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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

auf ihre rohern Vorfahren ausübte. Die tiefe Seelenangst, die überschwüng¬
liche Begeisterung und die volle gläubige Hingabe werden ihnen ein Rätsel
bleiben. Die Poesie übt auf das Auge des Geistes eine Täuschung aus, wie
sie für das leibliche Auge durch eine Zauberlaterne hervorgebracht wird. Und
wie die Zauberlaterne in einem dunkeln Raume die täuschendste Wirkung hat,
so erreicht die Poesie ihren Zweck am vollkommensten in einem unaufgeklärten
Zeitalter. Wenn das Licht der Erkenntnis über ihre Schöpfungen hereinbricht,
wenn die Umrisse der wirklichen Welt immer schärfer und schärfer hervortreten
und die Schatten dümmriger Ahnung immer lichter werden, dann müssen die
von dem Dichter heraufbcschwornen Gestalten in Form und Farbe immer mehr
verbleichen. Die widerstreitenden Vorzüge der Wirklichkeit und der Täuschung,
die scharfe Unterscheidung richtiger Erkenntnis und den hohen Genuß der Poesie
vermöge" wir nicht mit einander zu verbinden. Wer in einer aufgeklärten
und hochgebildeten Zeit darnach strebt, ein großer Dichter zu sein, der muß
damit anfangen, wieder zum Kinde zu werden. Er muß das ganze Gewebe
seines geistigen Wesens zerreißen, vieles von dem, was er an Bildung erlangte,
und worauf sich vielleicht bisher sein vornehmster Anspruch ans geistige Über¬
legenheit gründete, muß er wieder verlernen. Sogar seine Talente werden
ihm ein Hindernis sein. Er kann zufrieden sein, wenn nach allen dargebrachten
Opfern und Anstrengungen seine Werke nicht einen Eindruck hervorbringen,
der an das Stammeln eines Mannes erinnert oder an eine künstliche Ruine.
Wir haben in unsern eignen Tagen große Talente, angestrengten Fleiß und
tiefes Studium im Kampfe mit dem Geiste der Zeit ringen sehen, und wenn
wir auch nicht gerade sagen wollen: durchaus vergeblich, so doch mit zweifel¬
haftem Erfolg und geringem Beifall."

Soweit Macaulay. Sein Essay über Milton stammt, wenn ich nicht
irre, aus den zwanziger Jahren unsers Jahrhunderts, die hier wiedergegebncn
Anschauungen dürften aber noch heute viele Anhänger haben, auch in Deutsch¬
land. Ja ich habe deu Verdacht, daß unter den Gebildeten unsrer Zeit, die
sich mit der Ästhetik der Dichtkunst nicht näher befassen, diese Anschauungen
über Poesie geradezu die herrschenden sind. Zu einem großen Teile sind sie
ohne Mühe schon aus den Ansichten Herders über Poesie, aus seiner Bevor¬
zugung der sogenannten Volkspoesie vor der Kunstpoesie herzuleiten; sie mögen
aber auch in der Weise Macaulays oft genng bei uns ausgesprochen worden
sein. Um doch ein Beispiel zu geben: Kostim, der vor einigen Jahren ver¬
storbne Tübinger Professor, schreibt in seiner Ästhetik: "Was soll nun aber
endlich werden mit der Poesie? Sie hat es gut, sie kann alles sagen, die
ganze Welt steht ihr offen. Aber sie hat es auch übel; sie verliert desto mehr
ihr zusagende Stosse, je kultivirter, desto mehr romantische, je verständiger,
desto mehr lyrische, je beruhigter, desto mehr epische und dramatische, je ge¬
ordneter und zahmer die Welt wird, und sie bekommt es immer schwerer, etwas


Die sterbende Dichtkunst

auf ihre rohern Vorfahren ausübte. Die tiefe Seelenangst, die überschwüng¬
liche Begeisterung und die volle gläubige Hingabe werden ihnen ein Rätsel
bleiben. Die Poesie übt auf das Auge des Geistes eine Täuschung aus, wie
sie für das leibliche Auge durch eine Zauberlaterne hervorgebracht wird. Und
wie die Zauberlaterne in einem dunkeln Raume die täuschendste Wirkung hat,
so erreicht die Poesie ihren Zweck am vollkommensten in einem unaufgeklärten
Zeitalter. Wenn das Licht der Erkenntnis über ihre Schöpfungen hereinbricht,
wenn die Umrisse der wirklichen Welt immer schärfer und schärfer hervortreten
und die Schatten dümmriger Ahnung immer lichter werden, dann müssen die
von dem Dichter heraufbcschwornen Gestalten in Form und Farbe immer mehr
verbleichen. Die widerstreitenden Vorzüge der Wirklichkeit und der Täuschung,
die scharfe Unterscheidung richtiger Erkenntnis und den hohen Genuß der Poesie
vermöge» wir nicht mit einander zu verbinden. Wer in einer aufgeklärten
und hochgebildeten Zeit darnach strebt, ein großer Dichter zu sein, der muß
damit anfangen, wieder zum Kinde zu werden. Er muß das ganze Gewebe
seines geistigen Wesens zerreißen, vieles von dem, was er an Bildung erlangte,
und worauf sich vielleicht bisher sein vornehmster Anspruch ans geistige Über¬
legenheit gründete, muß er wieder verlernen. Sogar seine Talente werden
ihm ein Hindernis sein. Er kann zufrieden sein, wenn nach allen dargebrachten
Opfern und Anstrengungen seine Werke nicht einen Eindruck hervorbringen,
der an das Stammeln eines Mannes erinnert oder an eine künstliche Ruine.
Wir haben in unsern eignen Tagen große Talente, angestrengten Fleiß und
tiefes Studium im Kampfe mit dem Geiste der Zeit ringen sehen, und wenn
wir auch nicht gerade sagen wollen: durchaus vergeblich, so doch mit zweifel¬
haftem Erfolg und geringem Beifall."

Soweit Macaulay. Sein Essay über Milton stammt, wenn ich nicht
irre, aus den zwanziger Jahren unsers Jahrhunderts, die hier wiedergegebncn
Anschauungen dürften aber noch heute viele Anhänger haben, auch in Deutsch¬
land. Ja ich habe deu Verdacht, daß unter den Gebildeten unsrer Zeit, die
sich mit der Ästhetik der Dichtkunst nicht näher befassen, diese Anschauungen
über Poesie geradezu die herrschenden sind. Zu einem großen Teile sind sie
ohne Mühe schon aus den Ansichten Herders über Poesie, aus seiner Bevor¬
zugung der sogenannten Volkspoesie vor der Kunstpoesie herzuleiten; sie mögen
aber auch in der Weise Macaulays oft genng bei uns ausgesprochen worden
sein. Um doch ein Beispiel zu geben: Kostim, der vor einigen Jahren ver¬
storbne Tübinger Professor, schreibt in seiner Ästhetik: „Was soll nun aber
endlich werden mit der Poesie? Sie hat es gut, sie kann alles sagen, die
ganze Welt steht ihr offen. Aber sie hat es auch übel; sie verliert desto mehr
ihr zusagende Stosse, je kultivirter, desto mehr romantische, je verständiger,
desto mehr lyrische, je beruhigter, desto mehr epische und dramatische, je ge¬
ordneter und zahmer die Welt wird, und sie bekommt es immer schwerer, etwas


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[0181] Die sterbende Dichtkunst auf ihre rohern Vorfahren ausübte. Die tiefe Seelenangst, die überschwüng¬ liche Begeisterung und die volle gläubige Hingabe werden ihnen ein Rätsel bleiben. Die Poesie übt auf das Auge des Geistes eine Täuschung aus, wie sie für das leibliche Auge durch eine Zauberlaterne hervorgebracht wird. Und wie die Zauberlaterne in einem dunkeln Raume die täuschendste Wirkung hat, so erreicht die Poesie ihren Zweck am vollkommensten in einem unaufgeklärten Zeitalter. Wenn das Licht der Erkenntnis über ihre Schöpfungen hereinbricht, wenn die Umrisse der wirklichen Welt immer schärfer und schärfer hervortreten und die Schatten dümmriger Ahnung immer lichter werden, dann müssen die von dem Dichter heraufbcschwornen Gestalten in Form und Farbe immer mehr verbleichen. Die widerstreitenden Vorzüge der Wirklichkeit und der Täuschung, die scharfe Unterscheidung richtiger Erkenntnis und den hohen Genuß der Poesie vermöge» wir nicht mit einander zu verbinden. Wer in einer aufgeklärten und hochgebildeten Zeit darnach strebt, ein großer Dichter zu sein, der muß damit anfangen, wieder zum Kinde zu werden. Er muß das ganze Gewebe seines geistigen Wesens zerreißen, vieles von dem, was er an Bildung erlangte, und worauf sich vielleicht bisher sein vornehmster Anspruch ans geistige Über¬ legenheit gründete, muß er wieder verlernen. Sogar seine Talente werden ihm ein Hindernis sein. Er kann zufrieden sein, wenn nach allen dargebrachten Opfern und Anstrengungen seine Werke nicht einen Eindruck hervorbringen, der an das Stammeln eines Mannes erinnert oder an eine künstliche Ruine. Wir haben in unsern eignen Tagen große Talente, angestrengten Fleiß und tiefes Studium im Kampfe mit dem Geiste der Zeit ringen sehen, und wenn wir auch nicht gerade sagen wollen: durchaus vergeblich, so doch mit zweifel¬ haftem Erfolg und geringem Beifall." Soweit Macaulay. Sein Essay über Milton stammt, wenn ich nicht irre, aus den zwanziger Jahren unsers Jahrhunderts, die hier wiedergegebncn Anschauungen dürften aber noch heute viele Anhänger haben, auch in Deutsch¬ land. Ja ich habe deu Verdacht, daß unter den Gebildeten unsrer Zeit, die sich mit der Ästhetik der Dichtkunst nicht näher befassen, diese Anschauungen über Poesie geradezu die herrschenden sind. Zu einem großen Teile sind sie ohne Mühe schon aus den Ansichten Herders über Poesie, aus seiner Bevor¬ zugung der sogenannten Volkspoesie vor der Kunstpoesie herzuleiten; sie mögen aber auch in der Weise Macaulays oft genng bei uns ausgesprochen worden sein. Um doch ein Beispiel zu geben: Kostim, der vor einigen Jahren ver¬ storbne Tübinger Professor, schreibt in seiner Ästhetik: „Was soll nun aber endlich werden mit der Poesie? Sie hat es gut, sie kann alles sagen, die ganze Welt steht ihr offen. Aber sie hat es auch übel; sie verliert desto mehr ihr zusagende Stosse, je kultivirter, desto mehr romantische, je verständiger, desto mehr lyrische, je beruhigter, desto mehr epische und dramatische, je ge¬ ordneter und zahmer die Welt wird, und sie bekommt es immer schwerer, etwas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/181>, abgerufen am 27.09.2024.