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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und das Slawentum

der Kaiser von Deutschland dauernd von dem Könige von Preußen so weit
trennen lassen, daß jene junge, preußische Tradition sich weiter auswachsen
könnte; schwerlich können wir noch hoffen, einen kirchlichen Schirmherrn der
germanischen Völker zu bekommen, weil wir keinen nationalen Schirmherrn
der deutschen Stämme haben; schwerlich werden wir auch nur erleben, daß
der deutsche Protestantismus zu einer in sich geschlossenen, nach außen sicht¬
baren und streitbaren Organisation gelange. Wollen wir uns der Hoffnung
hingeben, daß noch zu rechter Zeit Katholiken wie Protestanten so weit in ihrem
Nationalgefühl erstarken werden, um zu allererst für den Volksgenossen, dann
erst für den Glaubensgenossen einzustehen, wollen wir warten, bis in natio¬
nalen Hauptfragen das Glaubensbekenntnis keine Stimme mehr hat: es dürfte
dann leicht zu spät sein.

Zar Alexander III. hat oft erklärt, daß er kein kriegerischer Herrscher sei.
Trotzdem hat es nicht an ihm gelegen, wenn bisher ein Kampf mit England,
selbst mit Deutschland-Österreich vermieden worden ist. Sein friedlicher, humaner
Vater wurde in den Krieg von 187V hineingezogen. Alexander III. hat weit
mehr Ähnlichkeit mit seinem Großvater als mit seinem Vater. Und Nikolaus I.
war ein echter und volkstümlicher Zar, wie es auch Alexander III. ist und
sein will. Hat man denn schon vergessen, was Zar Nikolaus für Europa
war? Hat man vergessen, daß er 1851 die Herrschaft der Welt mit England
teilen wollte? Hat man vergessen den Zug Suwarows nach Italien, die Ukase,
durch welche die Revolution sowohl in Schleswig-Holstein, als in Preußen-
Olmütz, als in Ungarn niedergeworfen wurde? In allen Münzkabinetten
Europas mag nur auf der russischen Denkmünze, die den Feldzug in Ungarn
verherrlicht, die Umschrift lesen: "Gott ist mit uns, begreift es, ihr Heiden,
und unterwerfe euch." Den russischen Zaren sind wir alle, Katholiken wie
Protestanten, Ungarn, Deutsche, Franzosen, kurz alles, was nicht russisch und
orthodox ist, "Heiden"! Und bis heute werden jährlich einmal all diese
Heiden in den Kirchen Rußlands öffentlich verflucht. Bis heute sagt der
russische Bauer, ob er von einem Kriege zwischen Preußen und Österreich,
oder zwischen Italien und Österreich, oder zwischen Frankreich und England
hört, stets nur: der Preuße, der Österreicher, der Franzose u. s. w. "revoltirt"
(buutuM), d. h. gegen Rußland, gegen den Zar, der Europa in Ordnung
hält. Ihm sind alle andern Staaten und Völker Europas heidnische Vasallen
des Zaren. Man wird sagen, das sei bäuerische Unbildung. Allein es ist
der Geist, der 50 Millionen Russen durchdringt, und daß er nicht weit ab¬
weicht von dem Geiste der oberen Klassen in Rußland, haben wir noch jüngst
lesen können in der famosen Antwort des Oberprokurators des heiligen Syuods,
Geheimrat Pobedonoszew, an die Evangelische Allianz in Sachen der protestan¬
tischen Kirche Rußlands. Vollkommene Unbildung und maßlose Überhebung
waren auch hier vorhanden, und zwar in demselben Sinne, wie in dein


Deutschland und das Slawentum

der Kaiser von Deutschland dauernd von dem Könige von Preußen so weit
trennen lassen, daß jene junge, preußische Tradition sich weiter auswachsen
könnte; schwerlich können wir noch hoffen, einen kirchlichen Schirmherrn der
germanischen Völker zu bekommen, weil wir keinen nationalen Schirmherrn
der deutschen Stämme haben; schwerlich werden wir auch nur erleben, daß
der deutsche Protestantismus zu einer in sich geschlossenen, nach außen sicht¬
baren und streitbaren Organisation gelange. Wollen wir uns der Hoffnung
hingeben, daß noch zu rechter Zeit Katholiken wie Protestanten so weit in ihrem
Nationalgefühl erstarken werden, um zu allererst für den Volksgenossen, dann
erst für den Glaubensgenossen einzustehen, wollen wir warten, bis in natio¬
nalen Hauptfragen das Glaubensbekenntnis keine Stimme mehr hat: es dürfte
dann leicht zu spät sein.

Zar Alexander III. hat oft erklärt, daß er kein kriegerischer Herrscher sei.
Trotzdem hat es nicht an ihm gelegen, wenn bisher ein Kampf mit England,
selbst mit Deutschland-Österreich vermieden worden ist. Sein friedlicher, humaner
Vater wurde in den Krieg von 187V hineingezogen. Alexander III. hat weit
mehr Ähnlichkeit mit seinem Großvater als mit seinem Vater. Und Nikolaus I.
war ein echter und volkstümlicher Zar, wie es auch Alexander III. ist und
sein will. Hat man denn schon vergessen, was Zar Nikolaus für Europa
war? Hat man vergessen, daß er 1851 die Herrschaft der Welt mit England
teilen wollte? Hat man vergessen den Zug Suwarows nach Italien, die Ukase,
durch welche die Revolution sowohl in Schleswig-Holstein, als in Preußen-
Olmütz, als in Ungarn niedergeworfen wurde? In allen Münzkabinetten
Europas mag nur auf der russischen Denkmünze, die den Feldzug in Ungarn
verherrlicht, die Umschrift lesen: „Gott ist mit uns, begreift es, ihr Heiden,
und unterwerfe euch." Den russischen Zaren sind wir alle, Katholiken wie
Protestanten, Ungarn, Deutsche, Franzosen, kurz alles, was nicht russisch und
orthodox ist, „Heiden"! Und bis heute werden jährlich einmal all diese
Heiden in den Kirchen Rußlands öffentlich verflucht. Bis heute sagt der
russische Bauer, ob er von einem Kriege zwischen Preußen und Österreich,
oder zwischen Italien und Österreich, oder zwischen Frankreich und England
hört, stets nur: der Preuße, der Österreicher, der Franzose u. s. w. „revoltirt"
(buutuM), d. h. gegen Rußland, gegen den Zar, der Europa in Ordnung
hält. Ihm sind alle andern Staaten und Völker Europas heidnische Vasallen
des Zaren. Man wird sagen, das sei bäuerische Unbildung. Allein es ist
der Geist, der 50 Millionen Russen durchdringt, und daß er nicht weit ab¬
weicht von dem Geiste der oberen Klassen in Rußland, haben wir noch jüngst
lesen können in der famosen Antwort des Oberprokurators des heiligen Syuods,
Geheimrat Pobedonoszew, an die Evangelische Allianz in Sachen der protestan¬
tischen Kirche Rußlands. Vollkommene Unbildung und maßlose Überhebung
waren auch hier vorhanden, und zwar in demselben Sinne, wie in dein


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[0118] Deutschland und das Slawentum der Kaiser von Deutschland dauernd von dem Könige von Preußen so weit trennen lassen, daß jene junge, preußische Tradition sich weiter auswachsen könnte; schwerlich können wir noch hoffen, einen kirchlichen Schirmherrn der germanischen Völker zu bekommen, weil wir keinen nationalen Schirmherrn der deutschen Stämme haben; schwerlich werden wir auch nur erleben, daß der deutsche Protestantismus zu einer in sich geschlossenen, nach außen sicht¬ baren und streitbaren Organisation gelange. Wollen wir uns der Hoffnung hingeben, daß noch zu rechter Zeit Katholiken wie Protestanten so weit in ihrem Nationalgefühl erstarken werden, um zu allererst für den Volksgenossen, dann erst für den Glaubensgenossen einzustehen, wollen wir warten, bis in natio¬ nalen Hauptfragen das Glaubensbekenntnis keine Stimme mehr hat: es dürfte dann leicht zu spät sein. Zar Alexander III. hat oft erklärt, daß er kein kriegerischer Herrscher sei. Trotzdem hat es nicht an ihm gelegen, wenn bisher ein Kampf mit England, selbst mit Deutschland-Österreich vermieden worden ist. Sein friedlicher, humaner Vater wurde in den Krieg von 187V hineingezogen. Alexander III. hat weit mehr Ähnlichkeit mit seinem Großvater als mit seinem Vater. Und Nikolaus I. war ein echter und volkstümlicher Zar, wie es auch Alexander III. ist und sein will. Hat man denn schon vergessen, was Zar Nikolaus für Europa war? Hat man vergessen, daß er 1851 die Herrschaft der Welt mit England teilen wollte? Hat man vergessen den Zug Suwarows nach Italien, die Ukase, durch welche die Revolution sowohl in Schleswig-Holstein, als in Preußen- Olmütz, als in Ungarn niedergeworfen wurde? In allen Münzkabinetten Europas mag nur auf der russischen Denkmünze, die den Feldzug in Ungarn verherrlicht, die Umschrift lesen: „Gott ist mit uns, begreift es, ihr Heiden, und unterwerfe euch." Den russischen Zaren sind wir alle, Katholiken wie Protestanten, Ungarn, Deutsche, Franzosen, kurz alles, was nicht russisch und orthodox ist, „Heiden"! Und bis heute werden jährlich einmal all diese Heiden in den Kirchen Rußlands öffentlich verflucht. Bis heute sagt der russische Bauer, ob er von einem Kriege zwischen Preußen und Österreich, oder zwischen Italien und Österreich, oder zwischen Frankreich und England hört, stets nur: der Preuße, der Österreicher, der Franzose u. s. w. „revoltirt" (buutuM), d. h. gegen Rußland, gegen den Zar, der Europa in Ordnung hält. Ihm sind alle andern Staaten und Völker Europas heidnische Vasallen des Zaren. Man wird sagen, das sei bäuerische Unbildung. Allein es ist der Geist, der 50 Millionen Russen durchdringt, und daß er nicht weit ab¬ weicht von dem Geiste der oberen Klassen in Rußland, haben wir noch jüngst lesen können in der famosen Antwort des Oberprokurators des heiligen Syuods, Geheimrat Pobedonoszew, an die Evangelische Allianz in Sachen der protestan¬ tischen Kirche Rußlands. Vollkommene Unbildung und maßlose Überhebung waren auch hier vorhanden, und zwar in demselben Sinne, wie in dein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/118>, abgerufen am 27.09.2024.