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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Jenseits der Mainlinie

aus irdischen Rücksichten abfiel. Einer der Führer, der Rektor einer höhern Schule,
bewarb sich nach dem Tode seiner ersten Frau um die Tochter eines streng
katholischen Mannes und versprach römisch-katholische Trauung und Kinder¬
erziehung. Da erregten die altkatholischen Frauen einen solchen Sturm der
Entrüstung gegen ihn, daß er genötigt war, um seine Versetzung einzukommen.

Was man in der Jugend begehrt, das hat man im Alter die Fülle.
Die sechs Liegnitzer Jahre abgerechnet, wo der größte Teil meiner Zeit von
Amtsgeschäften in Anspruch genommen worden war, hatte ich mich immer über
zu wenig Arbeit zu beklagen gehabt. In dieser Beziehung bin ich nun vou
meinem zweiundvierzigsten Lebensjahre ab leidlich zufrieden gestellt worden.
In Offenburg war die Arbeit noch mäßig. Ich hatte nur vierzehn bis sech¬
zehn Religionsstunden die Woche zu geben und etliche Zeitungsartikel zu
schreiben. Vorträge hatte ich, außer den Predigten, nur wenige zu halten.
Gleich im Anfange brannte ich vor Begierde, dnrch Agitationsvorträge die
Gemeinde zu vergrößern, und es wurde einer veranstaltet. Das Ergebnis
war, daß sich zwei Männer in das bereit liegende Verzeichnis der Gemeinde¬
mitglieder einschreiben ließen; mehr könntens anch nicht sein, denn außer den
Gemeindemitgliedern und diesen beiden, die schon vorher, vielleicht von ihrem
Brodherrn, gewonnen worden waren, war niemand erschienen. "Ha ha ha,
doas hätt ich Ihna bald sage könne; die nit gleich zu Ahnfang komme sind, die
komme jetz erscht net," sagte der ehrliche, phlegmatische Kreisgerichtsrat M., als
ich meiner Enttäuschung Ausdruck gab. Zeitungsartikel hatte ich zunächst für
das Lokalblatt, den Ortenauer Voden, zu schreiben, und da verwickelte ich mich
denn bald in eine Polemik mit dem Dekan Förderer, der den Lahrer Anzeiger
herausgab. In der polemischen Hitze entfuhr mir einmal das Wort Lügner.
Da belehrte mich denn eine Verurteilung, daß man zwar sagen dürfe: der und
der hat die Unwahrheit gesprochen, nicht aber: er ist ein Lügner. Und bei
reiflichem Nachdenken habe ich dann gefunden, daß die Herren Juristen in
diesem Falle auch vom moralischen Standpunkt aus Recht haben. Denn mit¬
unter eine Unwahrheit zu sagen, ist allgemeines Menschenschicksal, aber darum
ist noch nicht jeder, dem es einmal zustößt, ein unwahrhaftiger Mensch. Zwar
behaupten der Psalmist und der Apostel Paulus: jeder Mensch ist ein Lügner,
aber yuoä liest ^ovi, non liest bovi, und dann meint mans wohl auch anders,
wenn man einen im Streit einen Lügner schimpft. Die Strafsumme wurde
von einem ungenannten Wohlthäter gedeckt, aber die Kosten beliefen sich bei¬
nahe ebenso hoch und waren mir, wenn auch an sich nicht bedeutend, doch
empfindlich, weil mein Gehalt von zwölfhundert Gulden, von dem ich auch
die Wohnung und die Unterstützung meiner Mutter zu bestreikn hatte, für
solche außerordentliche Lustbarkeiten nichts übrig ließ, und so nahm ich nur
denn vor, in Zukunft die Worte sorgfältiger abzuwägen, woraus man sehen
kann, daß Strafe" nicht ganz unnütz sind. Dann schrieb ich fleißig für den


Jenseits der Mainlinie

aus irdischen Rücksichten abfiel. Einer der Führer, der Rektor einer höhern Schule,
bewarb sich nach dem Tode seiner ersten Frau um die Tochter eines streng
katholischen Mannes und versprach römisch-katholische Trauung und Kinder¬
erziehung. Da erregten die altkatholischen Frauen einen solchen Sturm der
Entrüstung gegen ihn, daß er genötigt war, um seine Versetzung einzukommen.

Was man in der Jugend begehrt, das hat man im Alter die Fülle.
Die sechs Liegnitzer Jahre abgerechnet, wo der größte Teil meiner Zeit von
Amtsgeschäften in Anspruch genommen worden war, hatte ich mich immer über
zu wenig Arbeit zu beklagen gehabt. In dieser Beziehung bin ich nun vou
meinem zweiundvierzigsten Lebensjahre ab leidlich zufrieden gestellt worden.
In Offenburg war die Arbeit noch mäßig. Ich hatte nur vierzehn bis sech¬
zehn Religionsstunden die Woche zu geben und etliche Zeitungsartikel zu
schreiben. Vorträge hatte ich, außer den Predigten, nur wenige zu halten.
Gleich im Anfange brannte ich vor Begierde, dnrch Agitationsvorträge die
Gemeinde zu vergrößern, und es wurde einer veranstaltet. Das Ergebnis
war, daß sich zwei Männer in das bereit liegende Verzeichnis der Gemeinde¬
mitglieder einschreiben ließen; mehr könntens anch nicht sein, denn außer den
Gemeindemitgliedern und diesen beiden, die schon vorher, vielleicht von ihrem
Brodherrn, gewonnen worden waren, war niemand erschienen. „Ha ha ha,
doas hätt ich Ihna bald sage könne; die nit gleich zu Ahnfang komme sind, die
komme jetz erscht net," sagte der ehrliche, phlegmatische Kreisgerichtsrat M., als
ich meiner Enttäuschung Ausdruck gab. Zeitungsartikel hatte ich zunächst für
das Lokalblatt, den Ortenauer Voden, zu schreiben, und da verwickelte ich mich
denn bald in eine Polemik mit dem Dekan Förderer, der den Lahrer Anzeiger
herausgab. In der polemischen Hitze entfuhr mir einmal das Wort Lügner.
Da belehrte mich denn eine Verurteilung, daß man zwar sagen dürfe: der und
der hat die Unwahrheit gesprochen, nicht aber: er ist ein Lügner. Und bei
reiflichem Nachdenken habe ich dann gefunden, daß die Herren Juristen in
diesem Falle auch vom moralischen Standpunkt aus Recht haben. Denn mit¬
unter eine Unwahrheit zu sagen, ist allgemeines Menschenschicksal, aber darum
ist noch nicht jeder, dem es einmal zustößt, ein unwahrhaftiger Mensch. Zwar
behaupten der Psalmist und der Apostel Paulus: jeder Mensch ist ein Lügner,
aber yuoä liest ^ovi, non liest bovi, und dann meint mans wohl auch anders,
wenn man einen im Streit einen Lügner schimpft. Die Strafsumme wurde
von einem ungenannten Wohlthäter gedeckt, aber die Kosten beliefen sich bei¬
nahe ebenso hoch und waren mir, wenn auch an sich nicht bedeutend, doch
empfindlich, weil mein Gehalt von zwölfhundert Gulden, von dem ich auch
die Wohnung und die Unterstützung meiner Mutter zu bestreikn hatte, für
solche außerordentliche Lustbarkeiten nichts übrig ließ, und so nahm ich nur
denn vor, in Zukunft die Worte sorgfältiger abzuwägen, woraus man sehen
kann, daß Strafe» nicht ganz unnütz sind. Dann schrieb ich fleißig für den


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[0396] Jenseits der Mainlinie aus irdischen Rücksichten abfiel. Einer der Führer, der Rektor einer höhern Schule, bewarb sich nach dem Tode seiner ersten Frau um die Tochter eines streng katholischen Mannes und versprach römisch-katholische Trauung und Kinder¬ erziehung. Da erregten die altkatholischen Frauen einen solchen Sturm der Entrüstung gegen ihn, daß er genötigt war, um seine Versetzung einzukommen. Was man in der Jugend begehrt, das hat man im Alter die Fülle. Die sechs Liegnitzer Jahre abgerechnet, wo der größte Teil meiner Zeit von Amtsgeschäften in Anspruch genommen worden war, hatte ich mich immer über zu wenig Arbeit zu beklagen gehabt. In dieser Beziehung bin ich nun vou meinem zweiundvierzigsten Lebensjahre ab leidlich zufrieden gestellt worden. In Offenburg war die Arbeit noch mäßig. Ich hatte nur vierzehn bis sech¬ zehn Religionsstunden die Woche zu geben und etliche Zeitungsartikel zu schreiben. Vorträge hatte ich, außer den Predigten, nur wenige zu halten. Gleich im Anfange brannte ich vor Begierde, dnrch Agitationsvorträge die Gemeinde zu vergrößern, und es wurde einer veranstaltet. Das Ergebnis war, daß sich zwei Männer in das bereit liegende Verzeichnis der Gemeinde¬ mitglieder einschreiben ließen; mehr könntens anch nicht sein, denn außer den Gemeindemitgliedern und diesen beiden, die schon vorher, vielleicht von ihrem Brodherrn, gewonnen worden waren, war niemand erschienen. „Ha ha ha, doas hätt ich Ihna bald sage könne; die nit gleich zu Ahnfang komme sind, die komme jetz erscht net," sagte der ehrliche, phlegmatische Kreisgerichtsrat M., als ich meiner Enttäuschung Ausdruck gab. Zeitungsartikel hatte ich zunächst für das Lokalblatt, den Ortenauer Voden, zu schreiben, und da verwickelte ich mich denn bald in eine Polemik mit dem Dekan Förderer, der den Lahrer Anzeiger herausgab. In der polemischen Hitze entfuhr mir einmal das Wort Lügner. Da belehrte mich denn eine Verurteilung, daß man zwar sagen dürfe: der und der hat die Unwahrheit gesprochen, nicht aber: er ist ein Lügner. Und bei reiflichem Nachdenken habe ich dann gefunden, daß die Herren Juristen in diesem Falle auch vom moralischen Standpunkt aus Recht haben. Denn mit¬ unter eine Unwahrheit zu sagen, ist allgemeines Menschenschicksal, aber darum ist noch nicht jeder, dem es einmal zustößt, ein unwahrhaftiger Mensch. Zwar behaupten der Psalmist und der Apostel Paulus: jeder Mensch ist ein Lügner, aber yuoä liest ^ovi, non liest bovi, und dann meint mans wohl auch anders, wenn man einen im Streit einen Lügner schimpft. Die Strafsumme wurde von einem ungenannten Wohlthäter gedeckt, aber die Kosten beliefen sich bei¬ nahe ebenso hoch und waren mir, wenn auch an sich nicht bedeutend, doch empfindlich, weil mein Gehalt von zwölfhundert Gulden, von dem ich auch die Wohnung und die Unterstützung meiner Mutter zu bestreikn hatte, für solche außerordentliche Lustbarkeiten nichts übrig ließ, und so nahm ich nur denn vor, in Zukunft die Worte sorgfältiger abzuwägen, woraus man sehen kann, daß Strafe» nicht ganz unnütz sind. Dann schrieb ich fleißig für den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/396>, abgerufen am 27.09.2024.