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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte

nehmen für Darlehne allgemein gestattet wurde, aber unter der Bedingung,
daß eine ganz kurze Zeit vertragsmäßig zinsfrei bleiben mußte, sodaß die
Zinszahlung nicht als Entschädigung für die Geldleihe, sondern als Buße für
die nicht rechtzeitige Rückzahlung erschien.

Ashley entschuldigt die Kirche wegen der Hartnäckigkeit, mit der sie, den
Anforderungen der Zeit nur teilweise entgegenkommend, in vielen Fällen fort¬
fuhr, den Zinsnehmern Hindernisse zu bereiten, die dem wirtschaftlichen Zu¬
stande nicht mehr entsprachen. Er meint, es sei nicht bloß grundsätzlich richtig,
sondern auch wirtschaftlich nützlich gewesen, die Ausbreitung der im städtischen
Verkehr unbedenklichen und völlig gerechtfertigten Geldgeschäfte über das Land
möglichst zu verlangsamen, da die Bauernschaft bei ihrer Unbehilflichkeit und
ihren ganz anders gearteten Verhciltnisfen darunter leicht Schaden leide.
Höchstens den Vorwurf könne man den Kanonisten machen, daß sie zu keiner
klaren Unterscheidung zwischen berechtigtem und unberechtigten Geldgewinn
gelangt seien; doch sei das auch unsern heutigen weltlichen Gesetzgebern noch
nicht gelungen. Wir möchten lieber so sagen: Die Grundsätze, nach denen zu
beurteilen ist, ob Geldgeschäfte sittlich erlaubt seien, sind von der alten Kirche
richtig angegeben worden, und mit diesen Grundsätzen vermag man in jedem
einzelnen Falle zu entscheiden, ob das Geschäft sittlich erlaubt oder wucherisch
sei. Aber nur eben den einzelnen Fall vermag man zu entscheiden, dagegen
versagen alle Merkmale, die eine Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung
abgeben könnten; weder die Zinshöhe noch die Vermögenslage des Schuldners
sind solche sichern Merkmale. 100 Prozent können unter Umständen erlaubt,
und 5 Prozent können wucherisch sein; ein Reicher kann durch Wucher ruinirt,
und ein Armer kann durch ein verzinsliches Darlehn ein reicher Mann werden.
Daher haben die von Ashley zitirten englischen Autoritäten recht, die der
Ansicht sind, daß der juristischen Regelung des auf dem individuellen Egois¬
mus ruhenden Verkehrslebens die geistliche Einwirkung ergänzend zur Seite
treten sollte, daß die heutige Kirche, wenigstens in England, ihre Pflichten
in dieser Beziehung nicht erfülle, und daß (eben weil die sittliche Beurteilung
des Geschäftsverkehrs nur bei Betrachtung der einzelnen Fälle möglich ist)
eine neue Kasuistik not thue.




Zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte

nehmen für Darlehne allgemein gestattet wurde, aber unter der Bedingung,
daß eine ganz kurze Zeit vertragsmäßig zinsfrei bleiben mußte, sodaß die
Zinszahlung nicht als Entschädigung für die Geldleihe, sondern als Buße für
die nicht rechtzeitige Rückzahlung erschien.

Ashley entschuldigt die Kirche wegen der Hartnäckigkeit, mit der sie, den
Anforderungen der Zeit nur teilweise entgegenkommend, in vielen Fällen fort¬
fuhr, den Zinsnehmern Hindernisse zu bereiten, die dem wirtschaftlichen Zu¬
stande nicht mehr entsprachen. Er meint, es sei nicht bloß grundsätzlich richtig,
sondern auch wirtschaftlich nützlich gewesen, die Ausbreitung der im städtischen
Verkehr unbedenklichen und völlig gerechtfertigten Geldgeschäfte über das Land
möglichst zu verlangsamen, da die Bauernschaft bei ihrer Unbehilflichkeit und
ihren ganz anders gearteten Verhciltnisfen darunter leicht Schaden leide.
Höchstens den Vorwurf könne man den Kanonisten machen, daß sie zu keiner
klaren Unterscheidung zwischen berechtigtem und unberechtigten Geldgewinn
gelangt seien; doch sei das auch unsern heutigen weltlichen Gesetzgebern noch
nicht gelungen. Wir möchten lieber so sagen: Die Grundsätze, nach denen zu
beurteilen ist, ob Geldgeschäfte sittlich erlaubt seien, sind von der alten Kirche
richtig angegeben worden, und mit diesen Grundsätzen vermag man in jedem
einzelnen Falle zu entscheiden, ob das Geschäft sittlich erlaubt oder wucherisch
sei. Aber nur eben den einzelnen Fall vermag man zu entscheiden, dagegen
versagen alle Merkmale, die eine Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung
abgeben könnten; weder die Zinshöhe noch die Vermögenslage des Schuldners
sind solche sichern Merkmale. 100 Prozent können unter Umständen erlaubt,
und 5 Prozent können wucherisch sein; ein Reicher kann durch Wucher ruinirt,
und ein Armer kann durch ein verzinsliches Darlehn ein reicher Mann werden.
Daher haben die von Ashley zitirten englischen Autoritäten recht, die der
Ansicht sind, daß der juristischen Regelung des auf dem individuellen Egois¬
mus ruhenden Verkehrslebens die geistliche Einwirkung ergänzend zur Seite
treten sollte, daß die heutige Kirche, wenigstens in England, ihre Pflichten
in dieser Beziehung nicht erfülle, und daß (eben weil die sittliche Beurteilung
des Geschäftsverkehrs nur bei Betrachtung der einzelnen Fälle möglich ist)
eine neue Kasuistik not thue.




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[0178] Zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte nehmen für Darlehne allgemein gestattet wurde, aber unter der Bedingung, daß eine ganz kurze Zeit vertragsmäßig zinsfrei bleiben mußte, sodaß die Zinszahlung nicht als Entschädigung für die Geldleihe, sondern als Buße für die nicht rechtzeitige Rückzahlung erschien. Ashley entschuldigt die Kirche wegen der Hartnäckigkeit, mit der sie, den Anforderungen der Zeit nur teilweise entgegenkommend, in vielen Fällen fort¬ fuhr, den Zinsnehmern Hindernisse zu bereiten, die dem wirtschaftlichen Zu¬ stande nicht mehr entsprachen. Er meint, es sei nicht bloß grundsätzlich richtig, sondern auch wirtschaftlich nützlich gewesen, die Ausbreitung der im städtischen Verkehr unbedenklichen und völlig gerechtfertigten Geldgeschäfte über das Land möglichst zu verlangsamen, da die Bauernschaft bei ihrer Unbehilflichkeit und ihren ganz anders gearteten Verhciltnisfen darunter leicht Schaden leide. Höchstens den Vorwurf könne man den Kanonisten machen, daß sie zu keiner klaren Unterscheidung zwischen berechtigtem und unberechtigten Geldgewinn gelangt seien; doch sei das auch unsern heutigen weltlichen Gesetzgebern noch nicht gelungen. Wir möchten lieber so sagen: Die Grundsätze, nach denen zu beurteilen ist, ob Geldgeschäfte sittlich erlaubt seien, sind von der alten Kirche richtig angegeben worden, und mit diesen Grundsätzen vermag man in jedem einzelnen Falle zu entscheiden, ob das Geschäft sittlich erlaubt oder wucherisch sei. Aber nur eben den einzelnen Fall vermag man zu entscheiden, dagegen versagen alle Merkmale, die eine Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung abgeben könnten; weder die Zinshöhe noch die Vermögenslage des Schuldners sind solche sichern Merkmale. 100 Prozent können unter Umständen erlaubt, und 5 Prozent können wucherisch sein; ein Reicher kann durch Wucher ruinirt, und ein Armer kann durch ein verzinsliches Darlehn ein reicher Mann werden. Daher haben die von Ashley zitirten englischen Autoritäten recht, die der Ansicht sind, daß der juristischen Regelung des auf dem individuellen Egois¬ mus ruhenden Verkehrslebens die geistliche Einwirkung ergänzend zur Seite treten sollte, daß die heutige Kirche, wenigstens in England, ihre Pflichten in dieser Beziehung nicht erfülle, und daß (eben weil die sittliche Beurteilung des Geschäftsverkehrs nur bei Betrachtung der einzelnen Fälle möglich ist) eine neue Kasuistik not thue.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/178>, abgerufen am 27.09.2024.