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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Lieder in den Aompositionen seiner Zeitgenossen

Wohl die anfechtbarste Seite der Friedlünderschen Sammlung ist aber
nun ihre Anordnung. Anstatt nämlich die Lieder nach der Entstehungs¬
und Veröffeutlichungszeit der Kompositionen zu ordnen, womit ganz von selbst
der gewünschte Überblick über die Entwicklung der deutschen Liederkompositivn
zu Goethes Zeit gegeben gewesen wäre, hat er sich darauf versteift, sie nach
der Entstehungszeit der Texte zu ordnen, hat, wenn er von einem Text
mehrere Kompositionen mitteilt, diese stets hinter einander gestellt und so das
musikalisch und musikgeschichtlich zusammengehörige, auf das es doch hier vor
allen Dingen ankommt, überall verzettelt und dafür das ungleichartigste neben
einander gebracht. So folgt z. B. gleich auf Ur. 1 (Die Nacht, aus dem Breit-
kopfschen Liederheft von 1769) eine Komposition desselben Liedes von Reichardt
von 1809. Dann springt es mit Ur. 3 wieder zu Vreitkopf zurück (1769),
als Ur. 4 kommt gar "Erwache. Friederike" (mit der Melodie von Görner
1.1744^), als Ur. 5 "Kleine Blumen, kleine Blätter" in der Komposition Beet¬
hovens von 1810. Ein solches Kunterbunt ist die ganze Sammlung. Das musi¬
kalische Winseln und Grimasseuschneiden von Berlioz*) steht mitten zwischen --
Zelter und Reichardt, eine Singspielarie von Kayser mitten zwischen Spontini
und Schubert usw. Um wieviel zweckmäßiger würde die Sammlung geordnet
sein, wenn sie mit drei oder vier Nummern aus Breitkopfs Liederheft begönne,
dann etwa noch das Neujahrslied in der Komposition vou Löhlein folgte
(aus der Monatsschrift Unterhaltungen. Hamburg, Dezember 1769), dann
Andres Veilchen und Kaysers "An Beliuden" (beide aus der Iris, II, 3. März
1775), das zweite ohne Zweifel die Komposition, in der es Goethe von Lili
singen hörte, als er vor seinem Abschied von Frankfurt zum letztenmal abends
an ihrem Fenster vorbeiging, dann Kaysers Veilchen und "Ihr verblühet, süße
Rosen" (aus dessen "Gesängen mit Begleitung des Claviers." Leipzig und
Winterthur, 1777"*), dann Neefes "Liebliches Kind" (aus dessen "Gereimten
beym Klavier zu singen." Leipzig, 1777), dann Johann Philipp Schönfelds
"An Belinden" (aus dessen "Liedern aus der Iris." Berlin. 1778) usw.

Einen ungünstigen Einfluß hat natürlich die verfehlte Anordnung auch auf
die erläuternden Anmerkungen gehabt: auch dort ist oft das zusammengehörige




Zelter schreibt an Goethe über die Verliozschen Lieder: "Gewisse Leute können ihre
Geistesgegenwart und ihren Anteil nur durch lautes Husten. Schnauben, Krächzen und Aus-
speien zu verstehen geben; von diesen einer scheint Herr Hektor Berlioz zu sein."
* Auf ihrem Titelblatt steht die schöne, doch wohl von Goethe gedichtete Strophe: *)
Ein Wort wie "herzenein" (vgl. himmelan, bergauf) hat damals nicht leicht ein andrer gewagt als
Goethe; in Grimms Wörterbuch fehlt es übrigens.
Goethes Lieder in den Aompositionen seiner Zeitgenossen

Wohl die anfechtbarste Seite der Friedlünderschen Sammlung ist aber
nun ihre Anordnung. Anstatt nämlich die Lieder nach der Entstehungs¬
und Veröffeutlichungszeit der Kompositionen zu ordnen, womit ganz von selbst
der gewünschte Überblick über die Entwicklung der deutschen Liederkompositivn
zu Goethes Zeit gegeben gewesen wäre, hat er sich darauf versteift, sie nach
der Entstehungszeit der Texte zu ordnen, hat, wenn er von einem Text
mehrere Kompositionen mitteilt, diese stets hinter einander gestellt und so das
musikalisch und musikgeschichtlich zusammengehörige, auf das es doch hier vor
allen Dingen ankommt, überall verzettelt und dafür das ungleichartigste neben
einander gebracht. So folgt z. B. gleich auf Ur. 1 (Die Nacht, aus dem Breit-
kopfschen Liederheft von 1769) eine Komposition desselben Liedes von Reichardt
von 1809. Dann springt es mit Ur. 3 wieder zu Vreitkopf zurück (1769),
als Ur. 4 kommt gar „Erwache. Friederike" (mit der Melodie von Görner
1.1744^), als Ur. 5 „Kleine Blumen, kleine Blätter" in der Komposition Beet¬
hovens von 1810. Ein solches Kunterbunt ist die ganze Sammlung. Das musi¬
kalische Winseln und Grimasseuschneiden von Berlioz*) steht mitten zwischen —
Zelter und Reichardt, eine Singspielarie von Kayser mitten zwischen Spontini
und Schubert usw. Um wieviel zweckmäßiger würde die Sammlung geordnet
sein, wenn sie mit drei oder vier Nummern aus Breitkopfs Liederheft begönne,
dann etwa noch das Neujahrslied in der Komposition vou Löhlein folgte
(aus der Monatsschrift Unterhaltungen. Hamburg, Dezember 1769), dann
Andres Veilchen und Kaysers „An Beliuden" (beide aus der Iris, II, 3. März
1775), das zweite ohne Zweifel die Komposition, in der es Goethe von Lili
singen hörte, als er vor seinem Abschied von Frankfurt zum letztenmal abends
an ihrem Fenster vorbeiging, dann Kaysers Veilchen und „Ihr verblühet, süße
Rosen" (aus dessen „Gesängen mit Begleitung des Claviers." Leipzig und
Winterthur, 1777"*), dann Neefes „Liebliches Kind" (aus dessen „Gereimten
beym Klavier zu singen." Leipzig, 1777), dann Johann Philipp Schönfelds
„An Belinden" (aus dessen „Liedern aus der Iris." Berlin. 1778) usw.

Einen ungünstigen Einfluß hat natürlich die verfehlte Anordnung auch auf
die erläuternden Anmerkungen gehabt: auch dort ist oft das zusammengehörige




Zelter schreibt an Goethe über die Verliozschen Lieder: „Gewisse Leute können ihre
Geistesgegenwart und ihren Anteil nur durch lautes Husten. Schnauben, Krächzen und Aus-
speien zu verstehen geben; von diesen einer scheint Herr Hektor Berlioz zu sein."
* Auf ihrem Titelblatt steht die schöne, doch wohl von Goethe gedichtete Strophe: *)
Ein Wort wie „herzenein" (vgl. himmelan, bergauf) hat damals nicht leicht ein andrer gewagt als
Goethe; in Grimms Wörterbuch fehlt es übrigens.
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[0448] Goethes Lieder in den Aompositionen seiner Zeitgenossen Wohl die anfechtbarste Seite der Friedlünderschen Sammlung ist aber nun ihre Anordnung. Anstatt nämlich die Lieder nach der Entstehungs¬ und Veröffeutlichungszeit der Kompositionen zu ordnen, womit ganz von selbst der gewünschte Überblick über die Entwicklung der deutschen Liederkompositivn zu Goethes Zeit gegeben gewesen wäre, hat er sich darauf versteift, sie nach der Entstehungszeit der Texte zu ordnen, hat, wenn er von einem Text mehrere Kompositionen mitteilt, diese stets hinter einander gestellt und so das musikalisch und musikgeschichtlich zusammengehörige, auf das es doch hier vor allen Dingen ankommt, überall verzettelt und dafür das ungleichartigste neben einander gebracht. So folgt z. B. gleich auf Ur. 1 (Die Nacht, aus dem Breit- kopfschen Liederheft von 1769) eine Komposition desselben Liedes von Reichardt von 1809. Dann springt es mit Ur. 3 wieder zu Vreitkopf zurück (1769), als Ur. 4 kommt gar „Erwache. Friederike" (mit der Melodie von Görner 1.1744^), als Ur. 5 „Kleine Blumen, kleine Blätter" in der Komposition Beet¬ hovens von 1810. Ein solches Kunterbunt ist die ganze Sammlung. Das musi¬ kalische Winseln und Grimasseuschneiden von Berlioz*) steht mitten zwischen — Zelter und Reichardt, eine Singspielarie von Kayser mitten zwischen Spontini und Schubert usw. Um wieviel zweckmäßiger würde die Sammlung geordnet sein, wenn sie mit drei oder vier Nummern aus Breitkopfs Liederheft begönne, dann etwa noch das Neujahrslied in der Komposition vou Löhlein folgte (aus der Monatsschrift Unterhaltungen. Hamburg, Dezember 1769), dann Andres Veilchen und Kaysers „An Beliuden" (beide aus der Iris, II, 3. März 1775), das zweite ohne Zweifel die Komposition, in der es Goethe von Lili singen hörte, als er vor seinem Abschied von Frankfurt zum letztenmal abends an ihrem Fenster vorbeiging, dann Kaysers Veilchen und „Ihr verblühet, süße Rosen" (aus dessen „Gesängen mit Begleitung des Claviers." Leipzig und Winterthur, 1777"*), dann Neefes „Liebliches Kind" (aus dessen „Gereimten beym Klavier zu singen." Leipzig, 1777), dann Johann Philipp Schönfelds „An Belinden" (aus dessen „Liedern aus der Iris." Berlin. 1778) usw. Einen ungünstigen Einfluß hat natürlich die verfehlte Anordnung auch auf die erläuternden Anmerkungen gehabt: auch dort ist oft das zusammengehörige Zelter schreibt an Goethe über die Verliozschen Lieder: „Gewisse Leute können ihre Geistesgegenwart und ihren Anteil nur durch lautes Husten. Schnauben, Krächzen und Aus- speien zu verstehen geben; von diesen einer scheint Herr Hektor Berlioz zu sein." * Auf ihrem Titelblatt steht die schöne, doch wohl von Goethe gedichtete Strophe: *) Ein Wort wie „herzenein" (vgl. himmelan, bergauf) hat damals nicht leicht ein andrer gewagt als Goethe; in Grimms Wörterbuch fehlt es übrigens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/448>, abgerufen am 27.09.2024.