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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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aber schreitet die nationale russische Ausdehnung nach Osten hin, die Rnssi-
fizirnng zwischen der Wolga, dem mittelasiatischen Hochgebirge und dem Stillen
Ozean erfolgreich vor und verschlingt einen Stamm finnischer, kaukasischer,
mongolischer Nasse nach dem andern. Hierin drückt sich eine große kolonistische
Kraft ans, die freilich sehr wesentlich genährt wird dnrch den Umstand, daß
die Kolonisation stets auf dein Boden des russischen Staates und in geogra¬
phischem Zusammenhange mit dem Mutterlande bor sich geht. Unsre deutschen
Auswandrer würde sicher nicht so sehr der Vorwurf nationaler Schwäche treffen,
wenn sie, statt übers Meer oder nach Rußland zu gehen, sich auf deutschem
Boden jenseits unsrer heutige" Reichsgrenzen niederlassen konnten. Dem russischen
Kolonisten schreiten voraus der russische Offizier und der russische Beamte, der
Kolonist findet überall bereits seine gewohnten, wenn auch noch so schlechten
staatlichen Stützen und Gewalten vor; der deutsche Kolonist findet bis heute
nirgends in der Welt solche Stützen und Gewalten. Denn unsre heutigen
Kolonien siud keine Länder sür eigentliche Kolonisation, wie halb Rußland es
für den Russen ist, und kommen daher hier nicht in Betracht. In früheren
Jahrhunderten haben die Russen allerdings auch außerhalb der Grenzen ihres
moskowitischen Staatswesens kvlonisirt; diese Kolonisation der Kosaken jedoch
war meist unfreiwillig, sie ging ans der Not und Verfolgung in der Heimat
hervor und ergoß sich in unbewohnte Gebiete oder über wilde, weiche Natur¬
völker. Vor Stämmen von härterem Charakter oder höherer Bildung sind die
Russen stets zurückgewichen, auch wo der russische Staat erobernd voraus-
geschritteu war. Wo ausnahmsweise eine russische Kolonie sich in ein fremdes
Volkstum verirrte, wie in Preußen, in den Ostseeprovinzen, in Polen-Littauer,
da zeigte sie Ausdauer in Sprache, Sitte, Religion, kurz in den Grund¬
elementen des Volkslebens, aber geringe Kulturentwicklung. Alle Versuche der
Regierung, gegen Westen hin zu kolvnisiren, russische Bevölkerung in Polen,
Littauer, den Ostseeprovinzen vorzuschieben, sind mißlungen. Weder der russische
Edelmann, noch der Bauer geht freiwillig in diese Gebiete, nur der wandernde
Händler durchstreift sie, und der ebenso wandernde, wechselnde Pope, Beamte
oder Soldat. Daher ist eine wirkliche Assimilirung, ein Verrussen dieser Länder
nicht gelungen und wird voraussichtlich auch nicht gelingen. Wohl aber kann
hier die fremde Volks kraft zerstört, mit Aufopferung der vorhandenen Kultur
allmählich die Kraft des Widerstandes gebrochen werden. Das aber ist das
Unterscheidende zwischen der Handlungsweise des Knlturstcmtes und des rohen
Gewaltstaates, daß jener die Kultur in jeder Form achtet, dieser aber nicht.
Wir haben uns bisher gehütet, in Elsaß-Lothringen französische Kultur zu
zerstören, wir fördern die Kultur bei uns durch Verdeutschung Posens; Ru߬
land zerstört unbedenklich die fremde Kultur, um das fremde Volkstum zu
zerstören, ihm steht die staatliche Herrschaft, die nationale Gewalt über der
Kultur, über dem Wohle von Unterthanen und Provinzen. Hier an der Grenze


aber schreitet die nationale russische Ausdehnung nach Osten hin, die Rnssi-
fizirnng zwischen der Wolga, dem mittelasiatischen Hochgebirge und dem Stillen
Ozean erfolgreich vor und verschlingt einen Stamm finnischer, kaukasischer,
mongolischer Nasse nach dem andern. Hierin drückt sich eine große kolonistische
Kraft ans, die freilich sehr wesentlich genährt wird dnrch den Umstand, daß
die Kolonisation stets auf dein Boden des russischen Staates und in geogra¬
phischem Zusammenhange mit dem Mutterlande bor sich geht. Unsre deutschen
Auswandrer würde sicher nicht so sehr der Vorwurf nationaler Schwäche treffen,
wenn sie, statt übers Meer oder nach Rußland zu gehen, sich auf deutschem
Boden jenseits unsrer heutige» Reichsgrenzen niederlassen konnten. Dem russischen
Kolonisten schreiten voraus der russische Offizier und der russische Beamte, der
Kolonist findet überall bereits seine gewohnten, wenn auch noch so schlechten
staatlichen Stützen und Gewalten vor; der deutsche Kolonist findet bis heute
nirgends in der Welt solche Stützen und Gewalten. Denn unsre heutigen
Kolonien siud keine Länder sür eigentliche Kolonisation, wie halb Rußland es
für den Russen ist, und kommen daher hier nicht in Betracht. In früheren
Jahrhunderten haben die Russen allerdings auch außerhalb der Grenzen ihres
moskowitischen Staatswesens kvlonisirt; diese Kolonisation der Kosaken jedoch
war meist unfreiwillig, sie ging ans der Not und Verfolgung in der Heimat
hervor und ergoß sich in unbewohnte Gebiete oder über wilde, weiche Natur¬
völker. Vor Stämmen von härterem Charakter oder höherer Bildung sind die
Russen stets zurückgewichen, auch wo der russische Staat erobernd voraus-
geschritteu war. Wo ausnahmsweise eine russische Kolonie sich in ein fremdes
Volkstum verirrte, wie in Preußen, in den Ostseeprovinzen, in Polen-Littauer,
da zeigte sie Ausdauer in Sprache, Sitte, Religion, kurz in den Grund¬
elementen des Volkslebens, aber geringe Kulturentwicklung. Alle Versuche der
Regierung, gegen Westen hin zu kolvnisiren, russische Bevölkerung in Polen,
Littauer, den Ostseeprovinzen vorzuschieben, sind mißlungen. Weder der russische
Edelmann, noch der Bauer geht freiwillig in diese Gebiete, nur der wandernde
Händler durchstreift sie, und der ebenso wandernde, wechselnde Pope, Beamte
oder Soldat. Daher ist eine wirkliche Assimilirung, ein Verrussen dieser Länder
nicht gelungen und wird voraussichtlich auch nicht gelingen. Wohl aber kann
hier die fremde Volks kraft zerstört, mit Aufopferung der vorhandenen Kultur
allmählich die Kraft des Widerstandes gebrochen werden. Das aber ist das
Unterscheidende zwischen der Handlungsweise des Knlturstcmtes und des rohen
Gewaltstaates, daß jener die Kultur in jeder Form achtet, dieser aber nicht.
Wir haben uns bisher gehütet, in Elsaß-Lothringen französische Kultur zu
zerstören, wir fördern die Kultur bei uns durch Verdeutschung Posens; Ru߬
land zerstört unbedenklich die fremde Kultur, um das fremde Volkstum zu
zerstören, ihm steht die staatliche Herrschaft, die nationale Gewalt über der
Kultur, über dem Wohle von Unterthanen und Provinzen. Hier an der Grenze


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[0114] aber schreitet die nationale russische Ausdehnung nach Osten hin, die Rnssi- fizirnng zwischen der Wolga, dem mittelasiatischen Hochgebirge und dem Stillen Ozean erfolgreich vor und verschlingt einen Stamm finnischer, kaukasischer, mongolischer Nasse nach dem andern. Hierin drückt sich eine große kolonistische Kraft ans, die freilich sehr wesentlich genährt wird dnrch den Umstand, daß die Kolonisation stets auf dein Boden des russischen Staates und in geogra¬ phischem Zusammenhange mit dem Mutterlande bor sich geht. Unsre deutschen Auswandrer würde sicher nicht so sehr der Vorwurf nationaler Schwäche treffen, wenn sie, statt übers Meer oder nach Rußland zu gehen, sich auf deutschem Boden jenseits unsrer heutige» Reichsgrenzen niederlassen konnten. Dem russischen Kolonisten schreiten voraus der russische Offizier und der russische Beamte, der Kolonist findet überall bereits seine gewohnten, wenn auch noch so schlechten staatlichen Stützen und Gewalten vor; der deutsche Kolonist findet bis heute nirgends in der Welt solche Stützen und Gewalten. Denn unsre heutigen Kolonien siud keine Länder sür eigentliche Kolonisation, wie halb Rußland es für den Russen ist, und kommen daher hier nicht in Betracht. In früheren Jahrhunderten haben die Russen allerdings auch außerhalb der Grenzen ihres moskowitischen Staatswesens kvlonisirt; diese Kolonisation der Kosaken jedoch war meist unfreiwillig, sie ging ans der Not und Verfolgung in der Heimat hervor und ergoß sich in unbewohnte Gebiete oder über wilde, weiche Natur¬ völker. Vor Stämmen von härterem Charakter oder höherer Bildung sind die Russen stets zurückgewichen, auch wo der russische Staat erobernd voraus- geschritteu war. Wo ausnahmsweise eine russische Kolonie sich in ein fremdes Volkstum verirrte, wie in Preußen, in den Ostseeprovinzen, in Polen-Littauer, da zeigte sie Ausdauer in Sprache, Sitte, Religion, kurz in den Grund¬ elementen des Volkslebens, aber geringe Kulturentwicklung. Alle Versuche der Regierung, gegen Westen hin zu kolvnisiren, russische Bevölkerung in Polen, Littauer, den Ostseeprovinzen vorzuschieben, sind mißlungen. Weder der russische Edelmann, noch der Bauer geht freiwillig in diese Gebiete, nur der wandernde Händler durchstreift sie, und der ebenso wandernde, wechselnde Pope, Beamte oder Soldat. Daher ist eine wirkliche Assimilirung, ein Verrussen dieser Länder nicht gelungen und wird voraussichtlich auch nicht gelingen. Wohl aber kann hier die fremde Volks kraft zerstört, mit Aufopferung der vorhandenen Kultur allmählich die Kraft des Widerstandes gebrochen werden. Das aber ist das Unterscheidende zwischen der Handlungsweise des Knlturstcmtes und des rohen Gewaltstaates, daß jener die Kultur in jeder Form achtet, dieser aber nicht. Wir haben uns bisher gehütet, in Elsaß-Lothringen französische Kultur zu zerstören, wir fördern die Kultur bei uns durch Verdeutschung Posens; Ru߬ land zerstört unbedenklich die fremde Kultur, um das fremde Volkstum zu zerstören, ihm steht die staatliche Herrschaft, die nationale Gewalt über der Kultur, über dem Wohle von Unterthanen und Provinzen. Hier an der Grenze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/114>, abgerufen am 27.09.2024.