Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

natürlichen Begriff der selbständigen Handlung unbedingt im Widerspruch und
gestattet, daß eine einzige Äußerung, die sich auf hundert Personen bezieht, als
hundert selbständige Beleidigungen aufgefaßt wird. Wie aber hier einund-
dieselbe Handlung zu einer Reihe von selbständigen Handlungen auseinander-
gezerrt ist, so werden oft auch viele selbständige Handlanger durch die Rechts¬
logik in eine einzige verwandelt. Ein Gehilfe, der fast täglich während eines
Jahres aus der Ladenkasse stiehlt, soll nur eine einzige Handlung begangen
haben, ebenso der Mann, der mit der Frau seines Nächsten fortgesetzt Ehebruch
treibt. Für dieses logische Kunststück wird als Erklärung ausgegeben, daß die
mehreren Thaten durch die Einheitlichkeit des Entschlusses, der sich von An¬
fang an auf alle zukünftigen gleichartig ausgeführten Sünden erstreckte, als
eine einzige zu betrachten seien. Mit Worten läßt sich trefflich streiten. Die
angebliche Einheitlichkeit des Entschlusses kann doch nicht die Kraft haben, die
Thatsachen zusammenzuschweißen, sie beseitigt auch gar nicht den besondern
Entschluß bei jedem Einzelfall. Bei dem Rüuberhauptmann, der seiner Horde
den Befehl zum Angriff erteilt, und bei allen Thaten, die nach der natürlichen
Logik nur einunddieselbe Handlung sind, liegt wirklich Einheitlichkeit des
Entschlusses und Gleichartigkeit der Ausführung der That vor. Wenn nach
der Rechtslogik Einheitlichkeit des Entschlusses und Gleichartigkeit der Aus¬
führung der That sogar die Kraft haben, aus mehreren Handlungen eine einzige
zu machen, so bleibt es unbegreiflich, daß eine einzige That als solche nicht
gelten soll, obwohl sie nach Entschluß und Ausführung nicht anders als ein¬
heitlich geschehen kann. Daß die Geschwornen eine Nechtsbelehrung, die aus
einer Handlung mehrere und aus mehreren Handlungen eine macht, nicht ver¬
stehen, darf ihnen nicht zum Vorwurf gereichen.

Es ist schon oben gesagt worden, daß man es bei einundderselben Hand¬
lung, die mehrere Strafgesetze verletzt, bei der Strafzumessung nur mit einer
einzigen Strafbestimmung zu thun hat. Unter allen Strafgesetzen, gegen die
verstoßen worden ist, kommt nur das in Anwendung, das in seinem Straf¬
rahmen das höchste Strafmaß zuläßt, das aber freilich auch, da die Spann¬
weite des Strafrahmens sehr verschieden ist, eine geringere Strafe zulassen
kann, als einer der andern durch die That verletzten Paragraphen. Nehmen
wir an, ein Bahnhofsvorsteher habe durch Vernachlässigung der ihm obliegenden
Pflichten einen Eisenbahntransport gefährdet, indem er das Einfahrtssignal
für einen ankommenden Zug habe geben lassen, obgleich das Einfahrtsgleis
noch von einigen Wagen besetzt gewesen sei. Er hat durch eine solche Ge¬
fährdung, wenn auch kein Schaden entstand, und sein Versehen unter den ob¬
waltenden Umständen aus verschiednen Gründen als sehr geringfügig anzusehen
war, nach Z 316 des Strafgesetzbuchs Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre,
mindestens aber einen Tag Gefängnis verwirkt. Nach der gleichen Vorschrift
wird er bestraft, wenn es nicht bei der bloßen Gefährdung geblieben ist, sondern


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

natürlichen Begriff der selbständigen Handlung unbedingt im Widerspruch und
gestattet, daß eine einzige Äußerung, die sich auf hundert Personen bezieht, als
hundert selbständige Beleidigungen aufgefaßt wird. Wie aber hier einund-
dieselbe Handlung zu einer Reihe von selbständigen Handlungen auseinander-
gezerrt ist, so werden oft auch viele selbständige Handlanger durch die Rechts¬
logik in eine einzige verwandelt. Ein Gehilfe, der fast täglich während eines
Jahres aus der Ladenkasse stiehlt, soll nur eine einzige Handlung begangen
haben, ebenso der Mann, der mit der Frau seines Nächsten fortgesetzt Ehebruch
treibt. Für dieses logische Kunststück wird als Erklärung ausgegeben, daß die
mehreren Thaten durch die Einheitlichkeit des Entschlusses, der sich von An¬
fang an auf alle zukünftigen gleichartig ausgeführten Sünden erstreckte, als
eine einzige zu betrachten seien. Mit Worten läßt sich trefflich streiten. Die
angebliche Einheitlichkeit des Entschlusses kann doch nicht die Kraft haben, die
Thatsachen zusammenzuschweißen, sie beseitigt auch gar nicht den besondern
Entschluß bei jedem Einzelfall. Bei dem Rüuberhauptmann, der seiner Horde
den Befehl zum Angriff erteilt, und bei allen Thaten, die nach der natürlichen
Logik nur einunddieselbe Handlung sind, liegt wirklich Einheitlichkeit des
Entschlusses und Gleichartigkeit der Ausführung der That vor. Wenn nach
der Rechtslogik Einheitlichkeit des Entschlusses und Gleichartigkeit der Aus¬
führung der That sogar die Kraft haben, aus mehreren Handlungen eine einzige
zu machen, so bleibt es unbegreiflich, daß eine einzige That als solche nicht
gelten soll, obwohl sie nach Entschluß und Ausführung nicht anders als ein¬
heitlich geschehen kann. Daß die Geschwornen eine Nechtsbelehrung, die aus
einer Handlung mehrere und aus mehreren Handlungen eine macht, nicht ver¬
stehen, darf ihnen nicht zum Vorwurf gereichen.

Es ist schon oben gesagt worden, daß man es bei einundderselben Hand¬
lung, die mehrere Strafgesetze verletzt, bei der Strafzumessung nur mit einer
einzigen Strafbestimmung zu thun hat. Unter allen Strafgesetzen, gegen die
verstoßen worden ist, kommt nur das in Anwendung, das in seinem Straf¬
rahmen das höchste Strafmaß zuläßt, das aber freilich auch, da die Spann¬
weite des Strafrahmens sehr verschieden ist, eine geringere Strafe zulassen
kann, als einer der andern durch die That verletzten Paragraphen. Nehmen
wir an, ein Bahnhofsvorsteher habe durch Vernachlässigung der ihm obliegenden
Pflichten einen Eisenbahntransport gefährdet, indem er das Einfahrtssignal
für einen ankommenden Zug habe geben lassen, obgleich das Einfahrtsgleis
noch von einigen Wagen besetzt gewesen sei. Er hat durch eine solche Ge¬
fährdung, wenn auch kein Schaden entstand, und sein Versehen unter den ob¬
waltenden Umständen aus verschiednen Gründen als sehr geringfügig anzusehen
war, nach Z 316 des Strafgesetzbuchs Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre,
mindestens aber einen Tag Gefängnis verwirkt. Nach der gleichen Vorschrift
wird er bestraft, wenn es nicht bei der bloßen Gefährdung geblieben ist, sondern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224382"/>
          <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_376" prev="#ID_375"> natürlichen Begriff der selbständigen Handlung unbedingt im Widerspruch und<lb/>
gestattet, daß eine einzige Äußerung, die sich auf hundert Personen bezieht, als<lb/>
hundert selbständige Beleidigungen aufgefaßt wird. Wie aber hier einund-<lb/>
dieselbe Handlung zu einer Reihe von selbständigen Handlungen auseinander-<lb/>
gezerrt ist, so werden oft auch viele selbständige Handlanger durch die Rechts¬<lb/>
logik in eine einzige verwandelt. Ein Gehilfe, der fast täglich während eines<lb/>
Jahres aus der Ladenkasse stiehlt, soll nur eine einzige Handlung begangen<lb/>
haben, ebenso der Mann, der mit der Frau seines Nächsten fortgesetzt Ehebruch<lb/>
treibt. Für dieses logische Kunststück wird als Erklärung ausgegeben, daß die<lb/>
mehreren Thaten durch die Einheitlichkeit des Entschlusses, der sich von An¬<lb/>
fang an auf alle zukünftigen gleichartig ausgeführten Sünden erstreckte, als<lb/>
eine einzige zu betrachten seien. Mit Worten läßt sich trefflich streiten. Die<lb/>
angebliche Einheitlichkeit des Entschlusses kann doch nicht die Kraft haben, die<lb/>
Thatsachen zusammenzuschweißen, sie beseitigt auch gar nicht den besondern<lb/>
Entschluß bei jedem Einzelfall. Bei dem Rüuberhauptmann, der seiner Horde<lb/>
den Befehl zum Angriff erteilt, und bei allen Thaten, die nach der natürlichen<lb/>
Logik nur einunddieselbe Handlung sind, liegt wirklich Einheitlichkeit des<lb/>
Entschlusses und Gleichartigkeit der Ausführung der That vor. Wenn nach<lb/>
der Rechtslogik Einheitlichkeit des Entschlusses und Gleichartigkeit der Aus¬<lb/>
führung der That sogar die Kraft haben, aus mehreren Handlungen eine einzige<lb/>
zu machen, so bleibt es unbegreiflich, daß eine einzige That als solche nicht<lb/>
gelten soll, obwohl sie nach Entschluß und Ausführung nicht anders als ein¬<lb/>
heitlich geschehen kann. Daß die Geschwornen eine Nechtsbelehrung, die aus<lb/>
einer Handlung mehrere und aus mehreren Handlungen eine macht, nicht ver¬<lb/>
stehen, darf ihnen nicht zum Vorwurf gereichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_377" next="#ID_378"> Es ist schon oben gesagt worden, daß man es bei einundderselben Hand¬<lb/>
lung, die mehrere Strafgesetze verletzt, bei der Strafzumessung nur mit einer<lb/>
einzigen Strafbestimmung zu thun hat. Unter allen Strafgesetzen, gegen die<lb/>
verstoßen worden ist, kommt nur das in Anwendung, das in seinem Straf¬<lb/>
rahmen das höchste Strafmaß zuläßt, das aber freilich auch, da die Spann¬<lb/>
weite des Strafrahmens sehr verschieden ist, eine geringere Strafe zulassen<lb/>
kann, als einer der andern durch die That verletzten Paragraphen. Nehmen<lb/>
wir an, ein Bahnhofsvorsteher habe durch Vernachlässigung der ihm obliegenden<lb/>
Pflichten einen Eisenbahntransport gefährdet, indem er das Einfahrtssignal<lb/>
für einen ankommenden Zug habe geben lassen, obgleich das Einfahrtsgleis<lb/>
noch von einigen Wagen besetzt gewesen sei. Er hat durch eine solche Ge¬<lb/>
fährdung, wenn auch kein Schaden entstand, und sein Versehen unter den ob¬<lb/>
waltenden Umständen aus verschiednen Gründen als sehr geringfügig anzusehen<lb/>
war, nach Z 316 des Strafgesetzbuchs Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre,<lb/>
mindestens aber einen Tag Gefängnis verwirkt. Nach der gleichen Vorschrift<lb/>
wird er bestraft, wenn es nicht bei der bloßen Gefährdung geblieben ist, sondern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0136] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg natürlichen Begriff der selbständigen Handlung unbedingt im Widerspruch und gestattet, daß eine einzige Äußerung, die sich auf hundert Personen bezieht, als hundert selbständige Beleidigungen aufgefaßt wird. Wie aber hier einund- dieselbe Handlung zu einer Reihe von selbständigen Handlungen auseinander- gezerrt ist, so werden oft auch viele selbständige Handlanger durch die Rechts¬ logik in eine einzige verwandelt. Ein Gehilfe, der fast täglich während eines Jahres aus der Ladenkasse stiehlt, soll nur eine einzige Handlung begangen haben, ebenso der Mann, der mit der Frau seines Nächsten fortgesetzt Ehebruch treibt. Für dieses logische Kunststück wird als Erklärung ausgegeben, daß die mehreren Thaten durch die Einheitlichkeit des Entschlusses, der sich von An¬ fang an auf alle zukünftigen gleichartig ausgeführten Sünden erstreckte, als eine einzige zu betrachten seien. Mit Worten läßt sich trefflich streiten. Die angebliche Einheitlichkeit des Entschlusses kann doch nicht die Kraft haben, die Thatsachen zusammenzuschweißen, sie beseitigt auch gar nicht den besondern Entschluß bei jedem Einzelfall. Bei dem Rüuberhauptmann, der seiner Horde den Befehl zum Angriff erteilt, und bei allen Thaten, die nach der natürlichen Logik nur einunddieselbe Handlung sind, liegt wirklich Einheitlichkeit des Entschlusses und Gleichartigkeit der Ausführung der That vor. Wenn nach der Rechtslogik Einheitlichkeit des Entschlusses und Gleichartigkeit der Aus¬ führung der That sogar die Kraft haben, aus mehreren Handlungen eine einzige zu machen, so bleibt es unbegreiflich, daß eine einzige That als solche nicht gelten soll, obwohl sie nach Entschluß und Ausführung nicht anders als ein¬ heitlich geschehen kann. Daß die Geschwornen eine Nechtsbelehrung, die aus einer Handlung mehrere und aus mehreren Handlungen eine macht, nicht ver¬ stehen, darf ihnen nicht zum Vorwurf gereichen. Es ist schon oben gesagt worden, daß man es bei einundderselben Hand¬ lung, die mehrere Strafgesetze verletzt, bei der Strafzumessung nur mit einer einzigen Strafbestimmung zu thun hat. Unter allen Strafgesetzen, gegen die verstoßen worden ist, kommt nur das in Anwendung, das in seinem Straf¬ rahmen das höchste Strafmaß zuläßt, das aber freilich auch, da die Spann¬ weite des Strafrahmens sehr verschieden ist, eine geringere Strafe zulassen kann, als einer der andern durch die That verletzten Paragraphen. Nehmen wir an, ein Bahnhofsvorsteher habe durch Vernachlässigung der ihm obliegenden Pflichten einen Eisenbahntransport gefährdet, indem er das Einfahrtssignal für einen ankommenden Zug habe geben lassen, obgleich das Einfahrtsgleis noch von einigen Wagen besetzt gewesen sei. Er hat durch eine solche Ge¬ fährdung, wenn auch kein Schaden entstand, und sein Versehen unter den ob¬ waltenden Umständen aus verschiednen Gründen als sehr geringfügig anzusehen war, nach Z 316 des Strafgesetzbuchs Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre, mindestens aber einen Tag Gefängnis verwirkt. Nach der gleichen Vorschrift wird er bestraft, wenn es nicht bei der bloßen Gefährdung geblieben ist, sondern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/136
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/136>, abgerufen am 27.09.2024.