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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und das Slawentum

Bürgern, seine Schulen, Verwaltungen, alle öffentlichen Einrichtungen russisch
"ach Ursprung und Sprache, das Land ein alter russischer Staat, von Preußen
erobert, die herrschende Kirche wäre die russisch-morgenlündische. Wie sähe es
dann wohl heute in Posen aus? Würde das Land uicht von Agitatoren
wimmeln, wäre nicht jeder Pope ein Agitator für die Revolution, flössen
nicht Millionen ans Petersburg zur Unterstützung der heiligen Sache der
Befreiung russischer Brüder vom deutschen Joch, ja hätte Rußland nicht längst
MM Schwert gegriffen für solche heilige Sache? In einem solchen Posen
die Russen in der Weise von der preußischen Regierung mißhandelt, wie die
Deutschen der Ostseeprovinzen heute von der russischen Regierung mißhandelt
werden, und ganz Nußland läge im Fieber, der friedliebendste Zar müßte so¬
fort den Krieg beginnen, es wäre an kein Halten zu denken. Jeder Russe
aus Posen gälte als heiliger Märtyrer und fände in Rußland offene Arme
und Beutel. Solcher energische nationale Gemeinwillc durchdringt das russische
Boll und vermehrt gewaltig die Stärke, den Vorzug, deren sich der russische
Absolutismus an sich schon vor den beschränkten Monarchien des Westens in
dem nationalen äußern Kampfe erfreut. Unser an sich schwächliches nationales
Bewußtsein wird außerdem täglich in Presse und Parlamenten verwundet, ge¬
schwächt; es ist blutarm zum Erbarmen und wird nur gelegentlich durch eine
tüchtige Portion Eisen in Gestalt von fremden Säbelklingen am Leben er¬
halten. Wie sanft und bescheiden treten bei uns solche Versuche nationaler
Selbsthilfe, wie der deutsche Schulverein auf, wenn man ihn mit den slawischen
Wohlthätigkeitsvereinen Rußlands vergleicht! Oder wie lammfromm erscheint
der Gustav-Adolf-Verein gegenüber den vom Staat und der höchsten Gesell¬
schaft Rußlands unterstützten russisch-orthodoxen "Brüderschaften" oder gegen¬
über der von der höchsten russischen Kirchenbehörde geleiteten religiösen Pro¬
paganda der slawischen Welt! Wie viele österreichische Gulden oder deutsche
Mark haben sich wohl schon über die russische Grenze gewagt, um dort drüben
deutsche Kirchen oder Schulen zu bauen oder zu fördern? Und wie viele Millionen
Rubel flössen von Nußland her in slawische Kirchen- und Schulkasseu zur
Förderung der russisch-slawischen Sache zwischen Prag und dem Schwarzen
Meere! Und wie könnte es auch anders sein bei der religiösen Zerrissenheit
der germanischen Welt! Die deutschen Protestanten haben kein gemeinsames
Oberhaupt in unsrer Zeit, und das Oberhaupt der deutschen Katholiken ist
nicht deutsch! Kaiser Wilhelm der Alte fühlte sich in gewissen Grenzen noch
als Schirmherr des Protestantismus; in dem alten Preußen konnte eine
solche Tradition Wurzel fassen. Der neue deutsche Kaiser hat diese Erbschaft
nicht angetreten, kann als Herr über 16 Millionen Katholiken nicht so frei,
wie es der König von Preußen vordem konnte, oberster Schirmherr des Pro¬
testantismus, und als protestantischer Fürst noch weniger oberster weltlicher
Schirmherr des Katholizismus sein. Und schwerlich wird sich in dieser Sache


Deutschland und das Slawentum

Bürgern, seine Schulen, Verwaltungen, alle öffentlichen Einrichtungen russisch
"ach Ursprung und Sprache, das Land ein alter russischer Staat, von Preußen
erobert, die herrschende Kirche wäre die russisch-morgenlündische. Wie sähe es
dann wohl heute in Posen aus? Würde das Land uicht von Agitatoren
wimmeln, wäre nicht jeder Pope ein Agitator für die Revolution, flössen
nicht Millionen ans Petersburg zur Unterstützung der heiligen Sache der
Befreiung russischer Brüder vom deutschen Joch, ja hätte Rußland nicht längst
MM Schwert gegriffen für solche heilige Sache? In einem solchen Posen
die Russen in der Weise von der preußischen Regierung mißhandelt, wie die
Deutschen der Ostseeprovinzen heute von der russischen Regierung mißhandelt
werden, und ganz Nußland läge im Fieber, der friedliebendste Zar müßte so¬
fort den Krieg beginnen, es wäre an kein Halten zu denken. Jeder Russe
aus Posen gälte als heiliger Märtyrer und fände in Rußland offene Arme
und Beutel. Solcher energische nationale Gemeinwillc durchdringt das russische
Boll und vermehrt gewaltig die Stärke, den Vorzug, deren sich der russische
Absolutismus an sich schon vor den beschränkten Monarchien des Westens in
dem nationalen äußern Kampfe erfreut. Unser an sich schwächliches nationales
Bewußtsein wird außerdem täglich in Presse und Parlamenten verwundet, ge¬
schwächt; es ist blutarm zum Erbarmen und wird nur gelegentlich durch eine
tüchtige Portion Eisen in Gestalt von fremden Säbelklingen am Leben er¬
halten. Wie sanft und bescheiden treten bei uns solche Versuche nationaler
Selbsthilfe, wie der deutsche Schulverein auf, wenn man ihn mit den slawischen
Wohlthätigkeitsvereinen Rußlands vergleicht! Oder wie lammfromm erscheint
der Gustav-Adolf-Verein gegenüber den vom Staat und der höchsten Gesell¬
schaft Rußlands unterstützten russisch-orthodoxen „Brüderschaften" oder gegen¬
über der von der höchsten russischen Kirchenbehörde geleiteten religiösen Pro¬
paganda der slawischen Welt! Wie viele österreichische Gulden oder deutsche
Mark haben sich wohl schon über die russische Grenze gewagt, um dort drüben
deutsche Kirchen oder Schulen zu bauen oder zu fördern? Und wie viele Millionen
Rubel flössen von Nußland her in slawische Kirchen- und Schulkasseu zur
Förderung der russisch-slawischen Sache zwischen Prag und dem Schwarzen
Meere! Und wie könnte es auch anders sein bei der religiösen Zerrissenheit
der germanischen Welt! Die deutschen Protestanten haben kein gemeinsames
Oberhaupt in unsrer Zeit, und das Oberhaupt der deutschen Katholiken ist
nicht deutsch! Kaiser Wilhelm der Alte fühlte sich in gewissen Grenzen noch
als Schirmherr des Protestantismus; in dem alten Preußen konnte eine
solche Tradition Wurzel fassen. Der neue deutsche Kaiser hat diese Erbschaft
nicht angetreten, kann als Herr über 16 Millionen Katholiken nicht so frei,
wie es der König von Preußen vordem konnte, oberster Schirmherr des Pro¬
testantismus, und als protestantischer Fürst noch weniger oberster weltlicher
Schirmherr des Katholizismus sein. Und schwerlich wird sich in dieser Sache


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[0117] Deutschland und das Slawentum Bürgern, seine Schulen, Verwaltungen, alle öffentlichen Einrichtungen russisch "ach Ursprung und Sprache, das Land ein alter russischer Staat, von Preußen erobert, die herrschende Kirche wäre die russisch-morgenlündische. Wie sähe es dann wohl heute in Posen aus? Würde das Land uicht von Agitatoren wimmeln, wäre nicht jeder Pope ein Agitator für die Revolution, flössen nicht Millionen ans Petersburg zur Unterstützung der heiligen Sache der Befreiung russischer Brüder vom deutschen Joch, ja hätte Rußland nicht längst MM Schwert gegriffen für solche heilige Sache? In einem solchen Posen die Russen in der Weise von der preußischen Regierung mißhandelt, wie die Deutschen der Ostseeprovinzen heute von der russischen Regierung mißhandelt werden, und ganz Nußland läge im Fieber, der friedliebendste Zar müßte so¬ fort den Krieg beginnen, es wäre an kein Halten zu denken. Jeder Russe aus Posen gälte als heiliger Märtyrer und fände in Rußland offene Arme und Beutel. Solcher energische nationale Gemeinwillc durchdringt das russische Boll und vermehrt gewaltig die Stärke, den Vorzug, deren sich der russische Absolutismus an sich schon vor den beschränkten Monarchien des Westens in dem nationalen äußern Kampfe erfreut. Unser an sich schwächliches nationales Bewußtsein wird außerdem täglich in Presse und Parlamenten verwundet, ge¬ schwächt; es ist blutarm zum Erbarmen und wird nur gelegentlich durch eine tüchtige Portion Eisen in Gestalt von fremden Säbelklingen am Leben er¬ halten. Wie sanft und bescheiden treten bei uns solche Versuche nationaler Selbsthilfe, wie der deutsche Schulverein auf, wenn man ihn mit den slawischen Wohlthätigkeitsvereinen Rußlands vergleicht! Oder wie lammfromm erscheint der Gustav-Adolf-Verein gegenüber den vom Staat und der höchsten Gesell¬ schaft Rußlands unterstützten russisch-orthodoxen „Brüderschaften" oder gegen¬ über der von der höchsten russischen Kirchenbehörde geleiteten religiösen Pro¬ paganda der slawischen Welt! Wie viele österreichische Gulden oder deutsche Mark haben sich wohl schon über die russische Grenze gewagt, um dort drüben deutsche Kirchen oder Schulen zu bauen oder zu fördern? Und wie viele Millionen Rubel flössen von Nußland her in slawische Kirchen- und Schulkasseu zur Förderung der russisch-slawischen Sache zwischen Prag und dem Schwarzen Meere! Und wie könnte es auch anders sein bei der religiösen Zerrissenheit der germanischen Welt! Die deutschen Protestanten haben kein gemeinsames Oberhaupt in unsrer Zeit, und das Oberhaupt der deutschen Katholiken ist nicht deutsch! Kaiser Wilhelm der Alte fühlte sich in gewissen Grenzen noch als Schirmherr des Protestantismus; in dem alten Preußen konnte eine solche Tradition Wurzel fassen. Der neue deutsche Kaiser hat diese Erbschaft nicht angetreten, kann als Herr über 16 Millionen Katholiken nicht so frei, wie es der König von Preußen vordem konnte, oberster Schirmherr des Pro¬ testantismus, und als protestantischer Fürst noch weniger oberster weltlicher Schirmherr des Katholizismus sein. Und schwerlich wird sich in dieser Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/117>, abgerufen am 27.09.2024.