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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Konstantinopel noch mehr erschweren dürste, ist ohne alles Gewicht. Wer aus¬
reichend unbefangen ist, um in diesen Fragen sich einen freien Blick zu wahren,
wird es unbedingt gelten lassen müssen, daß die Pforte mit zwei Eventualitäten
zu rechnen und sich zwischen eine große und über ihr letztes Geschick end-
giltig entscheidende Alternative gestellt sieht. Entweder führt sie ihre seitherige
Politik weiter, indem sie ihre europäische Stellung durch Vertheidigung des
Restes der ihr in 'unserm Welttheil verbliebenen Besitzungen zu wahren sucht,
aber ohne auf einen Ersatz des schließlich unausbleiblichen Verlustes derselben
in andrer Richtung, im Besonderen in der auf Aegypten hin Bedacht zu nehmen;
oder sie macht diesen letzteren Gedanken zum eigentlichen Mittelpunkt ihres
Strebens. In letzterem Falle würde es sich mit der späteren Verschiebung der
Grenzen des Reiches zugleich um die Etablirung des letzteren auf einer von der
heutigen zum Theil verschiedenen Basis handeln, die aber im Grunde genommen
eine weit rationellere wäre, weil sie die Aussicht auf eine längere und gesicherte
Fortexistenz darböte.

Als ein erster Schritt, um eine solche Politik zu inauguriren, empfahl sich
dem Großwesir augenscheinlich die Rücknahme oder Annullirung des Fermans
vom Jahre 1873. Es wäre heute interessant zu wissen, ob dieser mit der
Absetzung des Khedive thatsächlich verbundene Akt, als er sich vorbereitete, auf
den Widerstand England's gestoßen ist oder dessen Genehmigung ohne weiteres
erhalten hat, und ob, wenn ersteres der Fall ist, es seine Opposition dawider
bereits vollkommen aufgegeben oder behufs derselben besondere Vorbehalte ge¬
macht hat. Daß Khereddin Pascha die Einwilligung des Sultans in die
Absetzung des Khedive, auch nachdem die deutsche Protestnote die Situation
in so entscheidender Weise umgewandelt hatte, dennoch erst nach manchen heißen
Kämpfen mit der unter dem Einfluß des Herrschers am Nil stehenden näheren
Umgebung des osmanischen Monarchen erlangen konnte, ist sicher. Noch Mitte
Juni standen die Dinge für den Chef des türkischen Kabinettes bedenklich; es
war damals nicht nur von der Berufung des Ex-Großwesirs Mahmud Redia
Pascha (damit derselbe KhereddilVs Nachfolger werde) die Rede -- sondern
jener hatte thatsächlich bereits die Ordre zur Abreise bekommen, und nur ein
rasch ausgefertigter Gegenbefehl verhinderte noch rechtzeitig sein hiesiges Er¬
scheinen. Man hat viel davon zu erzählen gewußt, daß die russische Diplo¬
matie bei dieser letzteren Intrigue die Hand mit im Spiele gehabt habe. Wie
dem auch sei, der endliche Sieg des türkischen Premiers ist ein sehr entschie¬
dener gewesen. Die zu seinen Gunsten sich neigende Lage accentuirte sich in
den Tagen des 16. und 17. Juni. Damals hoben jene fast unausgesetzten
Kabinetssitznngen an, die, rasch aufeinander folgend, meistens mit einer Be¬
rathung im Jildis-Kiosk unter dein persönlichen Vorsitz des Sultans schlössen.


Konstantinopel noch mehr erschweren dürste, ist ohne alles Gewicht. Wer aus¬
reichend unbefangen ist, um in diesen Fragen sich einen freien Blick zu wahren,
wird es unbedingt gelten lassen müssen, daß die Pforte mit zwei Eventualitäten
zu rechnen und sich zwischen eine große und über ihr letztes Geschick end-
giltig entscheidende Alternative gestellt sieht. Entweder führt sie ihre seitherige
Politik weiter, indem sie ihre europäische Stellung durch Vertheidigung des
Restes der ihr in 'unserm Welttheil verbliebenen Besitzungen zu wahren sucht,
aber ohne auf einen Ersatz des schließlich unausbleiblichen Verlustes derselben
in andrer Richtung, im Besonderen in der auf Aegypten hin Bedacht zu nehmen;
oder sie macht diesen letzteren Gedanken zum eigentlichen Mittelpunkt ihres
Strebens. In letzterem Falle würde es sich mit der späteren Verschiebung der
Grenzen des Reiches zugleich um die Etablirung des letzteren auf einer von der
heutigen zum Theil verschiedenen Basis handeln, die aber im Grunde genommen
eine weit rationellere wäre, weil sie die Aussicht auf eine längere und gesicherte
Fortexistenz darböte.

Als ein erster Schritt, um eine solche Politik zu inauguriren, empfahl sich
dem Großwesir augenscheinlich die Rücknahme oder Annullirung des Fermans
vom Jahre 1873. Es wäre heute interessant zu wissen, ob dieser mit der
Absetzung des Khedive thatsächlich verbundene Akt, als er sich vorbereitete, auf
den Widerstand England's gestoßen ist oder dessen Genehmigung ohne weiteres
erhalten hat, und ob, wenn ersteres der Fall ist, es seine Opposition dawider
bereits vollkommen aufgegeben oder behufs derselben besondere Vorbehalte ge¬
macht hat. Daß Khereddin Pascha die Einwilligung des Sultans in die
Absetzung des Khedive, auch nachdem die deutsche Protestnote die Situation
in so entscheidender Weise umgewandelt hatte, dennoch erst nach manchen heißen
Kämpfen mit der unter dem Einfluß des Herrschers am Nil stehenden näheren
Umgebung des osmanischen Monarchen erlangen konnte, ist sicher. Noch Mitte
Juni standen die Dinge für den Chef des türkischen Kabinettes bedenklich; es
war damals nicht nur von der Berufung des Ex-Großwesirs Mahmud Redia
Pascha (damit derselbe KhereddilVs Nachfolger werde) die Rede — sondern
jener hatte thatsächlich bereits die Ordre zur Abreise bekommen, und nur ein
rasch ausgefertigter Gegenbefehl verhinderte noch rechtzeitig sein hiesiges Er¬
scheinen. Man hat viel davon zu erzählen gewußt, daß die russische Diplo¬
matie bei dieser letzteren Intrigue die Hand mit im Spiele gehabt habe. Wie
dem auch sei, der endliche Sieg des türkischen Premiers ist ein sehr entschie¬
dener gewesen. Die zu seinen Gunsten sich neigende Lage accentuirte sich in
den Tagen des 16. und 17. Juni. Damals hoben jene fast unausgesetzten
Kabinetssitznngen an, die, rasch aufeinander folgend, meistens mit einer Be¬
rathung im Jildis-Kiosk unter dein persönlichen Vorsitz des Sultans schlössen.


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[0101] Konstantinopel noch mehr erschweren dürste, ist ohne alles Gewicht. Wer aus¬ reichend unbefangen ist, um in diesen Fragen sich einen freien Blick zu wahren, wird es unbedingt gelten lassen müssen, daß die Pforte mit zwei Eventualitäten zu rechnen und sich zwischen eine große und über ihr letztes Geschick end- giltig entscheidende Alternative gestellt sieht. Entweder führt sie ihre seitherige Politik weiter, indem sie ihre europäische Stellung durch Vertheidigung des Restes der ihr in 'unserm Welttheil verbliebenen Besitzungen zu wahren sucht, aber ohne auf einen Ersatz des schließlich unausbleiblichen Verlustes derselben in andrer Richtung, im Besonderen in der auf Aegypten hin Bedacht zu nehmen; oder sie macht diesen letzteren Gedanken zum eigentlichen Mittelpunkt ihres Strebens. In letzterem Falle würde es sich mit der späteren Verschiebung der Grenzen des Reiches zugleich um die Etablirung des letzteren auf einer von der heutigen zum Theil verschiedenen Basis handeln, die aber im Grunde genommen eine weit rationellere wäre, weil sie die Aussicht auf eine längere und gesicherte Fortexistenz darböte. Als ein erster Schritt, um eine solche Politik zu inauguriren, empfahl sich dem Großwesir augenscheinlich die Rücknahme oder Annullirung des Fermans vom Jahre 1873. Es wäre heute interessant zu wissen, ob dieser mit der Absetzung des Khedive thatsächlich verbundene Akt, als er sich vorbereitete, auf den Widerstand England's gestoßen ist oder dessen Genehmigung ohne weiteres erhalten hat, und ob, wenn ersteres der Fall ist, es seine Opposition dawider bereits vollkommen aufgegeben oder behufs derselben besondere Vorbehalte ge¬ macht hat. Daß Khereddin Pascha die Einwilligung des Sultans in die Absetzung des Khedive, auch nachdem die deutsche Protestnote die Situation in so entscheidender Weise umgewandelt hatte, dennoch erst nach manchen heißen Kämpfen mit der unter dem Einfluß des Herrschers am Nil stehenden näheren Umgebung des osmanischen Monarchen erlangen konnte, ist sicher. Noch Mitte Juni standen die Dinge für den Chef des türkischen Kabinettes bedenklich; es war damals nicht nur von der Berufung des Ex-Großwesirs Mahmud Redia Pascha (damit derselbe KhereddilVs Nachfolger werde) die Rede — sondern jener hatte thatsächlich bereits die Ordre zur Abreise bekommen, und nur ein rasch ausgefertigter Gegenbefehl verhinderte noch rechtzeitig sein hiesiges Er¬ scheinen. Man hat viel davon zu erzählen gewußt, daß die russische Diplo¬ matie bei dieser letzteren Intrigue die Hand mit im Spiele gehabt habe. Wie dem auch sei, der endliche Sieg des türkischen Premiers ist ein sehr entschie¬ dener gewesen. Die zu seinen Gunsten sich neigende Lage accentuirte sich in den Tagen des 16. und 17. Juni. Damals hoben jene fast unausgesetzten Kabinetssitznngen an, die, rasch aufeinander folgend, meistens mit einer Be¬ rathung im Jildis-Kiosk unter dein persönlichen Vorsitz des Sultans schlössen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/101>, abgerufen am 30.11.2024.