfertigt?
Wohl haben wir unsre bewährte Heeresorganisation auf ganz Deutschland aus¬
gedehnt, wohl bemühen wir uns, immer wieder den raschen Bevölkerungszuwachs
ihr zahlenmäßig einzufügen, wohl halten wir uns in Bezug auf Waffentechnik
auf der Höhe der Zeit. Anders steht es aber, wenn wir nach dem Geiste des
Heeres fragen, der ja kein andrer ist und sein kann als der Geist des Volks. Ein
herrlicher und gewaltiger Geist ist es gewesen, der 1813 und 1870 zu jedem


Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik

Die allgemeine Wehrpflicht hatte die Beseitigung der Privilegien wie die
grundsätzliche Befreiung des Bauernstandes zur natürlichen Folge; völlig ver¬
eint traten Volk und Regierung in den Kampf für die Befreiung des Vater¬
lands. Leider war der Gegensatz aber noch nicht auf die Dauer beseitigt,
wieder gewann die Ansicht von der besondern Erleuchtung der Regierenden
und dem beschränkten Unterthanenverstande die Oberhand. Ein Jahrzehnt
nach dem Kriege waren Deutschlands Regierungen nach innen unfruchtbar
und despotisch, uach außen abhängig und wehrlos. Ein geistvoller preußischer
Soldat und Staatsmann urteilt gegen Ende der dreißiger Jahre über die innere
Politik: „Es wird vielleicht noch lange dauern, bis die Regierungen dahin
kommen werden, statt sich vor dem geistigen Entwicklungsgange ihrer Völker
zu fürchten, die Erhebung und Stärkung des Nationalgeistes als eine ihrer
ersten Pflichten anzusehen. Nur dann, wenn der Volkswille entweder aus
Mangel höherer Leitung oder gewaltsam niedergedrückt, sich selbst die Bahn
bricht, kann er zerstörend wirken, geht die Regierung aber, so wie Friedrich
that, beharrlich auf der Bahn des Lichtes voran, dann findet sie im Gegenteil
in der geistigen Entwicklung ihres Volks ihre stärkste Stütze und einen Anker,
der sie durch die Baude der Dankbarkeit aus dem stärksten Schiffbruch rettet."
Die tiefe Unzufriedenheit, zunächst durch das Vertrauen zur Gerechtigkeit und
Pflichttreue des Königs und die Liebe zu seiner Person zurückgehalten, brach
sich 1848 Bahn: es war „der große Anmeldetermin für alle lang gehegten
Wünsche und Beschwerden des deutschen Volkes," wie es ein bedeutender
Nationalökvnom treffend bezeichnet hat.

Wir haben den Faden der Entwicklung damit bis zu einer Zeit verfolgt,
die wir noch erlebt haben, oder unter deren unmittelbaren Nachwirkungen wir
noch heute leben. König Wilhelm trat in Preußen die Regierung an; in
richtiger Auffassung der äußern Verhältnisse setzt er mit dem vollen Bewußt¬
sein der übernommnen Verantwortung seine Krone an die Sicherung der Größe
und der Zukunft seines Volks gegen die in doktrinäre Theorien verrannten
Abgeordneten. Die Anpassung der Heercseinrichtungen an die Anforderungen
der äußern Lage gelingt, und der größte Staatsmann des Jahrhunderts setzt
nach drei siegreichen Kriegen Deutschland in den Sattel und spricht zuversicht¬
lich: „Reiten wird es schon können."

Nachdem diese Heroenzeit vergangen ist, haben wir Anlaß zu der Frage:
Kann Deutschland wirklich reiten? War Bismarcks Zuversicht gerechtfertigt?
Wohl haben wir unsre bewährte Heeresorganisation auf ganz Deutschland aus¬
gedehnt, wohl bemühen wir uns, immer wieder den raschen Bevölkerungszuwachs
ihr zahlenmäßig einzufügen, wohl halten wir uns in Bezug auf Waffentechnik
auf der Höhe der Zeit. Anders steht es aber, wenn wir nach dem Geiste des
Heeres fragen, der ja kein andrer ist und sein kann als der Geist des Volks. Ein
herrlicher und gewaltiger Geist ist es gewesen, der 1813 und 1870 zu jedem


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[0637] Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik Die allgemeine Wehrpflicht hatte die Beseitigung der Privilegien wie die grundsätzliche Befreiung des Bauernstandes zur natürlichen Folge; völlig ver¬ eint traten Volk und Regierung in den Kampf für die Befreiung des Vater¬ lands. Leider war der Gegensatz aber noch nicht auf die Dauer beseitigt, wieder gewann die Ansicht von der besondern Erleuchtung der Regierenden und dem beschränkten Unterthanenverstande die Oberhand. Ein Jahrzehnt nach dem Kriege waren Deutschlands Regierungen nach innen unfruchtbar und despotisch, uach außen abhängig und wehrlos. Ein geistvoller preußischer Soldat und Staatsmann urteilt gegen Ende der dreißiger Jahre über die innere Politik: „Es wird vielleicht noch lange dauern, bis die Regierungen dahin kommen werden, statt sich vor dem geistigen Entwicklungsgange ihrer Völker zu fürchten, die Erhebung und Stärkung des Nationalgeistes als eine ihrer ersten Pflichten anzusehen. Nur dann, wenn der Volkswille entweder aus Mangel höherer Leitung oder gewaltsam niedergedrückt, sich selbst die Bahn bricht, kann er zerstörend wirken, geht die Regierung aber, so wie Friedrich that, beharrlich auf der Bahn des Lichtes voran, dann findet sie im Gegenteil in der geistigen Entwicklung ihres Volks ihre stärkste Stütze und einen Anker, der sie durch die Baude der Dankbarkeit aus dem stärksten Schiffbruch rettet." Die tiefe Unzufriedenheit, zunächst durch das Vertrauen zur Gerechtigkeit und Pflichttreue des Königs und die Liebe zu seiner Person zurückgehalten, brach sich 1848 Bahn: es war „der große Anmeldetermin für alle lang gehegten Wünsche und Beschwerden des deutschen Volkes," wie es ein bedeutender Nationalökvnom treffend bezeichnet hat. Wir haben den Faden der Entwicklung damit bis zu einer Zeit verfolgt, die wir noch erlebt haben, oder unter deren unmittelbaren Nachwirkungen wir noch heute leben. König Wilhelm trat in Preußen die Regierung an; in richtiger Auffassung der äußern Verhältnisse setzt er mit dem vollen Bewußt¬ sein der übernommnen Verantwortung seine Krone an die Sicherung der Größe und der Zukunft seines Volks gegen die in doktrinäre Theorien verrannten Abgeordneten. Die Anpassung der Heercseinrichtungen an die Anforderungen der äußern Lage gelingt, und der größte Staatsmann des Jahrhunderts setzt nach drei siegreichen Kriegen Deutschland in den Sattel und spricht zuversicht¬ lich: „Reiten wird es schon können." Nachdem diese Heroenzeit vergangen ist, haben wir Anlaß zu der Frage: Kann Deutschland wirklich reiten? War Bismarcks Zuversicht gerechtfertigt? Wohl haben wir unsre bewährte Heeresorganisation auf ganz Deutschland aus¬ gedehnt, wohl bemühen wir uns, immer wieder den raschen Bevölkerungszuwachs ihr zahlenmäßig einzufügen, wohl halten wir uns in Bezug auf Waffentechnik auf der Höhe der Zeit. Anders steht es aber, wenn wir nach dem Geiste des Heeres fragen, der ja kein andrer ist und sein kann als der Geist des Volks. Ein herrlicher und gewaltiger Geist ist es gewesen, der 1813 und 1870 zu jedem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/637>, abgerufen am 27.09.2024.