Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.von der Schriftstellerin Es kann nicht ernst gemeint sein, daß wir uns grämen sollten über die Un¬ Neu war nicht das Christentum, nicht die Lehre Luthers; neu war so wenig Und wie in den großen, so ist es in de" kleinen Dingen des Lebens. Die von der Schriftstellerin Es kann nicht ernst gemeint sein, daß wir uns grämen sollten über die Un¬ Neu war nicht das Christentum, nicht die Lehre Luthers; neu war so wenig Und wie in den großen, so ist es in de» kleinen Dingen des Lebens. Die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224395"/> <fw type="header" place="top"> von der Schriftstellerin</fw><lb/> <lg xml:id="POEMID_1" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_409"> Es kann nicht ernst gemeint sein, daß wir uns grämen sollten über die Un¬<lb/> möglichkeit, dem Menschenleben mit allen seinen Problemen ganz und gar neue<lb/> Seiten abzugewinnen. Die tiefsten und herrlichsten Gedanken der Weisen verlieren<lb/> nicht dadurch an Wert, daß andre vor ihnen ähnlich dachten und empfanden; wir<lb/> werden nicht die überlieferten Geistesschätze der Vorzeit durchstöbern, um ihnen<lb/> ein Plagiat nachweisen zu können. Weil wir den Vorfahren verwandt sind,<lb/> Menschen wie sie, mit ähnlichen Anlagen geboren, darum nimmt bei uns das Denken,<lb/> das Fühlen, die Leidenschaft ähnlichen Ausdruck an und entspricht doch immer einem<lb/> Bedürfnis, das bei uns mit derselben Ursprünglichkeit und Stärke vorhanden ist<lb/> wie bei ihnen. Wir haben dasselbe lebhafte, immer rege Verlangen, dem Ausdruck<lb/> zu geben, was uns bewegt, oder das zu vernehmen, was sich uns als der treueste,<lb/> zutreffendste Ausdruck des eignen Gefühls bekundet. Das Schöne, das Große,<lb/> dus Erhabne wirkt auf uns mit der unmittelbare» Gewalt, die es immer über<lb/> das menschliche Gemüt übte und immer behalten wird. Wir haben das Bedürfnis,<lb/> zu bewundern, zu verehren, zu lieben, wie das, zu hassen, wenn sich auch dabei<lb/> die Empfindungen der Einzelnen kreuzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_410"> Neu war nicht das Christentum, nicht die Lehre Luthers; neu war so wenig<lb/> der Darwinismus wie das Keplersche Shstem. Weltbewegende Ideen, Glaubens¬<lb/> systeme, die die Gemüter der Menschen tief erregt haben, sind nie plötzlich auf¬<lb/> getreten; sie waren vorbereitet in dem Denken der Menschheit, wir finden ihre Keime<lb/> lange vor der Zeit, wo sie festere Gestalt annahmen. Wissenschaftliche Wahrheiten<lb/> Von großer Bedeutung wurden nicht auf einmal entdeckt; es bedurfte, um sie zu<lb/> finden, wiederholter Anläufe, bei denen mau ihnen immer etwas näher kam. Aber<lb/> wenn auch die Geistesarbeit der Menschheit nur durch ein Zusnmmeuwirken vieler<lb/> geschaffen wird, so hat doch der Einzelne, der hieran mitwirkt, jedesmal eine eigne,<lb/> selbständige Arbeit zu leisten, und in seinem Innern findet eine Neuschöpfung statt.<lb/> Große Menschen mit starren, ursprünglichen Anlagen haben sich durch tiefe Seelen¬<lb/> kämpfe durchgerungen zu den Glaubenslehren, die mit zündender Kraft aus die<lb/> Zeitgenossen wirkten, weil diese selbst in ihrem Innern die Wahrheit der verkündeten<lb/> Lehre empfanden, und weil die verknöcherten Satzungen der Überlieferung sie kalt<lb/> ließen. Die Geistesthätigkeit der Männer, die den Wissensschatz der Menschheit<lb/> durch wertvolle Entdeckungen bereicherten, war etwas individuelles, thuen eigen¬<lb/> tümliches. Der ganze schon gesammelte Vorrat menschlicher Erkenntnis war für sie<lb/> nnr ein Hilfsmittel; der ihnen selbst innewohnende Drang zum Forsche» und Er¬<lb/> kennen war die schaffende Kraft, durch deren Wirken der Fortschritt der Menschheit<lb/> so wesentlich gefördert wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_411" next="#ID_412"> Und wie in den großen, so ist es in de» kleinen Dingen des Lebens. Die<lb/> Bedürfnisse des lebende» Geschlechts, bedingt dnrch die Beschaffenheit der mensch-<lb/> lichen Natur wie durch alle die Verhältnisse, worin der Mensch aufwächst und lebt,<lb/> diese mit uittviderstehlicher Macht sich geltend machende» Bedürfiüsfe sind der Rechts¬<lb/> anspruch, kraft dessen wir die Zeitfragen und Tngesfragen mit all dem Eifer er¬<lb/> örtern, mit dem es geschieht. Weil sich die Aufgabe der Menschheit immer wieder</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0149]
von der Schriftstellerin
Es kann nicht ernst gemeint sein, daß wir uns grämen sollten über die Un¬
möglichkeit, dem Menschenleben mit allen seinen Problemen ganz und gar neue
Seiten abzugewinnen. Die tiefsten und herrlichsten Gedanken der Weisen verlieren
nicht dadurch an Wert, daß andre vor ihnen ähnlich dachten und empfanden; wir
werden nicht die überlieferten Geistesschätze der Vorzeit durchstöbern, um ihnen
ein Plagiat nachweisen zu können. Weil wir den Vorfahren verwandt sind,
Menschen wie sie, mit ähnlichen Anlagen geboren, darum nimmt bei uns das Denken,
das Fühlen, die Leidenschaft ähnlichen Ausdruck an und entspricht doch immer einem
Bedürfnis, das bei uns mit derselben Ursprünglichkeit und Stärke vorhanden ist
wie bei ihnen. Wir haben dasselbe lebhafte, immer rege Verlangen, dem Ausdruck
zu geben, was uns bewegt, oder das zu vernehmen, was sich uns als der treueste,
zutreffendste Ausdruck des eignen Gefühls bekundet. Das Schöne, das Große,
dus Erhabne wirkt auf uns mit der unmittelbare» Gewalt, die es immer über
das menschliche Gemüt übte und immer behalten wird. Wir haben das Bedürfnis,
zu bewundern, zu verehren, zu lieben, wie das, zu hassen, wenn sich auch dabei
die Empfindungen der Einzelnen kreuzen.
Neu war nicht das Christentum, nicht die Lehre Luthers; neu war so wenig
der Darwinismus wie das Keplersche Shstem. Weltbewegende Ideen, Glaubens¬
systeme, die die Gemüter der Menschen tief erregt haben, sind nie plötzlich auf¬
getreten; sie waren vorbereitet in dem Denken der Menschheit, wir finden ihre Keime
lange vor der Zeit, wo sie festere Gestalt annahmen. Wissenschaftliche Wahrheiten
Von großer Bedeutung wurden nicht auf einmal entdeckt; es bedurfte, um sie zu
finden, wiederholter Anläufe, bei denen mau ihnen immer etwas näher kam. Aber
wenn auch die Geistesarbeit der Menschheit nur durch ein Zusnmmeuwirken vieler
geschaffen wird, so hat doch der Einzelne, der hieran mitwirkt, jedesmal eine eigne,
selbständige Arbeit zu leisten, und in seinem Innern findet eine Neuschöpfung statt.
Große Menschen mit starren, ursprünglichen Anlagen haben sich durch tiefe Seelen¬
kämpfe durchgerungen zu den Glaubenslehren, die mit zündender Kraft aus die
Zeitgenossen wirkten, weil diese selbst in ihrem Innern die Wahrheit der verkündeten
Lehre empfanden, und weil die verknöcherten Satzungen der Überlieferung sie kalt
ließen. Die Geistesthätigkeit der Männer, die den Wissensschatz der Menschheit
durch wertvolle Entdeckungen bereicherten, war etwas individuelles, thuen eigen¬
tümliches. Der ganze schon gesammelte Vorrat menschlicher Erkenntnis war für sie
nnr ein Hilfsmittel; der ihnen selbst innewohnende Drang zum Forsche» und Er¬
kennen war die schaffende Kraft, durch deren Wirken der Fortschritt der Menschheit
so wesentlich gefördert wird.
Und wie in den großen, so ist es in de» kleinen Dingen des Lebens. Die
Bedürfnisse des lebende» Geschlechts, bedingt dnrch die Beschaffenheit der mensch-
lichen Natur wie durch alle die Verhältnisse, worin der Mensch aufwächst und lebt,
diese mit uittviderstehlicher Macht sich geltend machende» Bedürfiüsfe sind der Rechts¬
anspruch, kraft dessen wir die Zeitfragen und Tngesfragen mit all dem Eifer er¬
örtern, mit dem es geschieht. Weil sich die Aufgabe der Menschheit immer wieder
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