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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Kunstgenuß des Laie"

eigen Kunstwerks, die wir im Auge haben, ist so weit und so reichhaltig, daß
ihr gedeihliche Eindrücke aller Art entströme". Der Laie wird bei der bildenden
Kunst und bei der Poesie gewöhnlich zunächst durch den Gegenstand, bei der
Musik durch den Charakter des Stückes beschäftigt und gefesselt; er läßt sich
daher, wenn ihm die Künste Darstellungen allgemein interessanter Dinge, Vor¬
gänge, Stimmungen entgegenbringen, nicht ungern ans ihre Annahme ein,
wenn ihm das uur uicht durch Beleidigung seines beschränkten Geschmacks er¬
schwert und vergällt wird. Allmählich bemerkt er dann im Kunstwerk deu
Künstler; er spürt, daß sich der eine Künstler anders ausspricht, überhaupt
anders denkt und empfindet als ein zweiter, daß er gewisse Lieblingsgegenstände,
Lieblingswendungen hat und abnutzt; er beginnt zu ahnen, was Auffassung
und was Technik ist, und alles, was er hierbei entdeckt, ist ihm verständlich,
weil die Kunstwerke, auf die er seine Beobachtungen und Schlüsse gründet,
durch ihren Mangel an wirklicher Eigenart und durch das Mittelmaß ihrer
Schöpfer keine allzu hohen Ansprüche an ihn stellen. Ist er erst soweit ge¬
kommen, so hat er schon viel erreicht, denn sein Kunstgenuß haftet uicht mehr
ganz an der Oberfläche, er ist eindringlicher und mannichfaltiger und also fürs
Leben ergiebiger geworden. Nunmehr hängt jeder weitere Fortschritt, die
Bildung eines individuellen Urteils, die Forderung individueller Leistungen
lediglich von der Energie ab, die der Laie für sein Verhältnis zur Kunst auf¬
zuwenden vermag; jedenfalls aber ist, wie wir sehen, seine Seele auf den Weg
zum Guten und Schönen gebracht und den idealen Bewegungen gewonnen
worden durch die Vermittlung der schlecht- und rechten Künstlermassen.

Dem empfänglichen, fein angelegten und hoch entwickelten Laien füllt es
allerdings meist schwer, diesen Künstlerscharen gerecht zu werden und ihnen
Wert und Leben zu gönnen. Menschen vou strengen Grundsätzen und sittlich
verfeinerter Kultur neigen ja, auch wenn sie sich in ihrem Innern gegenüber
dein sündhaften Ich zerknirscht und demütig fühlen, zu hochmütiger Verurteilung
und herrischer Nichtachtung ihrer Nebenmenschen, die vielleicht nicht ärgere,
sondern nur naivere Sündenknechte sind, als sie selbst; noch viel unduldsamer
sind ästhetisch fortgeschrittene Laien gegen die zurückgebliebnen Brüder und
gegen die Künstler, die ihnen uicht genügen, oder die sie nicht gleich verstehen.
Daher in tausend Abstufungen das unerquickliche Eifern in Kuustangelegen-
heiten. Mag aber, wer das B begriffen hat, sich gegenüber dem, der erst das A
beherrscht, in kindlichem Stolze brüsten -- wer bis zum T oder I gelangt
ist, sollte billig bedenken, daß auch er nnr im ABC steht, und daß das Lesen,
d. h. für unsern Fall: die Beherrschung der ästhetischen Urteile, ihm selbst dem¬
nächst vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzen wird. Vor allem
je'doch: sein schroffes Gebahren schreckt zaghafte Laien zurück und lähmt ihren
guten Wille"; noch verderblicher wirkt es außerdem auf die Entwicklung der
Künste selbst.


Der Kunstgenuß des Laie»

eigen Kunstwerks, die wir im Auge haben, ist so weit und so reichhaltig, daß
ihr gedeihliche Eindrücke aller Art entströme». Der Laie wird bei der bildenden
Kunst und bei der Poesie gewöhnlich zunächst durch den Gegenstand, bei der
Musik durch den Charakter des Stückes beschäftigt und gefesselt; er läßt sich
daher, wenn ihm die Künste Darstellungen allgemein interessanter Dinge, Vor¬
gänge, Stimmungen entgegenbringen, nicht ungern ans ihre Annahme ein,
wenn ihm das uur uicht durch Beleidigung seines beschränkten Geschmacks er¬
schwert und vergällt wird. Allmählich bemerkt er dann im Kunstwerk deu
Künstler; er spürt, daß sich der eine Künstler anders ausspricht, überhaupt
anders denkt und empfindet als ein zweiter, daß er gewisse Lieblingsgegenstände,
Lieblingswendungen hat und abnutzt; er beginnt zu ahnen, was Auffassung
und was Technik ist, und alles, was er hierbei entdeckt, ist ihm verständlich,
weil die Kunstwerke, auf die er seine Beobachtungen und Schlüsse gründet,
durch ihren Mangel an wirklicher Eigenart und durch das Mittelmaß ihrer
Schöpfer keine allzu hohen Ansprüche an ihn stellen. Ist er erst soweit ge¬
kommen, so hat er schon viel erreicht, denn sein Kunstgenuß haftet uicht mehr
ganz an der Oberfläche, er ist eindringlicher und mannichfaltiger und also fürs
Leben ergiebiger geworden. Nunmehr hängt jeder weitere Fortschritt, die
Bildung eines individuellen Urteils, die Forderung individueller Leistungen
lediglich von der Energie ab, die der Laie für sein Verhältnis zur Kunst auf¬
zuwenden vermag; jedenfalls aber ist, wie wir sehen, seine Seele auf den Weg
zum Guten und Schönen gebracht und den idealen Bewegungen gewonnen
worden durch die Vermittlung der schlecht- und rechten Künstlermassen.

Dem empfänglichen, fein angelegten und hoch entwickelten Laien füllt es
allerdings meist schwer, diesen Künstlerscharen gerecht zu werden und ihnen
Wert und Leben zu gönnen. Menschen vou strengen Grundsätzen und sittlich
verfeinerter Kultur neigen ja, auch wenn sie sich in ihrem Innern gegenüber
dein sündhaften Ich zerknirscht und demütig fühlen, zu hochmütiger Verurteilung
und herrischer Nichtachtung ihrer Nebenmenschen, die vielleicht nicht ärgere,
sondern nur naivere Sündenknechte sind, als sie selbst; noch viel unduldsamer
sind ästhetisch fortgeschrittene Laien gegen die zurückgebliebnen Brüder und
gegen die Künstler, die ihnen uicht genügen, oder die sie nicht gleich verstehen.
Daher in tausend Abstufungen das unerquickliche Eifern in Kuustangelegen-
heiten. Mag aber, wer das B begriffen hat, sich gegenüber dem, der erst das A
beherrscht, in kindlichem Stolze brüsten — wer bis zum T oder I gelangt
ist, sollte billig bedenken, daß auch er nnr im ABC steht, und daß das Lesen,
d. h. für unsern Fall: die Beherrschung der ästhetischen Urteile, ihm selbst dem¬
nächst vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzen wird. Vor allem
je'doch: sein schroffes Gebahren schreckt zaghafte Laien zurück und lähmt ihren
guten Wille»; noch verderblicher wirkt es außerdem auf die Entwicklung der
Künste selbst.


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[0407] Der Kunstgenuß des Laie» eigen Kunstwerks, die wir im Auge haben, ist so weit und so reichhaltig, daß ihr gedeihliche Eindrücke aller Art entströme». Der Laie wird bei der bildenden Kunst und bei der Poesie gewöhnlich zunächst durch den Gegenstand, bei der Musik durch den Charakter des Stückes beschäftigt und gefesselt; er läßt sich daher, wenn ihm die Künste Darstellungen allgemein interessanter Dinge, Vor¬ gänge, Stimmungen entgegenbringen, nicht ungern ans ihre Annahme ein, wenn ihm das uur uicht durch Beleidigung seines beschränkten Geschmacks er¬ schwert und vergällt wird. Allmählich bemerkt er dann im Kunstwerk deu Künstler; er spürt, daß sich der eine Künstler anders ausspricht, überhaupt anders denkt und empfindet als ein zweiter, daß er gewisse Lieblingsgegenstände, Lieblingswendungen hat und abnutzt; er beginnt zu ahnen, was Auffassung und was Technik ist, und alles, was er hierbei entdeckt, ist ihm verständlich, weil die Kunstwerke, auf die er seine Beobachtungen und Schlüsse gründet, durch ihren Mangel an wirklicher Eigenart und durch das Mittelmaß ihrer Schöpfer keine allzu hohen Ansprüche an ihn stellen. Ist er erst soweit ge¬ kommen, so hat er schon viel erreicht, denn sein Kunstgenuß haftet uicht mehr ganz an der Oberfläche, er ist eindringlicher und mannichfaltiger und also fürs Leben ergiebiger geworden. Nunmehr hängt jeder weitere Fortschritt, die Bildung eines individuellen Urteils, die Forderung individueller Leistungen lediglich von der Energie ab, die der Laie für sein Verhältnis zur Kunst auf¬ zuwenden vermag; jedenfalls aber ist, wie wir sehen, seine Seele auf den Weg zum Guten und Schönen gebracht und den idealen Bewegungen gewonnen worden durch die Vermittlung der schlecht- und rechten Künstlermassen. Dem empfänglichen, fein angelegten und hoch entwickelten Laien füllt es allerdings meist schwer, diesen Künstlerscharen gerecht zu werden und ihnen Wert und Leben zu gönnen. Menschen vou strengen Grundsätzen und sittlich verfeinerter Kultur neigen ja, auch wenn sie sich in ihrem Innern gegenüber dein sündhaften Ich zerknirscht und demütig fühlen, zu hochmütiger Verurteilung und herrischer Nichtachtung ihrer Nebenmenschen, die vielleicht nicht ärgere, sondern nur naivere Sündenknechte sind, als sie selbst; noch viel unduldsamer sind ästhetisch fortgeschrittene Laien gegen die zurückgebliebnen Brüder und gegen die Künstler, die ihnen uicht genügen, oder die sie nicht gleich verstehen. Daher in tausend Abstufungen das unerquickliche Eifern in Kuustangelegen- heiten. Mag aber, wer das B begriffen hat, sich gegenüber dem, der erst das A beherrscht, in kindlichem Stolze brüsten — wer bis zum T oder I gelangt ist, sollte billig bedenken, daß auch er nnr im ABC steht, und daß das Lesen, d. h. für unsern Fall: die Beherrschung der ästhetischen Urteile, ihm selbst dem¬ nächst vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzen wird. Vor allem je'doch: sein schroffes Gebahren schreckt zaghafte Laien zurück und lähmt ihren guten Wille»; noch verderblicher wirkt es außerdem auf die Entwicklung der Künste selbst.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/407>, abgerufen am 27.09.2024.