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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

eignes und neues zu sagen; sie sollte das immer können, um Fülle des
geistigen Gehalts zu haben und sich zu beredter Selbstmittciluug an die Mensch¬
heit getrieben zu suhlen, allein vieles oder das meiste ist schon längst ganz
wahr und schön ausgesprochen, weil im wesentlichen der Mensch und sein
Leben dasselbe war und ist durch alle Zeiten, und dazu wird es auch nach
dieser Seite durch die Kultur immer mehr erschwert, der stets klüger und
klarer über alles werdenden Menschheit Weisheit, von der sie nicht schon wüßte,
zu verkünden, wie es die antiken Tragiker, Shakespeare, Goethe und Schiller
noch durften. Doch können wir eben an letztern beiden auch erkennen, wie
zu helfen sei: nichts obenhin berühren, und namentlich nicht bloß leicht hin-
geworfne Photographien prosaischer Kulturzustände liefern, sondern in einen
bestimmten, der eignen Individualität wahlverwandten Stoff, woher er auch
sei, sich mit allen Kräften des Geistes und Gemüts versenken, in ihm leben,
ihn in sich Leben gewinnen lassen, selbst auf die Gefahr hin, Jahre und Jahr¬
zehnte etwas in Herz und Phantasie auftragen zu müssen, wie Goethe, und
dann in diesem Ausharren zugleich ebenso alle Klarheit und Reinheit wie alle
von hochkultivirten Zeiten mit Recht verlangte Großartigkeit und Pracht der
künstlerischen Form erzielen, wie Schiller, das kann die Poesie am Leben er¬
halten und die schwer erbittlichen Musen bewegen, neue Kränze auszuteilen.
Im ganzen können wir uns jedoch des Eindrucks nicht erwehren, als winke
den bildenden Künsten noch eine glänzendere Zukunft als der (eigentlichen)
Dichtung, auch mehr als der Musik und Mimik; diese drei gedeihen am besten
in jugendlichen Zeiten der Menschen und Völker, weil Jugend oder doch Jugeud-
sinn dazu gehört, so offen, so geradezu, so naiv mit dem unmittelbaren Aus¬
sprechen selbstempfuudner Begeisterung vor die Welt hinzutreten, wie die Künste
es thun müssen, weil sie eben nur hierin und schlechthin in nichts anderm ihr
Wesen haben." Man wird zugeben, daß das nicht viel anders lautet als das,
was der britische Geschichtschreiber sagt. Die äußere Schlußfolgerung scheut
freilich sowohl dieser wie der deutsche Ästhetiker, die Schlußfolgerung, daß die
Kultur die Poesie eines Tages ganz töten müsse; doch ist sie gar nicht zu
umgehen, wenn man eben die Poesie nicht dem Versemachen oder der Schrift-
stellerei gleich setzt. Und so reden wir denn hier kühn von der sterbenden
Dichtkunst und fragen: Sind nicht vielleicht unsre litterarischen Zustünde der
Anfang von dem Ende der Poesie?

Schon von seinen Tagen sagt Macaulay, daß ihre Talente fast vergeblich
mit dem Geiste der Zeit rängen -- was würde er von den unsrigen sagen,
wo die echten Talente, an und für sich schon selten genug, noch viel schwerer
kämpfen müssen, wo drei Viertel oder sieben Achtel der angeblich poetischen
Produktion reine Plusmacherei sind, wo endlich die einflußreichsten Schrift-^
steiler (ich sage absichtlich nicht Dichter) gerade jene Analyse, die nach dem
Engländer nicht zum Berufe des Dichters gehört, auf den Schild erhoben


Die sterbende Dichtkunst

eignes und neues zu sagen; sie sollte das immer können, um Fülle des
geistigen Gehalts zu haben und sich zu beredter Selbstmittciluug an die Mensch¬
heit getrieben zu suhlen, allein vieles oder das meiste ist schon längst ganz
wahr und schön ausgesprochen, weil im wesentlichen der Mensch und sein
Leben dasselbe war und ist durch alle Zeiten, und dazu wird es auch nach
dieser Seite durch die Kultur immer mehr erschwert, der stets klüger und
klarer über alles werdenden Menschheit Weisheit, von der sie nicht schon wüßte,
zu verkünden, wie es die antiken Tragiker, Shakespeare, Goethe und Schiller
noch durften. Doch können wir eben an letztern beiden auch erkennen, wie
zu helfen sei: nichts obenhin berühren, und namentlich nicht bloß leicht hin-
geworfne Photographien prosaischer Kulturzustände liefern, sondern in einen
bestimmten, der eignen Individualität wahlverwandten Stoff, woher er auch
sei, sich mit allen Kräften des Geistes und Gemüts versenken, in ihm leben,
ihn in sich Leben gewinnen lassen, selbst auf die Gefahr hin, Jahre und Jahr¬
zehnte etwas in Herz und Phantasie auftragen zu müssen, wie Goethe, und
dann in diesem Ausharren zugleich ebenso alle Klarheit und Reinheit wie alle
von hochkultivirten Zeiten mit Recht verlangte Großartigkeit und Pracht der
künstlerischen Form erzielen, wie Schiller, das kann die Poesie am Leben er¬
halten und die schwer erbittlichen Musen bewegen, neue Kränze auszuteilen.
Im ganzen können wir uns jedoch des Eindrucks nicht erwehren, als winke
den bildenden Künsten noch eine glänzendere Zukunft als der (eigentlichen)
Dichtung, auch mehr als der Musik und Mimik; diese drei gedeihen am besten
in jugendlichen Zeiten der Menschen und Völker, weil Jugend oder doch Jugeud-
sinn dazu gehört, so offen, so geradezu, so naiv mit dem unmittelbaren Aus¬
sprechen selbstempfuudner Begeisterung vor die Welt hinzutreten, wie die Künste
es thun müssen, weil sie eben nur hierin und schlechthin in nichts anderm ihr
Wesen haben." Man wird zugeben, daß das nicht viel anders lautet als das,
was der britische Geschichtschreiber sagt. Die äußere Schlußfolgerung scheut
freilich sowohl dieser wie der deutsche Ästhetiker, die Schlußfolgerung, daß die
Kultur die Poesie eines Tages ganz töten müsse; doch ist sie gar nicht zu
umgehen, wenn man eben die Poesie nicht dem Versemachen oder der Schrift-
stellerei gleich setzt. Und so reden wir denn hier kühn von der sterbenden
Dichtkunst und fragen: Sind nicht vielleicht unsre litterarischen Zustünde der
Anfang von dem Ende der Poesie?

Schon von seinen Tagen sagt Macaulay, daß ihre Talente fast vergeblich
mit dem Geiste der Zeit rängen — was würde er von den unsrigen sagen,
wo die echten Talente, an und für sich schon selten genug, noch viel schwerer
kämpfen müssen, wo drei Viertel oder sieben Achtel der angeblich poetischen
Produktion reine Plusmacherei sind, wo endlich die einflußreichsten Schrift-^
steiler (ich sage absichtlich nicht Dichter) gerade jene Analyse, die nach dem
Engländer nicht zum Berufe des Dichters gehört, auf den Schild erhoben


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[0182] Die sterbende Dichtkunst eignes und neues zu sagen; sie sollte das immer können, um Fülle des geistigen Gehalts zu haben und sich zu beredter Selbstmittciluug an die Mensch¬ heit getrieben zu suhlen, allein vieles oder das meiste ist schon längst ganz wahr und schön ausgesprochen, weil im wesentlichen der Mensch und sein Leben dasselbe war und ist durch alle Zeiten, und dazu wird es auch nach dieser Seite durch die Kultur immer mehr erschwert, der stets klüger und klarer über alles werdenden Menschheit Weisheit, von der sie nicht schon wüßte, zu verkünden, wie es die antiken Tragiker, Shakespeare, Goethe und Schiller noch durften. Doch können wir eben an letztern beiden auch erkennen, wie zu helfen sei: nichts obenhin berühren, und namentlich nicht bloß leicht hin- geworfne Photographien prosaischer Kulturzustände liefern, sondern in einen bestimmten, der eignen Individualität wahlverwandten Stoff, woher er auch sei, sich mit allen Kräften des Geistes und Gemüts versenken, in ihm leben, ihn in sich Leben gewinnen lassen, selbst auf die Gefahr hin, Jahre und Jahr¬ zehnte etwas in Herz und Phantasie auftragen zu müssen, wie Goethe, und dann in diesem Ausharren zugleich ebenso alle Klarheit und Reinheit wie alle von hochkultivirten Zeiten mit Recht verlangte Großartigkeit und Pracht der künstlerischen Form erzielen, wie Schiller, das kann die Poesie am Leben er¬ halten und die schwer erbittlichen Musen bewegen, neue Kränze auszuteilen. Im ganzen können wir uns jedoch des Eindrucks nicht erwehren, als winke den bildenden Künsten noch eine glänzendere Zukunft als der (eigentlichen) Dichtung, auch mehr als der Musik und Mimik; diese drei gedeihen am besten in jugendlichen Zeiten der Menschen und Völker, weil Jugend oder doch Jugeud- sinn dazu gehört, so offen, so geradezu, so naiv mit dem unmittelbaren Aus¬ sprechen selbstempfuudner Begeisterung vor die Welt hinzutreten, wie die Künste es thun müssen, weil sie eben nur hierin und schlechthin in nichts anderm ihr Wesen haben." Man wird zugeben, daß das nicht viel anders lautet als das, was der britische Geschichtschreiber sagt. Die äußere Schlußfolgerung scheut freilich sowohl dieser wie der deutsche Ästhetiker, die Schlußfolgerung, daß die Kultur die Poesie eines Tages ganz töten müsse; doch ist sie gar nicht zu umgehen, wenn man eben die Poesie nicht dem Versemachen oder der Schrift- stellerei gleich setzt. Und so reden wir denn hier kühn von der sterbenden Dichtkunst und fragen: Sind nicht vielleicht unsre litterarischen Zustünde der Anfang von dem Ende der Poesie? Schon von seinen Tagen sagt Macaulay, daß ihre Talente fast vergeblich mit dem Geiste der Zeit rängen — was würde er von den unsrigen sagen, wo die echten Talente, an und für sich schon selten genug, noch viel schwerer kämpfen müssen, wo drei Viertel oder sieben Achtel der angeblich poetischen Produktion reine Plusmacherei sind, wo endlich die einflußreichsten Schrift-^ steiler (ich sage absichtlich nicht Dichter) gerade jene Analyse, die nach dem Engländer nicht zum Berufe des Dichters gehört, auf den Schild erhoben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/182>, abgerufen am 27.09.2024.