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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

wird Marx mit der einen Hälfte seiner Prophezeiungen Recht behalten. In
der Aussicht auf die Zukunft, die er eröffnet, findet sich, wie Wenckstern richtig
hervorhebt, ein unlöslicher Widerspruch. Der kapitalistische Jndustrialismus
soll allmählich das ganze Volk verelenden und jeden einzelnen durch einförmige,
alles geistige Leben ertötende Maschinenarbeit selber zur Maschine machen (diesen
Gang schien die Entwicklung damals in England in der That nehmen zu wollen).
Dann aber soll diese cntgeistete und entnervte Masse das Ruder des Staates
in die Hand nehmen und eine höhere und vollkommnere Gesellschafts- und
Produktionsordnung durchführen. Entweder, sage auch ich mit Wenckstern,
wird die Verelendung fortschreiten, dann wird dieses verelendete Proletariat
nimmermehr den Zukunftsstaat aufbauen, oder es wird nach dem großen
Kladderadatsch, falls wirklich einer eintreten sollte, zwar nicht utopische Träume
verwirklichen, aber doch etwas haltbares schaffen, und dann muß es einen
hohen Grad von Bildung und Tüchtigkeit erreicht haben, es muß ihm also
schou in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sehr gut gegangen sein. Wenn
es uns nicht gelingt, Abzugskanäle zu öffnen, so wird, glaube ich, die erste
der beiden Möglichkeiten eintreten; das zunehmende Elend wird die Arbeiter
natürlich nicht hindern, revolutionär zu sein, vielmehr ihre revolutionäre Ge¬
sinnung, wenn auch nicht ihre revolutionäre Kraft erhöhen, aber zu leisten
werden sie nichts vermögen, wenn ihnen ein Pulses gelingen oder ein wirt¬
schaftlicher Zusammenbruch ohne Gewaltthätigkeit ein Versuchsfeld darbieten
sollte; das Ende würde dann nicht eine neue, schönere Welt, sondern langsames
Absterben des Volkes in einem Sumpfe sein. Es wäre ein Unglück, wenn
diese trübe Möglichkeit von den Massen vorzeitig ins Auge gefaßt würde, denn
das würde alle jetzt noch Strebenden lähmen. Wenckstern hat das Verhältnis
Marxens zu mehreren Philosophen sehr schön dargestellt und schließt den Ab¬
schnitt über Schopenhauer mit den Worten: "Daß Marx im Grunde nur auf
die "unmittelbaren Produzenten" geachtet hat, senkt den Wert seines Werkes.
Daß er aber in einem Zeitalter, in welchem die Seuche des Pessimismus die
andern Klassen ergriffen und Massenelend infolge der zügellosen Anwendung
moderner Industrien die Muskelarbeit leistenden Klassen gefährdete, den Kampf
innerhalb des Sansara, der ihm furchtbar erscheinenden Gegenwart, aufnahm,
macht sein Werk doch auch für den schärfsten Gegner zu einem willkommnen."




Zur Kritik des Marxismus

wird Marx mit der einen Hälfte seiner Prophezeiungen Recht behalten. In
der Aussicht auf die Zukunft, die er eröffnet, findet sich, wie Wenckstern richtig
hervorhebt, ein unlöslicher Widerspruch. Der kapitalistische Jndustrialismus
soll allmählich das ganze Volk verelenden und jeden einzelnen durch einförmige,
alles geistige Leben ertötende Maschinenarbeit selber zur Maschine machen (diesen
Gang schien die Entwicklung damals in England in der That nehmen zu wollen).
Dann aber soll diese cntgeistete und entnervte Masse das Ruder des Staates
in die Hand nehmen und eine höhere und vollkommnere Gesellschafts- und
Produktionsordnung durchführen. Entweder, sage auch ich mit Wenckstern,
wird die Verelendung fortschreiten, dann wird dieses verelendete Proletariat
nimmermehr den Zukunftsstaat aufbauen, oder es wird nach dem großen
Kladderadatsch, falls wirklich einer eintreten sollte, zwar nicht utopische Träume
verwirklichen, aber doch etwas haltbares schaffen, und dann muß es einen
hohen Grad von Bildung und Tüchtigkeit erreicht haben, es muß ihm also
schou in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sehr gut gegangen sein. Wenn
es uns nicht gelingt, Abzugskanäle zu öffnen, so wird, glaube ich, die erste
der beiden Möglichkeiten eintreten; das zunehmende Elend wird die Arbeiter
natürlich nicht hindern, revolutionär zu sein, vielmehr ihre revolutionäre Ge¬
sinnung, wenn auch nicht ihre revolutionäre Kraft erhöhen, aber zu leisten
werden sie nichts vermögen, wenn ihnen ein Pulses gelingen oder ein wirt¬
schaftlicher Zusammenbruch ohne Gewaltthätigkeit ein Versuchsfeld darbieten
sollte; das Ende würde dann nicht eine neue, schönere Welt, sondern langsames
Absterben des Volkes in einem Sumpfe sein. Es wäre ein Unglück, wenn
diese trübe Möglichkeit von den Massen vorzeitig ins Auge gefaßt würde, denn
das würde alle jetzt noch Strebenden lähmen. Wenckstern hat das Verhältnis
Marxens zu mehreren Philosophen sehr schön dargestellt und schließt den Ab¬
schnitt über Schopenhauer mit den Worten: „Daß Marx im Grunde nur auf
die »unmittelbaren Produzenten« geachtet hat, senkt den Wert seines Werkes.
Daß er aber in einem Zeitalter, in welchem die Seuche des Pessimismus die
andern Klassen ergriffen und Massenelend infolge der zügellosen Anwendung
moderner Industrien die Muskelarbeit leistenden Klassen gefährdete, den Kampf
innerhalb des Sansara, der ihm furchtbar erscheinenden Gegenwart, aufnahm,
macht sein Werk doch auch für den schärfsten Gegner zu einem willkommnen."




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[0354] Zur Kritik des Marxismus wird Marx mit der einen Hälfte seiner Prophezeiungen Recht behalten. In der Aussicht auf die Zukunft, die er eröffnet, findet sich, wie Wenckstern richtig hervorhebt, ein unlöslicher Widerspruch. Der kapitalistische Jndustrialismus soll allmählich das ganze Volk verelenden und jeden einzelnen durch einförmige, alles geistige Leben ertötende Maschinenarbeit selber zur Maschine machen (diesen Gang schien die Entwicklung damals in England in der That nehmen zu wollen). Dann aber soll diese cntgeistete und entnervte Masse das Ruder des Staates in die Hand nehmen und eine höhere und vollkommnere Gesellschafts- und Produktionsordnung durchführen. Entweder, sage auch ich mit Wenckstern, wird die Verelendung fortschreiten, dann wird dieses verelendete Proletariat nimmermehr den Zukunftsstaat aufbauen, oder es wird nach dem großen Kladderadatsch, falls wirklich einer eintreten sollte, zwar nicht utopische Träume verwirklichen, aber doch etwas haltbares schaffen, und dann muß es einen hohen Grad von Bildung und Tüchtigkeit erreicht haben, es muß ihm also schou in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sehr gut gegangen sein. Wenn es uns nicht gelingt, Abzugskanäle zu öffnen, so wird, glaube ich, die erste der beiden Möglichkeiten eintreten; das zunehmende Elend wird die Arbeiter natürlich nicht hindern, revolutionär zu sein, vielmehr ihre revolutionäre Ge¬ sinnung, wenn auch nicht ihre revolutionäre Kraft erhöhen, aber zu leisten werden sie nichts vermögen, wenn ihnen ein Pulses gelingen oder ein wirt¬ schaftlicher Zusammenbruch ohne Gewaltthätigkeit ein Versuchsfeld darbieten sollte; das Ende würde dann nicht eine neue, schönere Welt, sondern langsames Absterben des Volkes in einem Sumpfe sein. Es wäre ein Unglück, wenn diese trübe Möglichkeit von den Massen vorzeitig ins Auge gefaßt würde, denn das würde alle jetzt noch Strebenden lähmen. Wenckstern hat das Verhältnis Marxens zu mehreren Philosophen sehr schön dargestellt und schließt den Ab¬ schnitt über Schopenhauer mit den Worten: „Daß Marx im Grunde nur auf die »unmittelbaren Produzenten« geachtet hat, senkt den Wert seines Werkes. Daß er aber in einem Zeitalter, in welchem die Seuche des Pessimismus die andern Klassen ergriffen und Massenelend infolge der zügellosen Anwendung moderner Industrien die Muskelarbeit leistenden Klassen gefährdete, den Kampf innerhalb des Sansara, der ihm furchtbar erscheinenden Gegenwart, aufnahm, macht sein Werk doch auch für den schärfsten Gegner zu einem willkommnen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/354>, abgerufen am 27.09.2024.