Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf

wesentlich anders liegen, weil hier das Mitleid der Besitzenden, ohne das heute
kein größerer Aufstand bestehen kann, zunächst mit ins Spiel kommt? Der
Hamburger Aufstand hat gelehrt, daß es damit oft ganz unerwartet rasch zu
Ende gehen kann.

Der Hamburger Streik hat aber noch etwas gelehrt, und das ist, daß
das wirksamste Mittel zur Bekämpfung eines Streiks die möglichst rasche und
ausgiebige Heranziehung von Ersatzkosten ist, in der die Hamburger Reeber
bei gutem Willen noch viel mehr hätten leisten können. Bei einem künftigen
Streik, namentlich wenn er in den Winter fällt, wo ja nach der letzten Arbeits-
loseuzühlung die Anzahl der Arbeitslosen beträchtlich größer ist als im Sommer,
ist es nicht ausgeschlossen, daß die Arbeiter eines Tags, wenn sie sich ent¬
schließen, die Arbeit wieder aufzunehmen, alle ihre Stellen besetzt finden, und
kein einziger von ihnen in Arbeit genommen wird, ja daß man ihnen erklärt:
"Wie sollten wir dazu kommen, euch wieder in Dienst zu nehmen, nachdem
wir gesehen haben, daß ihr euch kein Gewissen daraus macht, uns um Mil¬
lionen zu schädigen, um eure eignen Löhne über den Konkurrenzwert eurer
Arbeit emporzutreiben? Und wie sollten wir die Arbeiter entlassen, die uns
beigesprungen sind, als wir in einer Notlage waren?"

Somit wäre die Lage der in einem Streik uuterleguen und durch Ersatz¬
leute aus ihren Stellungen verdrängten Arbeiter in jedem Falle hoffnungslos?
Solange man die Frage der persönlichen Arbeitsleistung außer Acht läßt, aller¬
dings. Aber zum Glück sür den Arbeiter darf man diese Frage nicht außer
Acht lassen. Man kann, ohne zu übertreiben, behaupten, daß die Arbeitsleistung
der Ersatzmänner der der Streitenden niemals gleichwertig ist. Selbst bei
Schcmerleutcu, die doch mit den in einem bestimmten Fache ausgebildeten In¬
dustriearbeitern sicherlich durchschnittlich nicht auf einer Stufe stehen, ist das nicht
der Fall. Es gehört langjährige Übung und Erfahrung dazu, um all die kleinen
Vorteile des Lade- und Entladchandwerks zu erlernen. Wo z. B., wie in allen
größern Häfen, die Kohlen waggonweise durch eine Art von Fludern oder breite
Rinnen in das Schiff geschüttet werden, da vermögen zwei geschulte Arbeiter, die
die Fluderthüreu genau auf deu Augenblick etwas mehr schließen oder öffnen,
mindestens so viel zu leisten wie sechs ungeschickte, die die Kohlen erst an tote
Stellen rollen lassen, von denen sie mit Menschenhand wieder entfernt werden
müssen- Man braucht sich anch nur einmal früh zwischen sechs und sieben
Uhr an die Londoner Docks zu bemühen und den zur sichern und unsichern
Hafenarbcit wandernden Leuten und ihren Schicksalen am Dockeingang zuzu¬
sehen, um sich klar zu werden, welche Bedeutung die geschulte tüchtige Arbeit
beim Einladen und Ausladen hat. Die besten paar hundert Arbeiter werden
jedesmal schon am Abend vorher für den folgenden Tag in Lohn genommen,
und bei Mehrbedarf am nächsten Morgen verstehen es die Aufseher, die so
gut wie alle sich zur Arbeit meldenden Leute mit Namen kennen, ganz vor-


Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf

wesentlich anders liegen, weil hier das Mitleid der Besitzenden, ohne das heute
kein größerer Aufstand bestehen kann, zunächst mit ins Spiel kommt? Der
Hamburger Aufstand hat gelehrt, daß es damit oft ganz unerwartet rasch zu
Ende gehen kann.

Der Hamburger Streik hat aber noch etwas gelehrt, und das ist, daß
das wirksamste Mittel zur Bekämpfung eines Streiks die möglichst rasche und
ausgiebige Heranziehung von Ersatzkosten ist, in der die Hamburger Reeber
bei gutem Willen noch viel mehr hätten leisten können. Bei einem künftigen
Streik, namentlich wenn er in den Winter fällt, wo ja nach der letzten Arbeits-
loseuzühlung die Anzahl der Arbeitslosen beträchtlich größer ist als im Sommer,
ist es nicht ausgeschlossen, daß die Arbeiter eines Tags, wenn sie sich ent¬
schließen, die Arbeit wieder aufzunehmen, alle ihre Stellen besetzt finden, und
kein einziger von ihnen in Arbeit genommen wird, ja daß man ihnen erklärt:
„Wie sollten wir dazu kommen, euch wieder in Dienst zu nehmen, nachdem
wir gesehen haben, daß ihr euch kein Gewissen daraus macht, uns um Mil¬
lionen zu schädigen, um eure eignen Löhne über den Konkurrenzwert eurer
Arbeit emporzutreiben? Und wie sollten wir die Arbeiter entlassen, die uns
beigesprungen sind, als wir in einer Notlage waren?"

Somit wäre die Lage der in einem Streik uuterleguen und durch Ersatz¬
leute aus ihren Stellungen verdrängten Arbeiter in jedem Falle hoffnungslos?
Solange man die Frage der persönlichen Arbeitsleistung außer Acht läßt, aller¬
dings. Aber zum Glück sür den Arbeiter darf man diese Frage nicht außer
Acht lassen. Man kann, ohne zu übertreiben, behaupten, daß die Arbeitsleistung
der Ersatzmänner der der Streitenden niemals gleichwertig ist. Selbst bei
Schcmerleutcu, die doch mit den in einem bestimmten Fache ausgebildeten In¬
dustriearbeitern sicherlich durchschnittlich nicht auf einer Stufe stehen, ist das nicht
der Fall. Es gehört langjährige Übung und Erfahrung dazu, um all die kleinen
Vorteile des Lade- und Entladchandwerks zu erlernen. Wo z. B., wie in allen
größern Häfen, die Kohlen waggonweise durch eine Art von Fludern oder breite
Rinnen in das Schiff geschüttet werden, da vermögen zwei geschulte Arbeiter, die
die Fluderthüreu genau auf deu Augenblick etwas mehr schließen oder öffnen,
mindestens so viel zu leisten wie sechs ungeschickte, die die Kohlen erst an tote
Stellen rollen lassen, von denen sie mit Menschenhand wieder entfernt werden
müssen- Man braucht sich anch nur einmal früh zwischen sechs und sieben
Uhr an die Londoner Docks zu bemühen und den zur sichern und unsichern
Hafenarbcit wandernden Leuten und ihren Schicksalen am Dockeingang zuzu¬
sehen, um sich klar zu werden, welche Bedeutung die geschulte tüchtige Arbeit
beim Einladen und Ausladen hat. Die besten paar hundert Arbeiter werden
jedesmal schon am Abend vorher für den folgenden Tag in Lohn genommen,
und bei Mehrbedarf am nächsten Morgen verstehen es die Aufseher, die so
gut wie alle sich zur Arbeit meldenden Leute mit Namen kennen, ganz vor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0228" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224474"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_608" prev="#ID_607"> wesentlich anders liegen, weil hier das Mitleid der Besitzenden, ohne das heute<lb/>
kein größerer Aufstand bestehen kann, zunächst mit ins Spiel kommt? Der<lb/>
Hamburger Aufstand hat gelehrt, daß es damit oft ganz unerwartet rasch zu<lb/>
Ende gehen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_609"> Der Hamburger Streik hat aber noch etwas gelehrt, und das ist, daß<lb/>
das wirksamste Mittel zur Bekämpfung eines Streiks die möglichst rasche und<lb/>
ausgiebige Heranziehung von Ersatzkosten ist, in der die Hamburger Reeber<lb/>
bei gutem Willen noch viel mehr hätten leisten können. Bei einem künftigen<lb/>
Streik, namentlich wenn er in den Winter fällt, wo ja nach der letzten Arbeits-<lb/>
loseuzühlung die Anzahl der Arbeitslosen beträchtlich größer ist als im Sommer,<lb/>
ist es nicht ausgeschlossen, daß die Arbeiter eines Tags, wenn sie sich ent¬<lb/>
schließen, die Arbeit wieder aufzunehmen, alle ihre Stellen besetzt finden, und<lb/>
kein einziger von ihnen in Arbeit genommen wird, ja daß man ihnen erklärt:<lb/>
&#x201E;Wie sollten wir dazu kommen, euch wieder in Dienst zu nehmen, nachdem<lb/>
wir gesehen haben, daß ihr euch kein Gewissen daraus macht, uns um Mil¬<lb/>
lionen zu schädigen, um eure eignen Löhne über den Konkurrenzwert eurer<lb/>
Arbeit emporzutreiben? Und wie sollten wir die Arbeiter entlassen, die uns<lb/>
beigesprungen sind, als wir in einer Notlage waren?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_610" next="#ID_611"> Somit wäre die Lage der in einem Streik uuterleguen und durch Ersatz¬<lb/>
leute aus ihren Stellungen verdrängten Arbeiter in jedem Falle hoffnungslos?<lb/>
Solange man die Frage der persönlichen Arbeitsleistung außer Acht läßt, aller¬<lb/>
dings.  Aber zum Glück sür den Arbeiter darf man diese Frage nicht außer<lb/>
Acht lassen. Man kann, ohne zu übertreiben, behaupten, daß die Arbeitsleistung<lb/>
der Ersatzmänner der der Streitenden niemals gleichwertig ist.  Selbst bei<lb/>
Schcmerleutcu, die doch mit den in einem bestimmten Fache ausgebildeten In¬<lb/>
dustriearbeitern sicherlich durchschnittlich nicht auf einer Stufe stehen, ist das nicht<lb/>
der Fall. Es gehört langjährige Übung und Erfahrung dazu, um all die kleinen<lb/>
Vorteile des Lade- und Entladchandwerks zu erlernen. Wo z. B., wie in allen<lb/>
größern Häfen, die Kohlen waggonweise durch eine Art von Fludern oder breite<lb/>
Rinnen in das Schiff geschüttet werden, da vermögen zwei geschulte Arbeiter, die<lb/>
die Fluderthüreu genau auf deu Augenblick etwas mehr schließen oder öffnen,<lb/>
mindestens so viel zu leisten wie sechs ungeschickte, die die Kohlen erst an tote<lb/>
Stellen rollen lassen, von denen sie mit Menschenhand wieder entfernt werden<lb/>
müssen-  Man braucht sich anch nur einmal früh zwischen sechs und sieben<lb/>
Uhr an die Londoner Docks zu bemühen und den zur sichern und unsichern<lb/>
Hafenarbcit wandernden Leuten und ihren Schicksalen am Dockeingang zuzu¬<lb/>
sehen, um sich klar zu werden, welche Bedeutung die geschulte tüchtige Arbeit<lb/>
beim Einladen und Ausladen hat.  Die besten paar hundert Arbeiter werden<lb/>
jedesmal schon am Abend vorher für den folgenden Tag in Lohn genommen,<lb/>
und bei Mehrbedarf am nächsten Morgen verstehen es die Aufseher, die so<lb/>
gut wie alle sich zur Arbeit meldenden Leute mit Namen kennen, ganz vor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0228] Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf wesentlich anders liegen, weil hier das Mitleid der Besitzenden, ohne das heute kein größerer Aufstand bestehen kann, zunächst mit ins Spiel kommt? Der Hamburger Aufstand hat gelehrt, daß es damit oft ganz unerwartet rasch zu Ende gehen kann. Der Hamburger Streik hat aber noch etwas gelehrt, und das ist, daß das wirksamste Mittel zur Bekämpfung eines Streiks die möglichst rasche und ausgiebige Heranziehung von Ersatzkosten ist, in der die Hamburger Reeber bei gutem Willen noch viel mehr hätten leisten können. Bei einem künftigen Streik, namentlich wenn er in den Winter fällt, wo ja nach der letzten Arbeits- loseuzühlung die Anzahl der Arbeitslosen beträchtlich größer ist als im Sommer, ist es nicht ausgeschlossen, daß die Arbeiter eines Tags, wenn sie sich ent¬ schließen, die Arbeit wieder aufzunehmen, alle ihre Stellen besetzt finden, und kein einziger von ihnen in Arbeit genommen wird, ja daß man ihnen erklärt: „Wie sollten wir dazu kommen, euch wieder in Dienst zu nehmen, nachdem wir gesehen haben, daß ihr euch kein Gewissen daraus macht, uns um Mil¬ lionen zu schädigen, um eure eignen Löhne über den Konkurrenzwert eurer Arbeit emporzutreiben? Und wie sollten wir die Arbeiter entlassen, die uns beigesprungen sind, als wir in einer Notlage waren?" Somit wäre die Lage der in einem Streik uuterleguen und durch Ersatz¬ leute aus ihren Stellungen verdrängten Arbeiter in jedem Falle hoffnungslos? Solange man die Frage der persönlichen Arbeitsleistung außer Acht läßt, aller¬ dings. Aber zum Glück sür den Arbeiter darf man diese Frage nicht außer Acht lassen. Man kann, ohne zu übertreiben, behaupten, daß die Arbeitsleistung der Ersatzmänner der der Streitenden niemals gleichwertig ist. Selbst bei Schcmerleutcu, die doch mit den in einem bestimmten Fache ausgebildeten In¬ dustriearbeitern sicherlich durchschnittlich nicht auf einer Stufe stehen, ist das nicht der Fall. Es gehört langjährige Übung und Erfahrung dazu, um all die kleinen Vorteile des Lade- und Entladchandwerks zu erlernen. Wo z. B., wie in allen größern Häfen, die Kohlen waggonweise durch eine Art von Fludern oder breite Rinnen in das Schiff geschüttet werden, da vermögen zwei geschulte Arbeiter, die die Fluderthüreu genau auf deu Augenblick etwas mehr schließen oder öffnen, mindestens so viel zu leisten wie sechs ungeschickte, die die Kohlen erst an tote Stellen rollen lassen, von denen sie mit Menschenhand wieder entfernt werden müssen- Man braucht sich anch nur einmal früh zwischen sechs und sieben Uhr an die Londoner Docks zu bemühen und den zur sichern und unsichern Hafenarbcit wandernden Leuten und ihren Schicksalen am Dockeingang zuzu¬ sehen, um sich klar zu werden, welche Bedeutung die geschulte tüchtige Arbeit beim Einladen und Ausladen hat. Die besten paar hundert Arbeiter werden jedesmal schon am Abend vorher für den folgenden Tag in Lohn genommen, und bei Mehrbedarf am nächsten Morgen verstehen es die Aufseher, die so gut wie alle sich zur Arbeit meldenden Leute mit Namen kennen, ganz vor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/228
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/228>, abgerufen am 27.09.2024.