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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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wird. Man machte für dieselbe geltend, daß die Entwickelung Frankreich's
einen derartigen Gang genommen habe, daß die Haltung der Pariser auf sie
stets den größten Einfluß haben müsse, wenn das Land nicht in sehr weit¬
gehender Weise dezentralisirt würde. Die Befürchtung vor einer Terrorisirung
der Volksvertreter durch demagogisch aufgewühlte Volksmassen dürfe darüber
nicht hinwegsehen lassen. Wenn die Regierung glaube, sich dafür verbürgen
zu können, daß in Paris jeder Versuch, die Ordnung zu stören, alsbald ver¬
eitelt werden würde, so müsse die Rückkehr stattfinden. Das ist kühn gesprochen,
aber wir meinen, die Minister können und werden sich mit ihrer Zuversicht
täuschen, und man Hütte lieber die Geschichte hören sollen. Nach dieser zu urtheilen,
ist das Tagen des französischen Parlaments in Paris ein sehr gewagtes Experi¬
ment. In vielfacher Wiederholung ist die Beschlußfreiheit jener Versammlung
durch die Abhängigkeit derselben von der in der Hauptstadt gerade herrschenden
Stimmung gefährdet und illusorisch gemacht worden. Bei weitem die meisten
der radikalen Beschlüsse, die von der ersten Nationalversammlung seit ihrer am
19. November 1790 erfolgten Verlegung von Versailles nach Paris bis zur
Abschaffung des Königthums am 10. August 1792 gefaßt wurden, sind ihr
von den Jakobinern mit Hilfe des Pariser Pöbels aufgedrängt worden. Bei
dem Prozeß Ludwig's XVI. spielte -- wir folgen dabei einer Uebersicht, die
der "Hamburger Korrespondent" vor einigen Wochen gab, und verweisen im
übrigen auf Sybel und Taine -- die Haltung der Tribünen und ihrer auf
der Gasse vor dem Berathungssaale stehenden Genossen die Hauptrolle. Zur
Ausstoßung der Girondisten ergriff nicht der Konvent die Initiative, fondern
eine Deputation der Pariser Sektionen, und die Maßregel selbst wurde der
Versammlung durch die Drohungen einer unter Henriot's Führung in den
Saal eingedrungenen Pöbelrotte aufgenöthigt. Auf demselben Wege und mit
gleichen Mitteln kam am 5. September 1793 der berüchtigte Beschluß zu Stande,
"den Schrecken ans die Tagesordnung zu setzen". Zu der am 7. November
des obengenannten Jahres dekretirten Abschaffung von Kirche und Christenthum
gab das Erscheinen einer von Pache, Momoro und Chaumette geführten Ab¬
ordnung der Pariser Behörden den Anstoß. Der am 17. Juli 1794 erfolgte
Sturz Robespierre's wurde nur dadurch möglich, daß der Konvent dem auf
dem Stadthause gegen feine Sicherheit organisirten Angriffe zuvorkam. Auf
Grund dieser Erfahrungen kam schon in die Verfassung von 1795 die Bestim¬
mung, daß auf Beschluß des "Rathes der Alten" der Sitz der gesetzgebenden
Körperschaften anderswohin verlegt werden könne, und 1799 wurde hiervon
Gebrauch gemacht, die Kammern zogen nach Se. Cloud, und fortan war drei
Jahrzehnte hindurch von einer Pöbelherrschaft in Frankreich nicht mehr die Rede.

Und wie im achtzehnten Jahrhundert, so war es auch im neunzehnten.


wird. Man machte für dieselbe geltend, daß die Entwickelung Frankreich's
einen derartigen Gang genommen habe, daß die Haltung der Pariser auf sie
stets den größten Einfluß haben müsse, wenn das Land nicht in sehr weit¬
gehender Weise dezentralisirt würde. Die Befürchtung vor einer Terrorisirung
der Volksvertreter durch demagogisch aufgewühlte Volksmassen dürfe darüber
nicht hinwegsehen lassen. Wenn die Regierung glaube, sich dafür verbürgen
zu können, daß in Paris jeder Versuch, die Ordnung zu stören, alsbald ver¬
eitelt werden würde, so müsse die Rückkehr stattfinden. Das ist kühn gesprochen,
aber wir meinen, die Minister können und werden sich mit ihrer Zuversicht
täuschen, und man Hütte lieber die Geschichte hören sollen. Nach dieser zu urtheilen,
ist das Tagen des französischen Parlaments in Paris ein sehr gewagtes Experi¬
ment. In vielfacher Wiederholung ist die Beschlußfreiheit jener Versammlung
durch die Abhängigkeit derselben von der in der Hauptstadt gerade herrschenden
Stimmung gefährdet und illusorisch gemacht worden. Bei weitem die meisten
der radikalen Beschlüsse, die von der ersten Nationalversammlung seit ihrer am
19. November 1790 erfolgten Verlegung von Versailles nach Paris bis zur
Abschaffung des Königthums am 10. August 1792 gefaßt wurden, sind ihr
von den Jakobinern mit Hilfe des Pariser Pöbels aufgedrängt worden. Bei
dem Prozeß Ludwig's XVI. spielte — wir folgen dabei einer Uebersicht, die
der „Hamburger Korrespondent" vor einigen Wochen gab, und verweisen im
übrigen auf Sybel und Taine — die Haltung der Tribünen und ihrer auf
der Gasse vor dem Berathungssaale stehenden Genossen die Hauptrolle. Zur
Ausstoßung der Girondisten ergriff nicht der Konvent die Initiative, fondern
eine Deputation der Pariser Sektionen, und die Maßregel selbst wurde der
Versammlung durch die Drohungen einer unter Henriot's Führung in den
Saal eingedrungenen Pöbelrotte aufgenöthigt. Auf demselben Wege und mit
gleichen Mitteln kam am 5. September 1793 der berüchtigte Beschluß zu Stande,
„den Schrecken ans die Tagesordnung zu setzen". Zu der am 7. November
des obengenannten Jahres dekretirten Abschaffung von Kirche und Christenthum
gab das Erscheinen einer von Pache, Momoro und Chaumette geführten Ab¬
ordnung der Pariser Behörden den Anstoß. Der am 17. Juli 1794 erfolgte
Sturz Robespierre's wurde nur dadurch möglich, daß der Konvent dem auf
dem Stadthause gegen feine Sicherheit organisirten Angriffe zuvorkam. Auf
Grund dieser Erfahrungen kam schon in die Verfassung von 1795 die Bestim¬
mung, daß auf Beschluß des „Rathes der Alten" der Sitz der gesetzgebenden
Körperschaften anderswohin verlegt werden könne, und 1799 wurde hiervon
Gebrauch gemacht, die Kammern zogen nach Se. Cloud, und fortan war drei
Jahrzehnte hindurch von einer Pöbelherrschaft in Frankreich nicht mehr die Rede.

Und wie im achtzehnten Jahrhundert, so war es auch im neunzehnten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/492>, abgerufen am 27.09.2024.