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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Annstgeiiuß des Laien

Schnitzwerk. Und wir, die in verwickelten Verhältnissen und mannichfaltigen
Umgebungen leben, wir gewöhnen uns ein die täglich tausendfältige Aufnahme
von Kunstleistungen aller Art in so hohem Grade, daß uns ohne sie unser
Leben reizlos vorkäme, wie das in einem Gefängnis. Findet doch auch der
Ärmste, der eine Stadt bewohnt, allenthalben Anregung und Kunstgenuß! Wir
baue" neuerdings kaum mehr eiuen Stall, ohne ihn mit Stilformen aus¬
zustatten; Skulpturen sind öffentlich in großer Anzahl aufgestellt; Museen
aller Art sind vorhanden und, wenigstens zeitweise, unentgeltlich zu besuchen;
schon die Schaufenster der Kuustläden bieten eine freie Augenweide. Dem
einfachen Hausrat fehlt selten irgend eine Verzierung; Kunstwerke, freilich oft
sehr fragwürdige, dringen in jede Wohnung und an alle Wände; Theater und
Konzerte sind leicht zugänglich; die klassischste Poesie wird um ein Geringstes
feilgeboten; sogar die Natur wird in Park- und Gartenanlagen aus einer
regellosen Unkultur, die innerhalb der Stadt nur beleidigend wirken könnte,
zur Ordnung und Harmonie gebracht und, künstlerisch gestaltet, als Kunstwerk
genossen. So täuscht sich denn, wer etwa meint, ihn kümmere die Kunst
durchaus nicht, weil er Konzerte nicht besucht und Museen flieht: die Kunst,
zu seinem unerkannten Besten, hat ihn doch, sie besitzt ihn unter Formen, deren
Wert er spüren würde, wenn sie sich ihm entzögen. Aber es ist kein Zweifel,
daß die trotzige wie die gleichgiltige Knnstscheu in unserm fruchtbaren Zeitalter
abnimmt, und daß die Kunstfreude, die den Menschen von dem kaum bewußten
Genuß eines bescheidnen Ornaments an bis zu dem Entzücken an einer Sym¬
phonie in eine ideale Welt hineingewöhnt, ganz entschiedne Fortschritte macht.

Hier kommen wir nun zu dem Nachweise, daß unser Paradoxon von den
nützlichen Mittelmäßigkeiten berechtigt ist. Unter Mittelmäßigkeiten verstehen
wir dabei nicht Dinge wie die allerschuödeste Ausstelluugs- und Lotterieware an
Gemälden oder die ganz teilnahmlos heruutergespielteu Musikstücke eines schlecht
geleiteten Konzerts, sondern wir meinen die Menge von Kunstwerken aller Art,
die die Bezeichnung verdienen, weil sie, wenn auch mit Phantasie ersonnen und mit
tüchtigem Können ausgeführt, von einem doch nur mittelmäßig, nicht hervorragend
begabten Erzeuger stammen; und es ist ja selbstverständlich, daß wir bei einer
theoretischen Darlegung nur das relativ Vollkommne als gut bezeichne".
Relativ, weil kein menschliches Machwerk absolute Vollendung erreicht.

Aber auch das relativ Vollkommne erscheint nicht häufig vor uns. Die
großen Geister, die es leisten, erwachsen ebenso selten wie die berühmten Dia¬
manten. Und gleich dein Diamanten, dessen Härte kaum überwindlich, und dessen
Gefunkel blendend ist, läßt sich das erhabne Kunstwerk nicht ohne weiteres be¬
greifen; je näher es dem vollen Ausdruck seiner Idee steht, desto mehr Über¬
irdisches, Ungewohntes hat es ans der geheimnisvollen Sphäre seiner Erzeugung
>u sich aufgenommen und strahlt es ans. Wie wir ein Bildnis von sprechender
Ähnlichkeit oft als unheimlich empfinden, wie die Italiener den Meister terridilo


Der Annstgeiiuß des Laien

Schnitzwerk. Und wir, die in verwickelten Verhältnissen und mannichfaltigen
Umgebungen leben, wir gewöhnen uns ein die täglich tausendfältige Aufnahme
von Kunstleistungen aller Art in so hohem Grade, daß uns ohne sie unser
Leben reizlos vorkäme, wie das in einem Gefängnis. Findet doch auch der
Ärmste, der eine Stadt bewohnt, allenthalben Anregung und Kunstgenuß! Wir
baue« neuerdings kaum mehr eiuen Stall, ohne ihn mit Stilformen aus¬
zustatten; Skulpturen sind öffentlich in großer Anzahl aufgestellt; Museen
aller Art sind vorhanden und, wenigstens zeitweise, unentgeltlich zu besuchen;
schon die Schaufenster der Kuustläden bieten eine freie Augenweide. Dem
einfachen Hausrat fehlt selten irgend eine Verzierung; Kunstwerke, freilich oft
sehr fragwürdige, dringen in jede Wohnung und an alle Wände; Theater und
Konzerte sind leicht zugänglich; die klassischste Poesie wird um ein Geringstes
feilgeboten; sogar die Natur wird in Park- und Gartenanlagen aus einer
regellosen Unkultur, die innerhalb der Stadt nur beleidigend wirken könnte,
zur Ordnung und Harmonie gebracht und, künstlerisch gestaltet, als Kunstwerk
genossen. So täuscht sich denn, wer etwa meint, ihn kümmere die Kunst
durchaus nicht, weil er Konzerte nicht besucht und Museen flieht: die Kunst,
zu seinem unerkannten Besten, hat ihn doch, sie besitzt ihn unter Formen, deren
Wert er spüren würde, wenn sie sich ihm entzögen. Aber es ist kein Zweifel,
daß die trotzige wie die gleichgiltige Knnstscheu in unserm fruchtbaren Zeitalter
abnimmt, und daß die Kunstfreude, die den Menschen von dem kaum bewußten
Genuß eines bescheidnen Ornaments an bis zu dem Entzücken an einer Sym¬
phonie in eine ideale Welt hineingewöhnt, ganz entschiedne Fortschritte macht.

Hier kommen wir nun zu dem Nachweise, daß unser Paradoxon von den
nützlichen Mittelmäßigkeiten berechtigt ist. Unter Mittelmäßigkeiten verstehen
wir dabei nicht Dinge wie die allerschuödeste Ausstelluugs- und Lotterieware an
Gemälden oder die ganz teilnahmlos heruutergespielteu Musikstücke eines schlecht
geleiteten Konzerts, sondern wir meinen die Menge von Kunstwerken aller Art,
die die Bezeichnung verdienen, weil sie, wenn auch mit Phantasie ersonnen und mit
tüchtigem Können ausgeführt, von einem doch nur mittelmäßig, nicht hervorragend
begabten Erzeuger stammen; und es ist ja selbstverständlich, daß wir bei einer
theoretischen Darlegung nur das relativ Vollkommne als gut bezeichne».
Relativ, weil kein menschliches Machwerk absolute Vollendung erreicht.

Aber auch das relativ Vollkommne erscheint nicht häufig vor uns. Die
großen Geister, die es leisten, erwachsen ebenso selten wie die berühmten Dia¬
manten. Und gleich dein Diamanten, dessen Härte kaum überwindlich, und dessen
Gefunkel blendend ist, läßt sich das erhabne Kunstwerk nicht ohne weiteres be¬
greifen; je näher es dem vollen Ausdruck seiner Idee steht, desto mehr Über¬
irdisches, Ungewohntes hat es ans der geheimnisvollen Sphäre seiner Erzeugung
>u sich aufgenommen und strahlt es ans. Wie wir ein Bildnis von sprechender
Ähnlichkeit oft als unheimlich empfinden, wie die Italiener den Meister terridilo


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[0405] Der Annstgeiiuß des Laien Schnitzwerk. Und wir, die in verwickelten Verhältnissen und mannichfaltigen Umgebungen leben, wir gewöhnen uns ein die täglich tausendfältige Aufnahme von Kunstleistungen aller Art in so hohem Grade, daß uns ohne sie unser Leben reizlos vorkäme, wie das in einem Gefängnis. Findet doch auch der Ärmste, der eine Stadt bewohnt, allenthalben Anregung und Kunstgenuß! Wir baue« neuerdings kaum mehr eiuen Stall, ohne ihn mit Stilformen aus¬ zustatten; Skulpturen sind öffentlich in großer Anzahl aufgestellt; Museen aller Art sind vorhanden und, wenigstens zeitweise, unentgeltlich zu besuchen; schon die Schaufenster der Kuustläden bieten eine freie Augenweide. Dem einfachen Hausrat fehlt selten irgend eine Verzierung; Kunstwerke, freilich oft sehr fragwürdige, dringen in jede Wohnung und an alle Wände; Theater und Konzerte sind leicht zugänglich; die klassischste Poesie wird um ein Geringstes feilgeboten; sogar die Natur wird in Park- und Gartenanlagen aus einer regellosen Unkultur, die innerhalb der Stadt nur beleidigend wirken könnte, zur Ordnung und Harmonie gebracht und, künstlerisch gestaltet, als Kunstwerk genossen. So täuscht sich denn, wer etwa meint, ihn kümmere die Kunst durchaus nicht, weil er Konzerte nicht besucht und Museen flieht: die Kunst, zu seinem unerkannten Besten, hat ihn doch, sie besitzt ihn unter Formen, deren Wert er spüren würde, wenn sie sich ihm entzögen. Aber es ist kein Zweifel, daß die trotzige wie die gleichgiltige Knnstscheu in unserm fruchtbaren Zeitalter abnimmt, und daß die Kunstfreude, die den Menschen von dem kaum bewußten Genuß eines bescheidnen Ornaments an bis zu dem Entzücken an einer Sym¬ phonie in eine ideale Welt hineingewöhnt, ganz entschiedne Fortschritte macht. Hier kommen wir nun zu dem Nachweise, daß unser Paradoxon von den nützlichen Mittelmäßigkeiten berechtigt ist. Unter Mittelmäßigkeiten verstehen wir dabei nicht Dinge wie die allerschuödeste Ausstelluugs- und Lotterieware an Gemälden oder die ganz teilnahmlos heruutergespielteu Musikstücke eines schlecht geleiteten Konzerts, sondern wir meinen die Menge von Kunstwerken aller Art, die die Bezeichnung verdienen, weil sie, wenn auch mit Phantasie ersonnen und mit tüchtigem Können ausgeführt, von einem doch nur mittelmäßig, nicht hervorragend begabten Erzeuger stammen; und es ist ja selbstverständlich, daß wir bei einer theoretischen Darlegung nur das relativ Vollkommne als gut bezeichne». Relativ, weil kein menschliches Machwerk absolute Vollendung erreicht. Aber auch das relativ Vollkommne erscheint nicht häufig vor uns. Die großen Geister, die es leisten, erwachsen ebenso selten wie die berühmten Dia¬ manten. Und gleich dein Diamanten, dessen Härte kaum überwindlich, und dessen Gefunkel blendend ist, läßt sich das erhabne Kunstwerk nicht ohne weiteres be¬ greifen; je näher es dem vollen Ausdruck seiner Idee steht, desto mehr Über¬ irdisches, Ungewohntes hat es ans der geheimnisvollen Sphäre seiner Erzeugung >u sich aufgenommen und strahlt es ans. Wie wir ein Bildnis von sprechender Ähnlichkeit oft als unheimlich empfinden, wie die Italiener den Meister terridilo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/405>, abgerufen am 27.09.2024.