Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die sterbende Dichtkunst

lieb und gleichzeitige nationale Epen schlechtweg als vollkommner wie die durch
das Hildebrandslied bezeichnete Stufe der Dichtung anzusehen." Empfindungs¬
sülle und Reflexion sollen beim Nibelungenliede bereits die feste epische Form
durchbrechen. Ich bin nun keineswegs der Ansicht, daß unser Nibelungenlied
das Ideal eines Epos sei, die homerischen Epen stehen mir unbedingt höher,
ich leugne nicht, daß die ältere Dichtung, das Hildebrandslied und was in
angelsächsischer und nordischer Sprache seiner Stufe nahesteht, einen gewissen
poetischen Reiz ausübt, wie alles Primitive; aber so sehr bin ich doch, Gott
sei Dank, noch nicht von der modernen "Geschichtskrankheit" ergriffen, daß ich
dem Nibelungenliede, dem wirklichen großen Epos, den höhern Rang dem
Einzelliede gegenüber abstritte und poetisches Stammeln ein für allemal höher
stellte als poetisches Singen und Sagen. Es mag sein, daß das Hildebrands¬
lied auf die zeitgenössischen Hörer eine ebenso starke und noch stärkere Ein¬
wirkung geübt hat als das Nibelungenlied seiner Zeit, aber diese durch Reflexion
heute festzustellende Einwirkung darf man doch nicht zum Maßstabe des Wertes
erheben, wie es die modernen Forscher thun und im Grunde schon Macaulay
thut. Schon der Grad der Ausbildung der Sprache erlaubt in der Regel
auch einen sichern Schluß auf die erreichte dichterische Höhe. Zwischen der
Höhe der epischen Dichtung und der der dramatischen liegen durchgehend
Jahrhunderte, die durch die lyrische Dichtung ausgefüllt werden, und die
dramatische Höhe tritt meist erst mit einer bestimmten Ausbildung der Prosa,
also des rationalistischen Elements der Sprache ein, was den nicht wunder
nimmt, der da weiß, daß Dialektik dem wirklichen Drama unumgänglich nötig,
seine Voraussetzung ist. Soll man nun aber das Drama durchaus als Kultur¬
oder gar akademische Poesie auffassen? Das griechische sowohl wie das spanische
und das englische ist doch ohne Zweifel dem Volksgeist nicht weniger un¬
mittelbar entsprungen wie das Epos, selbst das französische hat noch sehr enge
Beziehungen zu ihm, und alle haben auch die stärkste Wirkung auf das Volk
geübt, eine Wirkung, die hinter der der alten Epen auf die barbarischen Völker
nicht allzuviel zurückgeblieben sein dürfte, zumal da die dramatische Form doch
die am unmittelbarsten wirkende ist. Will man also nicht die epische Poesie
als die einzig berechtigte, die einzig wahre Poesie hinstellen, so wird man die
Behauptung, daß die ursprüngliche Sprache die für die Poesie am meisten
geeignete sei, in ihrer Allgemeinheit wohl fallen lassen müssen.

Aber das alte Epos ist allerdings mit der Nationalisirung der Sprache
zu Grunde gegangen. Man kann sagen, sobald die Prosa ausgebildet, der
Historiker aufgetreten ist, entsteht kein Epos mehr, wohlverstanden, kein Volks¬
epos. Macaulays Satz, daß die in der Sprache sich vollziehende Veränderung
teils die Ursache, teils die Wirkung einer Veränderung der menschlichen Thätig¬
keit sei, enthält etwas richtiges. Doch darf man ihn nicht so fassen, als ob mit jener
Veränderung erst die eigentliche Kulturarbeit beginne; auch die Ausbildung des


Grenzboten I 18g? 23
Die sterbende Dichtkunst

lieb und gleichzeitige nationale Epen schlechtweg als vollkommner wie die durch
das Hildebrandslied bezeichnete Stufe der Dichtung anzusehen." Empfindungs¬
sülle und Reflexion sollen beim Nibelungenliede bereits die feste epische Form
durchbrechen. Ich bin nun keineswegs der Ansicht, daß unser Nibelungenlied
das Ideal eines Epos sei, die homerischen Epen stehen mir unbedingt höher,
ich leugne nicht, daß die ältere Dichtung, das Hildebrandslied und was in
angelsächsischer und nordischer Sprache seiner Stufe nahesteht, einen gewissen
poetischen Reiz ausübt, wie alles Primitive; aber so sehr bin ich doch, Gott
sei Dank, noch nicht von der modernen „Geschichtskrankheit" ergriffen, daß ich
dem Nibelungenliede, dem wirklichen großen Epos, den höhern Rang dem
Einzelliede gegenüber abstritte und poetisches Stammeln ein für allemal höher
stellte als poetisches Singen und Sagen. Es mag sein, daß das Hildebrands¬
lied auf die zeitgenössischen Hörer eine ebenso starke und noch stärkere Ein¬
wirkung geübt hat als das Nibelungenlied seiner Zeit, aber diese durch Reflexion
heute festzustellende Einwirkung darf man doch nicht zum Maßstabe des Wertes
erheben, wie es die modernen Forscher thun und im Grunde schon Macaulay
thut. Schon der Grad der Ausbildung der Sprache erlaubt in der Regel
auch einen sichern Schluß auf die erreichte dichterische Höhe. Zwischen der
Höhe der epischen Dichtung und der der dramatischen liegen durchgehend
Jahrhunderte, die durch die lyrische Dichtung ausgefüllt werden, und die
dramatische Höhe tritt meist erst mit einer bestimmten Ausbildung der Prosa,
also des rationalistischen Elements der Sprache ein, was den nicht wunder
nimmt, der da weiß, daß Dialektik dem wirklichen Drama unumgänglich nötig,
seine Voraussetzung ist. Soll man nun aber das Drama durchaus als Kultur¬
oder gar akademische Poesie auffassen? Das griechische sowohl wie das spanische
und das englische ist doch ohne Zweifel dem Volksgeist nicht weniger un¬
mittelbar entsprungen wie das Epos, selbst das französische hat noch sehr enge
Beziehungen zu ihm, und alle haben auch die stärkste Wirkung auf das Volk
geübt, eine Wirkung, die hinter der der alten Epen auf die barbarischen Völker
nicht allzuviel zurückgeblieben sein dürfte, zumal da die dramatische Form doch
die am unmittelbarsten wirkende ist. Will man also nicht die epische Poesie
als die einzig berechtigte, die einzig wahre Poesie hinstellen, so wird man die
Behauptung, daß die ursprüngliche Sprache die für die Poesie am meisten
geeignete sei, in ihrer Allgemeinheit wohl fallen lassen müssen.

Aber das alte Epos ist allerdings mit der Nationalisirung der Sprache
zu Grunde gegangen. Man kann sagen, sobald die Prosa ausgebildet, der
Historiker aufgetreten ist, entsteht kein Epos mehr, wohlverstanden, kein Volks¬
epos. Macaulays Satz, daß die in der Sprache sich vollziehende Veränderung
teils die Ursache, teils die Wirkung einer Veränderung der menschlichen Thätig¬
keit sei, enthält etwas richtiges. Doch darf man ihn nicht so fassen, als ob mit jener
Veränderung erst die eigentliche Kulturarbeit beginne; auch die Ausbildung des


Grenzboten I 18g? 23
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224431"/>
          <fw type="header" place="top"> Die sterbende Dichtkunst</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_499" prev="#ID_498"> lieb und gleichzeitige nationale Epen schlechtweg als vollkommner wie die durch<lb/>
das Hildebrandslied bezeichnete Stufe der Dichtung anzusehen." Empfindungs¬<lb/>
sülle und Reflexion sollen beim Nibelungenliede bereits die feste epische Form<lb/>
durchbrechen. Ich bin nun keineswegs der Ansicht, daß unser Nibelungenlied<lb/>
das Ideal eines Epos sei, die homerischen Epen stehen mir unbedingt höher,<lb/>
ich leugne nicht, daß die ältere Dichtung, das Hildebrandslied und was in<lb/>
angelsächsischer und nordischer Sprache seiner Stufe nahesteht, einen gewissen<lb/>
poetischen Reiz ausübt, wie alles Primitive; aber so sehr bin ich doch, Gott<lb/>
sei Dank, noch nicht von der modernen &#x201E;Geschichtskrankheit" ergriffen, daß ich<lb/>
dem Nibelungenliede, dem wirklichen großen Epos, den höhern Rang dem<lb/>
Einzelliede gegenüber abstritte und poetisches Stammeln ein für allemal höher<lb/>
stellte als poetisches Singen und Sagen. Es mag sein, daß das Hildebrands¬<lb/>
lied auf die zeitgenössischen Hörer eine ebenso starke und noch stärkere Ein¬<lb/>
wirkung geübt hat als das Nibelungenlied seiner Zeit, aber diese durch Reflexion<lb/>
heute festzustellende Einwirkung darf man doch nicht zum Maßstabe des Wertes<lb/>
erheben, wie es die modernen Forscher thun und im Grunde schon Macaulay<lb/>
thut. Schon der Grad der Ausbildung der Sprache erlaubt in der Regel<lb/>
auch einen sichern Schluß auf die erreichte dichterische Höhe. Zwischen der<lb/>
Höhe der epischen Dichtung und der der dramatischen liegen durchgehend<lb/>
Jahrhunderte, die durch die lyrische Dichtung ausgefüllt werden, und die<lb/>
dramatische Höhe tritt meist erst mit einer bestimmten Ausbildung der Prosa,<lb/>
also des rationalistischen Elements der Sprache ein, was den nicht wunder<lb/>
nimmt, der da weiß, daß Dialektik dem wirklichen Drama unumgänglich nötig,<lb/>
seine Voraussetzung ist. Soll man nun aber das Drama durchaus als Kultur¬<lb/>
oder gar akademische Poesie auffassen? Das griechische sowohl wie das spanische<lb/>
und das englische ist doch ohne Zweifel dem Volksgeist nicht weniger un¬<lb/>
mittelbar entsprungen wie das Epos, selbst das französische hat noch sehr enge<lb/>
Beziehungen zu ihm, und alle haben auch die stärkste Wirkung auf das Volk<lb/>
geübt, eine Wirkung, die hinter der der alten Epen auf die barbarischen Völker<lb/>
nicht allzuviel zurückgeblieben sein dürfte, zumal da die dramatische Form doch<lb/>
die am unmittelbarsten wirkende ist. Will man also nicht die epische Poesie<lb/>
als die einzig berechtigte, die einzig wahre Poesie hinstellen, so wird man die<lb/>
Behauptung, daß die ursprüngliche Sprache die für die Poesie am meisten<lb/>
geeignete sei, in ihrer Allgemeinheit wohl fallen lassen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_500" next="#ID_501"> Aber das alte Epos ist allerdings mit der Nationalisirung der Sprache<lb/>
zu Grunde gegangen. Man kann sagen, sobald die Prosa ausgebildet, der<lb/>
Historiker aufgetreten ist, entsteht kein Epos mehr, wohlverstanden, kein Volks¬<lb/>
epos. Macaulays Satz, daß die in der Sprache sich vollziehende Veränderung<lb/>
teils die Ursache, teils die Wirkung einer Veränderung der menschlichen Thätig¬<lb/>
keit sei, enthält etwas richtiges. Doch darf man ihn nicht so fassen, als ob mit jener<lb/>
Veränderung erst die eigentliche Kulturarbeit beginne; auch die Ausbildung des</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 18g? 23</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0185] Die sterbende Dichtkunst lieb und gleichzeitige nationale Epen schlechtweg als vollkommner wie die durch das Hildebrandslied bezeichnete Stufe der Dichtung anzusehen." Empfindungs¬ sülle und Reflexion sollen beim Nibelungenliede bereits die feste epische Form durchbrechen. Ich bin nun keineswegs der Ansicht, daß unser Nibelungenlied das Ideal eines Epos sei, die homerischen Epen stehen mir unbedingt höher, ich leugne nicht, daß die ältere Dichtung, das Hildebrandslied und was in angelsächsischer und nordischer Sprache seiner Stufe nahesteht, einen gewissen poetischen Reiz ausübt, wie alles Primitive; aber so sehr bin ich doch, Gott sei Dank, noch nicht von der modernen „Geschichtskrankheit" ergriffen, daß ich dem Nibelungenliede, dem wirklichen großen Epos, den höhern Rang dem Einzelliede gegenüber abstritte und poetisches Stammeln ein für allemal höher stellte als poetisches Singen und Sagen. Es mag sein, daß das Hildebrands¬ lied auf die zeitgenössischen Hörer eine ebenso starke und noch stärkere Ein¬ wirkung geübt hat als das Nibelungenlied seiner Zeit, aber diese durch Reflexion heute festzustellende Einwirkung darf man doch nicht zum Maßstabe des Wertes erheben, wie es die modernen Forscher thun und im Grunde schon Macaulay thut. Schon der Grad der Ausbildung der Sprache erlaubt in der Regel auch einen sichern Schluß auf die erreichte dichterische Höhe. Zwischen der Höhe der epischen Dichtung und der der dramatischen liegen durchgehend Jahrhunderte, die durch die lyrische Dichtung ausgefüllt werden, und die dramatische Höhe tritt meist erst mit einer bestimmten Ausbildung der Prosa, also des rationalistischen Elements der Sprache ein, was den nicht wunder nimmt, der da weiß, daß Dialektik dem wirklichen Drama unumgänglich nötig, seine Voraussetzung ist. Soll man nun aber das Drama durchaus als Kultur¬ oder gar akademische Poesie auffassen? Das griechische sowohl wie das spanische und das englische ist doch ohne Zweifel dem Volksgeist nicht weniger un¬ mittelbar entsprungen wie das Epos, selbst das französische hat noch sehr enge Beziehungen zu ihm, und alle haben auch die stärkste Wirkung auf das Volk geübt, eine Wirkung, die hinter der der alten Epen auf die barbarischen Völker nicht allzuviel zurückgeblieben sein dürfte, zumal da die dramatische Form doch die am unmittelbarsten wirkende ist. Will man also nicht die epische Poesie als die einzig berechtigte, die einzig wahre Poesie hinstellen, so wird man die Behauptung, daß die ursprüngliche Sprache die für die Poesie am meisten geeignete sei, in ihrer Allgemeinheit wohl fallen lassen müssen. Aber das alte Epos ist allerdings mit der Nationalisirung der Sprache zu Grunde gegangen. Man kann sagen, sobald die Prosa ausgebildet, der Historiker aufgetreten ist, entsteht kein Epos mehr, wohlverstanden, kein Volks¬ epos. Macaulays Satz, daß die in der Sprache sich vollziehende Veränderung teils die Ursache, teils die Wirkung einer Veränderung der menschlichen Thätig¬ keit sei, enthält etwas richtiges. Doch darf man ihn nicht so fassen, als ob mit jener Veränderung erst die eigentliche Kulturarbeit beginne; auch die Ausbildung des Grenzboten I 18g? 23

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/185
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/185>, abgerufen am 27.09.2024.