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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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lichkeit und Leichtfertigkeit, aus Geschäftsrücksichten gefällig , thun ihm seinen
Willen.

Immer und immer wieder wird bei Fragen, wo Rußland auf die Bühne
tritt, von Schwärmern für Polen und Türken, von Ultramontanen, unbelehrbar
weisen Demokraten und ähnlichen Geistern die Fabel vom Testament Peter's
des Großen aufgewärmt, obwohl die Köche wissen könnten und sicher wissen,
daß sie eine Erfindung des Jahres 1812 ist. Dem Kaiser Napoleon lag da¬
mals daran, das Gerücht zu verbreiten, Rußland erstrebe die allmähliche Er¬
oberung und Beherrschung der gauzen Welt, und dieser Gedanke sei bei ihm
Tradition. Zu diesem Zwecke ließ er von dem Gelehrten Lesur, der im Mini¬
sterium des Auswärtigen zu Paris angestellt war, ein dickes Buch ausarbeiten,
welches mit der Miene- eines ernsten historischen Werkes eine Reihenfolge von
Lügen ärgster Art vortrug. Es war, anders ausgedrückt, ein schwerleibiges
Pamphlet mit politischen Zwecken des Tages, welches neben einer Andeutung,
daß es in den Petersburger Archiven geheime Memoiren Peter's des Großen
gebe, einen Auszug aus dem angeblichen letzten Willen dieses Kaisers mittheilte,
welcher die Umrisse und Hauptgedanken jener Eroberungspolitik enthielt. Später
zogen Andere, immer mit bestimmter Tendenz, die inzwischen in Vergessenheit
gerathene, nicht sehr geschickt verfertigte, ja in einzelnen Stellen geradezu ab¬
geschmackte Erfindung des Soldschreibers Napoleon's wieder hervor und suchten
sie durch Angabe der Zeit, in welcher das Testament entstanden sein sollte,
glaubwürdiger zu machen. Es sollte nach der Schlacht bei Pultawa begonnen
und 1724 weiter ausgeführt worden sein. Der Kanzler Ostermann sollte ihm
seine endgiltige Gestalt gegeben haben. Der Chevalier d'Eon, der am Hofe
Elisabeth's als französischer GesandtschaftsSekretär fungirt hatte, war, wie weiter
behauptet wurde, in der glücklichen Lage gewesen, es für Ludwig den Fünf¬
zehnten abschreiben zu dürfen u. f. w. -- lauter Gefasel im Romanstil, wovon
nichts auch nur den Schein der Wahrheit für sich hat.

, In welcher Verzerrung durch Parteisucht die Phhsiognomieen der Persön¬
lichkeiten, welche bei der ersten französischen Revolution die Hauptrolle spielten,
der Nachwelt vorgeführt worden sind, wie namentlich demokratische Schönfär¬
berei diese Robespierre, Danton u. s. w. mit edlem Sinn und reinem Eifer
für ihr Ideal ausgestattet hat, ist bekannt. Ebenso die Kette von unwahren
und schiefen Darstellungen, die Thiers in feinen Geschichtswerken entwickelt,
und die wir als die napoleonische Legende zu bezeichnen gewohnt sind, an der
sich aber noch hente Tausende von Franzosen patriotisch erbauen und begeistern.
In welchem Brillantfeuer in Geschichtswerken aus den dreißiger Jahren
Charaktere wie "Lafayette mit den weißen Haaren" und der Grieche Ipsilanti
strahlten, werden sich ältere Leser d. Bl. erinnern; heute wissen wir, daß jener


lichkeit und Leichtfertigkeit, aus Geschäftsrücksichten gefällig , thun ihm seinen
Willen.

Immer und immer wieder wird bei Fragen, wo Rußland auf die Bühne
tritt, von Schwärmern für Polen und Türken, von Ultramontanen, unbelehrbar
weisen Demokraten und ähnlichen Geistern die Fabel vom Testament Peter's
des Großen aufgewärmt, obwohl die Köche wissen könnten und sicher wissen,
daß sie eine Erfindung des Jahres 1812 ist. Dem Kaiser Napoleon lag da¬
mals daran, das Gerücht zu verbreiten, Rußland erstrebe die allmähliche Er¬
oberung und Beherrschung der gauzen Welt, und dieser Gedanke sei bei ihm
Tradition. Zu diesem Zwecke ließ er von dem Gelehrten Lesur, der im Mini¬
sterium des Auswärtigen zu Paris angestellt war, ein dickes Buch ausarbeiten,
welches mit der Miene- eines ernsten historischen Werkes eine Reihenfolge von
Lügen ärgster Art vortrug. Es war, anders ausgedrückt, ein schwerleibiges
Pamphlet mit politischen Zwecken des Tages, welches neben einer Andeutung,
daß es in den Petersburger Archiven geheime Memoiren Peter's des Großen
gebe, einen Auszug aus dem angeblichen letzten Willen dieses Kaisers mittheilte,
welcher die Umrisse und Hauptgedanken jener Eroberungspolitik enthielt. Später
zogen Andere, immer mit bestimmter Tendenz, die inzwischen in Vergessenheit
gerathene, nicht sehr geschickt verfertigte, ja in einzelnen Stellen geradezu ab¬
geschmackte Erfindung des Soldschreibers Napoleon's wieder hervor und suchten
sie durch Angabe der Zeit, in welcher das Testament entstanden sein sollte,
glaubwürdiger zu machen. Es sollte nach der Schlacht bei Pultawa begonnen
und 1724 weiter ausgeführt worden sein. Der Kanzler Ostermann sollte ihm
seine endgiltige Gestalt gegeben haben. Der Chevalier d'Eon, der am Hofe
Elisabeth's als französischer GesandtschaftsSekretär fungirt hatte, war, wie weiter
behauptet wurde, in der glücklichen Lage gewesen, es für Ludwig den Fünf¬
zehnten abschreiben zu dürfen u. f. w. — lauter Gefasel im Romanstil, wovon
nichts auch nur den Schein der Wahrheit für sich hat.

, In welcher Verzerrung durch Parteisucht die Phhsiognomieen der Persön¬
lichkeiten, welche bei der ersten französischen Revolution die Hauptrolle spielten,
der Nachwelt vorgeführt worden sind, wie namentlich demokratische Schönfär¬
berei diese Robespierre, Danton u. s. w. mit edlem Sinn und reinem Eifer
für ihr Ideal ausgestattet hat, ist bekannt. Ebenso die Kette von unwahren
und schiefen Darstellungen, die Thiers in feinen Geschichtswerken entwickelt,
und die wir als die napoleonische Legende zu bezeichnen gewohnt sind, an der
sich aber noch hente Tausende von Franzosen patriotisch erbauen und begeistern.
In welchem Brillantfeuer in Geschichtswerken aus den dreißiger Jahren
Charaktere wie „Lafayette mit den weißen Haaren" und der Grieche Ipsilanti
strahlten, werden sich ältere Leser d. Bl. erinnern; heute wissen wir, daß jener


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[0082] lichkeit und Leichtfertigkeit, aus Geschäftsrücksichten gefällig , thun ihm seinen Willen. Immer und immer wieder wird bei Fragen, wo Rußland auf die Bühne tritt, von Schwärmern für Polen und Türken, von Ultramontanen, unbelehrbar weisen Demokraten und ähnlichen Geistern die Fabel vom Testament Peter's des Großen aufgewärmt, obwohl die Köche wissen könnten und sicher wissen, daß sie eine Erfindung des Jahres 1812 ist. Dem Kaiser Napoleon lag da¬ mals daran, das Gerücht zu verbreiten, Rußland erstrebe die allmähliche Er¬ oberung und Beherrschung der gauzen Welt, und dieser Gedanke sei bei ihm Tradition. Zu diesem Zwecke ließ er von dem Gelehrten Lesur, der im Mini¬ sterium des Auswärtigen zu Paris angestellt war, ein dickes Buch ausarbeiten, welches mit der Miene- eines ernsten historischen Werkes eine Reihenfolge von Lügen ärgster Art vortrug. Es war, anders ausgedrückt, ein schwerleibiges Pamphlet mit politischen Zwecken des Tages, welches neben einer Andeutung, daß es in den Petersburger Archiven geheime Memoiren Peter's des Großen gebe, einen Auszug aus dem angeblichen letzten Willen dieses Kaisers mittheilte, welcher die Umrisse und Hauptgedanken jener Eroberungspolitik enthielt. Später zogen Andere, immer mit bestimmter Tendenz, die inzwischen in Vergessenheit gerathene, nicht sehr geschickt verfertigte, ja in einzelnen Stellen geradezu ab¬ geschmackte Erfindung des Soldschreibers Napoleon's wieder hervor und suchten sie durch Angabe der Zeit, in welcher das Testament entstanden sein sollte, glaubwürdiger zu machen. Es sollte nach der Schlacht bei Pultawa begonnen und 1724 weiter ausgeführt worden sein. Der Kanzler Ostermann sollte ihm seine endgiltige Gestalt gegeben haben. Der Chevalier d'Eon, der am Hofe Elisabeth's als französischer GesandtschaftsSekretär fungirt hatte, war, wie weiter behauptet wurde, in der glücklichen Lage gewesen, es für Ludwig den Fünf¬ zehnten abschreiben zu dürfen u. f. w. — lauter Gefasel im Romanstil, wovon nichts auch nur den Schein der Wahrheit für sich hat. , In welcher Verzerrung durch Parteisucht die Phhsiognomieen der Persön¬ lichkeiten, welche bei der ersten französischen Revolution die Hauptrolle spielten, der Nachwelt vorgeführt worden sind, wie namentlich demokratische Schönfär¬ berei diese Robespierre, Danton u. s. w. mit edlem Sinn und reinem Eifer für ihr Ideal ausgestattet hat, ist bekannt. Ebenso die Kette von unwahren und schiefen Darstellungen, die Thiers in feinen Geschichtswerken entwickelt, und die wir als die napoleonische Legende zu bezeichnen gewohnt sind, an der sich aber noch hente Tausende von Franzosen patriotisch erbauen und begeistern. In welchem Brillantfeuer in Geschichtswerken aus den dreißiger Jahren Charaktere wie „Lafayette mit den weißen Haaren" und der Grieche Ipsilanti strahlten, werden sich ältere Leser d. Bl. erinnern; heute wissen wir, daß jener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/82>, abgerufen am 27.09.2024.