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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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aber sehr unwahrscheinlich, und die nüchterne Geschichtsforschung weiß nichts
von ihm.

Als bloße Erdichtung einer späten Zeit bezeichnet der Historiker Palacky
die Anekdote, nach welcher Ludwig der Baier nach der Schlacht bei Mühldorf
mit seinem Gefolge Mangel an Lebensmitteln gelitten, bis endlich jemand einen
Korb Eier herbeigebracht, die der Kaiser dann mit den Worten vertheilt habe:
"Jedem Mann ein El, dem braven Schweppermcmn aber zwei." Nichts ist
hiervon wahr, als daß Seyfried Schweppermcmn, Feldhauptmann der Stadt
Nürnberg, bei jenem Siege Ludwig's mitgewirkt hat, und daß jener angebliche
Ausspruch des Kaisers sich einst aus Schweppermanu's Grabsteine fand.

Sehr zweifelhaft ist es, ob es je den Arnold Strude oder Struthan von
Winkelried gegeben hat, der in der Schlacht bei Sempach sich geopfert haben
soll, um "der Freiheit eine Gasse" zu machen. Er soll aus dem Kanton
Unterwalden gewesen sein, und ein schönes Denkmal bei Stans verherrlicht seine
That. Aber die sempacher Schlacht fand im Jahre 1386 statt, und die Ueber¬
lieferung von Winkelried's Aufopferung tritt zuerst um die Mitte des sech¬
zehnten Jahrhunderts auf.

Ganz und gar ungeschichtlich ist, wie schon längst unter Anführung guter
Gründe behauptet und neuerdings von Rochholz aufs allergründlichste dcirge-
thcm worden ist, die Erzählung von Tell's Apfelschuß und die Ermordung des
Vogts Geßler durch Tell. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der
schweizerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger von ihnen die Rolle,
welche die Tell-Sage ihnen zuweist, oder auch nur eine ähnliche gespielt haben
kann, und keiner von einem Tell oder einem anderen Schützen den Tod er¬
litten hat. Dagegen begegnen wir bei den verschiedensten Völkern schon in
Zeiten lange vor der, in welche die schweizerischen Chronisten die Thaten
ihres Tell verlegen, ganz ähnlichen Sagen, die auf eine uralte Natur¬
mythe hindeuten, welche die alljährlich wiederkehrende Erlegung des Winter¬
tyrannen durch die Pfeile des Frühlingsgottes, die Sonnenstrahlen, zum
Inhalte hat. Solche Seitenstücke zur Tell-Sage finden wir nicht blos unter
nord- und südgermanischen, sondern auch unter keltischen, finnischen und orien¬
talischen Völkern, am Rhein, in Schleswig-Holstein, in Norwegen, in England,
in Wales, im alten Griechenland und selbst in Persien. Das interessanteste
Beispiel darunter ist die Erzählung vom dänischen Schützen Toko, der wir
bei Saxo Grammaticus begegnen, welcher im zwölften Jahrhundert schrieb
und Toko seinen Apfelschuß vor König Harald Blauzahn (936--986) thun
und ihn später diesen Tyrannen durch einen Pfeil tödtlich verwunden läßt.

Reich an Fabeln, die bis auf die neueste Zeit in Geschichtsbüchern immer
und immer wieder naiv nacherzählt worden sind, ist namentlich anch das Refor-


aber sehr unwahrscheinlich, und die nüchterne Geschichtsforschung weiß nichts
von ihm.

Als bloße Erdichtung einer späten Zeit bezeichnet der Historiker Palacky
die Anekdote, nach welcher Ludwig der Baier nach der Schlacht bei Mühldorf
mit seinem Gefolge Mangel an Lebensmitteln gelitten, bis endlich jemand einen
Korb Eier herbeigebracht, die der Kaiser dann mit den Worten vertheilt habe:
„Jedem Mann ein El, dem braven Schweppermcmn aber zwei." Nichts ist
hiervon wahr, als daß Seyfried Schweppermcmn, Feldhauptmann der Stadt
Nürnberg, bei jenem Siege Ludwig's mitgewirkt hat, und daß jener angebliche
Ausspruch des Kaisers sich einst aus Schweppermanu's Grabsteine fand.

Sehr zweifelhaft ist es, ob es je den Arnold Strude oder Struthan von
Winkelried gegeben hat, der in der Schlacht bei Sempach sich geopfert haben
soll, um „der Freiheit eine Gasse" zu machen. Er soll aus dem Kanton
Unterwalden gewesen sein, und ein schönes Denkmal bei Stans verherrlicht seine
That. Aber die sempacher Schlacht fand im Jahre 1386 statt, und die Ueber¬
lieferung von Winkelried's Aufopferung tritt zuerst um die Mitte des sech¬
zehnten Jahrhunderts auf.

Ganz und gar ungeschichtlich ist, wie schon längst unter Anführung guter
Gründe behauptet und neuerdings von Rochholz aufs allergründlichste dcirge-
thcm worden ist, die Erzählung von Tell's Apfelschuß und die Ermordung des
Vogts Geßler durch Tell. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der
schweizerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger von ihnen die Rolle,
welche die Tell-Sage ihnen zuweist, oder auch nur eine ähnliche gespielt haben
kann, und keiner von einem Tell oder einem anderen Schützen den Tod er¬
litten hat. Dagegen begegnen wir bei den verschiedensten Völkern schon in
Zeiten lange vor der, in welche die schweizerischen Chronisten die Thaten
ihres Tell verlegen, ganz ähnlichen Sagen, die auf eine uralte Natur¬
mythe hindeuten, welche die alljährlich wiederkehrende Erlegung des Winter¬
tyrannen durch die Pfeile des Frühlingsgottes, die Sonnenstrahlen, zum
Inhalte hat. Solche Seitenstücke zur Tell-Sage finden wir nicht blos unter
nord- und südgermanischen, sondern auch unter keltischen, finnischen und orien¬
talischen Völkern, am Rhein, in Schleswig-Holstein, in Norwegen, in England,
in Wales, im alten Griechenland und selbst in Persien. Das interessanteste
Beispiel darunter ist die Erzählung vom dänischen Schützen Toko, der wir
bei Saxo Grammaticus begegnen, welcher im zwölften Jahrhundert schrieb
und Toko seinen Apfelschuß vor König Harald Blauzahn (936—986) thun
und ihn später diesen Tyrannen durch einen Pfeil tödtlich verwunden läßt.

Reich an Fabeln, die bis auf die neueste Zeit in Geschichtsbüchern immer
und immer wieder naiv nacherzählt worden sind, ist namentlich anch das Refor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/80>, abgerufen am 27.09.2024.