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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Kreta

Ist es da nun ein Wunder in diesem Zeitalter des siegreichen Nationalitäts¬
prinzips, daß die Sympathien der Griechen im Königreiche den aufständischen
Kretern, ihren Volks- und Glaubensgenossen, gehören, und daß eine junge
Dynastie wie diese, die noch leine tiefen Wurzeln im Lande hat, und eine
Regierung, die nach der Verfassung immer der Mehrheit der Volksvertretung
entsprechen muß, dieser Gesinnung ihres Volkes schließlich nachgegeben und sich
auf jede Gefahr hin entschlossen hat, Kreta zu besetzen, um es vor einer aber¬
maligen gewaltsamen Unterdrttcknng zu schützen? Wir finden diese Handlungs¬
weise der Negierung um so begreiflicher, als ihr wahrscheinlich gar keine Wahl
geblieben ist, und die Gesinnung des griechischen Volks erscheint uns löblicher
und ehrenwerter, als etwa die leidselige Geduld, mit der wir Deutschen der
jahrzehntelangen Mißhandlung unser deutschen Landsleute in den baltischen
Provinzen Rußlands zusehen -- ohne daß wir damit sagen wollten, daß die
deutsche Regierung deshalb zum Schwerte greifen müßte; denn zwischen dem,
was ein Volk denken und sagen darf, und dem, was eine für sein Wohl und
Wehe verantwortliche Negierung thun kann, ist ein großer Unterschied. Wenn
nun die griechische Negierung auf Kreta schließlich eingeschritten ist, nicht durch
Freischaren, sondern durch ihre Truppen, unter ihrer eignen vollen Verantwort¬
lichkeit, so hat sie zwar das Völkerrecht formell verletzt, weil sie vorher nicht
den Krieg erklärt hat, aber sie hat im Grunde ehrlicher gehandelt als die
russische, die unter dem Drucke der panslawistischen Partei 1876 Scharen von
Freiwilligen den Serben zu Hilfe schickte; oder als die piemontesische, die 1860
Garibaldis Nothemdcn nach Sizilien gehen ließ und erst Monate nachher ihre
Truppen gegen die Bourbonen sandte. Aller billigen moralischen Entrüstung,
an der es damals so wenig fehlte wie heute, konnten beide Regierungen den
Satz entgegenhalten: "Wir thaten, was wir mußten, wir konnten nicht anders,"
und die Geschichte hat ihnen Recht gegeben.

Und was anders hat denn das Einschreiten Griechenlands auf Kreta ver¬
schuldet, als die Haltung der Großmächte? Sie haben nicht nur nichts gethan,
um die von ihnen den Kretern verschafften Reformen wirklich ins Leben zu
führen, sondern sie haben dann anch noch Türken und Griechen auf Kreta
miteinander handgemein werden lassen, ohne daß ihre Kriegsschiffe etwas andres
geleistet hätten, als christliche Flüchtlinge aufzunehmen; sie haben sich erst dann,
und zwar erst auf Anregung unsers Kaisers, entschlossen, die wichtigsten Häfen zu
besetzen, als die griechische Intervention schon erfolgt war; diese hat also un¬
zweifelhaft das Verdienst, bewirkt zu haben, daß überhaupt etwas geschehen ist.
Warum es so steht, ist sonnenklar. Die wichtigsten Interessen der Großmächte
laufen einander im Orient so schnurstracks entgegen, daß keine einen ernstern
Konflikt mit einer andern wagen kann, ohne den Weltkrieg zu entfesseln, und
der Einsatz ist bei einem solchen Kriege für jede so riesengroß, daß keine sich
entschließen mag, dir furchtbare Verantwortung auf sich zu laden. Darin, und


Kreta

Ist es da nun ein Wunder in diesem Zeitalter des siegreichen Nationalitäts¬
prinzips, daß die Sympathien der Griechen im Königreiche den aufständischen
Kretern, ihren Volks- und Glaubensgenossen, gehören, und daß eine junge
Dynastie wie diese, die noch leine tiefen Wurzeln im Lande hat, und eine
Regierung, die nach der Verfassung immer der Mehrheit der Volksvertretung
entsprechen muß, dieser Gesinnung ihres Volkes schließlich nachgegeben und sich
auf jede Gefahr hin entschlossen hat, Kreta zu besetzen, um es vor einer aber¬
maligen gewaltsamen Unterdrttcknng zu schützen? Wir finden diese Handlungs¬
weise der Negierung um so begreiflicher, als ihr wahrscheinlich gar keine Wahl
geblieben ist, und die Gesinnung des griechischen Volks erscheint uns löblicher
und ehrenwerter, als etwa die leidselige Geduld, mit der wir Deutschen der
jahrzehntelangen Mißhandlung unser deutschen Landsleute in den baltischen
Provinzen Rußlands zusehen — ohne daß wir damit sagen wollten, daß die
deutsche Regierung deshalb zum Schwerte greifen müßte; denn zwischen dem,
was ein Volk denken und sagen darf, und dem, was eine für sein Wohl und
Wehe verantwortliche Negierung thun kann, ist ein großer Unterschied. Wenn
nun die griechische Negierung auf Kreta schließlich eingeschritten ist, nicht durch
Freischaren, sondern durch ihre Truppen, unter ihrer eignen vollen Verantwort¬
lichkeit, so hat sie zwar das Völkerrecht formell verletzt, weil sie vorher nicht
den Krieg erklärt hat, aber sie hat im Grunde ehrlicher gehandelt als die
russische, die unter dem Drucke der panslawistischen Partei 1876 Scharen von
Freiwilligen den Serben zu Hilfe schickte; oder als die piemontesische, die 1860
Garibaldis Nothemdcn nach Sizilien gehen ließ und erst Monate nachher ihre
Truppen gegen die Bourbonen sandte. Aller billigen moralischen Entrüstung,
an der es damals so wenig fehlte wie heute, konnten beide Regierungen den
Satz entgegenhalten: „Wir thaten, was wir mußten, wir konnten nicht anders,"
und die Geschichte hat ihnen Recht gegeben.

Und was anders hat denn das Einschreiten Griechenlands auf Kreta ver¬
schuldet, als die Haltung der Großmächte? Sie haben nicht nur nichts gethan,
um die von ihnen den Kretern verschafften Reformen wirklich ins Leben zu
führen, sondern sie haben dann anch noch Türken und Griechen auf Kreta
miteinander handgemein werden lassen, ohne daß ihre Kriegsschiffe etwas andres
geleistet hätten, als christliche Flüchtlinge aufzunehmen; sie haben sich erst dann,
und zwar erst auf Anregung unsers Kaisers, entschlossen, die wichtigsten Häfen zu
besetzen, als die griechische Intervention schon erfolgt war; diese hat also un¬
zweifelhaft das Verdienst, bewirkt zu haben, daß überhaupt etwas geschehen ist.
Warum es so steht, ist sonnenklar. Die wichtigsten Interessen der Großmächte
laufen einander im Orient so schnurstracks entgegen, daß keine einen ernstern
Konflikt mit einer andern wagen kann, ohne den Weltkrieg zu entfesseln, und
der Einsatz ist bei einem solchen Kriege für jede so riesengroß, daß keine sich
entschließen mag, dir furchtbare Verantwortung auf sich zu laden. Darin, und


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[0379] Kreta Ist es da nun ein Wunder in diesem Zeitalter des siegreichen Nationalitäts¬ prinzips, daß die Sympathien der Griechen im Königreiche den aufständischen Kretern, ihren Volks- und Glaubensgenossen, gehören, und daß eine junge Dynastie wie diese, die noch leine tiefen Wurzeln im Lande hat, und eine Regierung, die nach der Verfassung immer der Mehrheit der Volksvertretung entsprechen muß, dieser Gesinnung ihres Volkes schließlich nachgegeben und sich auf jede Gefahr hin entschlossen hat, Kreta zu besetzen, um es vor einer aber¬ maligen gewaltsamen Unterdrttcknng zu schützen? Wir finden diese Handlungs¬ weise der Negierung um so begreiflicher, als ihr wahrscheinlich gar keine Wahl geblieben ist, und die Gesinnung des griechischen Volks erscheint uns löblicher und ehrenwerter, als etwa die leidselige Geduld, mit der wir Deutschen der jahrzehntelangen Mißhandlung unser deutschen Landsleute in den baltischen Provinzen Rußlands zusehen — ohne daß wir damit sagen wollten, daß die deutsche Regierung deshalb zum Schwerte greifen müßte; denn zwischen dem, was ein Volk denken und sagen darf, und dem, was eine für sein Wohl und Wehe verantwortliche Negierung thun kann, ist ein großer Unterschied. Wenn nun die griechische Negierung auf Kreta schließlich eingeschritten ist, nicht durch Freischaren, sondern durch ihre Truppen, unter ihrer eignen vollen Verantwort¬ lichkeit, so hat sie zwar das Völkerrecht formell verletzt, weil sie vorher nicht den Krieg erklärt hat, aber sie hat im Grunde ehrlicher gehandelt als die russische, die unter dem Drucke der panslawistischen Partei 1876 Scharen von Freiwilligen den Serben zu Hilfe schickte; oder als die piemontesische, die 1860 Garibaldis Nothemdcn nach Sizilien gehen ließ und erst Monate nachher ihre Truppen gegen die Bourbonen sandte. Aller billigen moralischen Entrüstung, an der es damals so wenig fehlte wie heute, konnten beide Regierungen den Satz entgegenhalten: „Wir thaten, was wir mußten, wir konnten nicht anders," und die Geschichte hat ihnen Recht gegeben. Und was anders hat denn das Einschreiten Griechenlands auf Kreta ver¬ schuldet, als die Haltung der Großmächte? Sie haben nicht nur nichts gethan, um die von ihnen den Kretern verschafften Reformen wirklich ins Leben zu führen, sondern sie haben dann anch noch Türken und Griechen auf Kreta miteinander handgemein werden lassen, ohne daß ihre Kriegsschiffe etwas andres geleistet hätten, als christliche Flüchtlinge aufzunehmen; sie haben sich erst dann, und zwar erst auf Anregung unsers Kaisers, entschlossen, die wichtigsten Häfen zu besetzen, als die griechische Intervention schon erfolgt war; diese hat also un¬ zweifelhaft das Verdienst, bewirkt zu haben, daß überhaupt etwas geschehen ist. Warum es so steht, ist sonnenklar. Die wichtigsten Interessen der Großmächte laufen einander im Orient so schnurstracks entgegen, daß keine einen ernstern Konflikt mit einer andern wagen kann, ohne den Weltkrieg zu entfesseln, und der Einsatz ist bei einem solchen Kriege für jede so riesengroß, daß keine sich entschließen mag, dir furchtbare Verantwortung auf sich zu laden. Darin, und

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/379>, abgerufen am 27.09.2024.