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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Lieder in den Aompositionen seiner Zeitgenossen

waren als die Goethischen Texte, mit andern Worten: denen Goethe nur einen
Text untergelegt hat. Er hat ferner anch solche Kompositionen bevorzugt, in
denen Goethische Gedichte gleich zum ersten male veröffentlicht worden sind.
Er hat endlich Musiker bevorzugt, die Goethe befreundet waren, und solche,
die "sich ihm persönlich oder schriftlich genähert haben." Das alles sind
ohne Zweifel sehr erstrebenswerte Zwecke, aber in dem bescheidnen Umfange
der vorliegenden Sammlung -- klagt doch der Herausgeber selbst über
Raummangel! -- lassen sie sich nicht erreichen, wenn der Hauptzweck wirklich
erreicht werden soll.

Eins der Sesenheimer Lieder (Erwache, Friederike) hat Goethe für Friederike
Brion einer der Görnerschen Melodien zu Hagedorns "Neuen Oden und Liedern"
untergelegt.^) Die Melodie ist also 27 Jahre älter als der Text -- gehört
so etwas in diese Sammlung? Ein paar dilettantische Kuriositäten, wie die
Lieder von Corona Schröter, von Bettina und von Walter Goethe, nimmt
man mit in den Kauf um der Personen willen, von denen sie stammen. Aber
auf das opernarienhaft aufgeputzte Lied der Mignon von Spontini würde man
gern verzichten, und vollends die beiden Lieder von Berlioz, der König in
Thule und das Flohlied, sind beinahe eine Verunstaltung der Sammlung.
Aber auch bisher uugedrucktes, wie das Veilchen von der Herzogin Amnlia,
Jägers Nachtlied von Kayser, Seckendvrffs "Füllest wieder 's liebe Thal," "Ein
armes Mädchen" aus "Scherz, List und Rache" von Kayser, sogar Zelters
Erlkönig, hätte getrost wegbleiben können. Was nicht unmittelbar nach seiner
Entstehung in die Öffentlichkeit gedrungen ist, was nicht gewirkt hat, ist doch
so gut wie nicht vorhanden gewesen. Wenn endlich so ganz bekannte, leicht
zugängliche und dabei doch ziemlich umfängliche Nummern wie Beethovens
"Kleine Blumen, kleine Blätter," Schuberts Erlkönig, Mendelssohns "Die
Liebende schreibt" weggeblieben wären, so hätte sich, selbst bei dem vorliegenden
Umfange, leicht für Nötigeres Raum gewinnen lassen. Gleich von dem Lieder¬
heft des jungen Breitkopf bekommt hier niemand eine richtige Vorstellung;
außer der "Nacht" hätten unbedingt das Neujahrslied und der "Wunsch eines
jungen Mädchens" aufgenommen werden müssen, Lieder, die mit ihrer freien,
fröhlichen Melodie so manche andächtig beflaumte Nichtigkeit von Reichardt und
Zelter hinter sich lassen. Damit will ich aber nicht etwa sagen, daß diese
beiden in der Sammlung zu stark vertreten wären; im Gegenteil, auch sie sind
beide zu kurz gekommen. Von Reichardt vermißt man z. B. Meeresstille und
Glückliche Fahrt (zuerst in Schillers Musenalmanach für 1796), von Zelter
"Nur wer die Sehnsucht keimt," "Wer nie sein Brot mit Thränen aß," "Heiß
mich nicht reden" u. a.



An der Thatsache ist wohl nicht zu zweifeln, denn die Strophenform ist ganz eigentümlich
und kommt sonst kaum vor, und Goethe scherzt am Ende des Liedes selbst über die Schwierig¬
keit der Sache (des Reimes Joch).
Goethes Lieder in den Aompositionen seiner Zeitgenossen

waren als die Goethischen Texte, mit andern Worten: denen Goethe nur einen
Text untergelegt hat. Er hat ferner anch solche Kompositionen bevorzugt, in
denen Goethische Gedichte gleich zum ersten male veröffentlicht worden sind.
Er hat endlich Musiker bevorzugt, die Goethe befreundet waren, und solche,
die „sich ihm persönlich oder schriftlich genähert haben." Das alles sind
ohne Zweifel sehr erstrebenswerte Zwecke, aber in dem bescheidnen Umfange
der vorliegenden Sammlung — klagt doch der Herausgeber selbst über
Raummangel! — lassen sie sich nicht erreichen, wenn der Hauptzweck wirklich
erreicht werden soll.

Eins der Sesenheimer Lieder (Erwache, Friederike) hat Goethe für Friederike
Brion einer der Görnerschen Melodien zu Hagedorns „Neuen Oden und Liedern"
untergelegt.^) Die Melodie ist also 27 Jahre älter als der Text — gehört
so etwas in diese Sammlung? Ein paar dilettantische Kuriositäten, wie die
Lieder von Corona Schröter, von Bettina und von Walter Goethe, nimmt
man mit in den Kauf um der Personen willen, von denen sie stammen. Aber
auf das opernarienhaft aufgeputzte Lied der Mignon von Spontini würde man
gern verzichten, und vollends die beiden Lieder von Berlioz, der König in
Thule und das Flohlied, sind beinahe eine Verunstaltung der Sammlung.
Aber auch bisher uugedrucktes, wie das Veilchen von der Herzogin Amnlia,
Jägers Nachtlied von Kayser, Seckendvrffs „Füllest wieder 's liebe Thal," „Ein
armes Mädchen" aus „Scherz, List und Rache" von Kayser, sogar Zelters
Erlkönig, hätte getrost wegbleiben können. Was nicht unmittelbar nach seiner
Entstehung in die Öffentlichkeit gedrungen ist, was nicht gewirkt hat, ist doch
so gut wie nicht vorhanden gewesen. Wenn endlich so ganz bekannte, leicht
zugängliche und dabei doch ziemlich umfängliche Nummern wie Beethovens
„Kleine Blumen, kleine Blätter," Schuberts Erlkönig, Mendelssohns „Die
Liebende schreibt" weggeblieben wären, so hätte sich, selbst bei dem vorliegenden
Umfange, leicht für Nötigeres Raum gewinnen lassen. Gleich von dem Lieder¬
heft des jungen Breitkopf bekommt hier niemand eine richtige Vorstellung;
außer der „Nacht" hätten unbedingt das Neujahrslied und der „Wunsch eines
jungen Mädchens" aufgenommen werden müssen, Lieder, die mit ihrer freien,
fröhlichen Melodie so manche andächtig beflaumte Nichtigkeit von Reichardt und
Zelter hinter sich lassen. Damit will ich aber nicht etwa sagen, daß diese
beiden in der Sammlung zu stark vertreten wären; im Gegenteil, auch sie sind
beide zu kurz gekommen. Von Reichardt vermißt man z. B. Meeresstille und
Glückliche Fahrt (zuerst in Schillers Musenalmanach für 1796), von Zelter
„Nur wer die Sehnsucht keimt," „Wer nie sein Brot mit Thränen aß," „Heiß
mich nicht reden" u. a.



An der Thatsache ist wohl nicht zu zweifeln, denn die Strophenform ist ganz eigentümlich
und kommt sonst kaum vor, und Goethe scherzt am Ende des Liedes selbst über die Schwierig¬
keit der Sache (des Reimes Joch).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/447>, abgerufen am 27.09.2024.