Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

fortwährend der Aufnahme geeigneter Stoffe von Außen bedarf, um sich zu
erhalten, damit sie nicht der Zersetzung anheimfalle und sterbe."

Im Urzustande bedient sich der Mensch seiner bloßen Hände, zuweilen
aber auch seiner Füße und Zähne, um sich die Dinge der Außenwelt anzu¬
eignen zur Befriedigung seiner Lust und zur Abwehr seiner Unlust. Sicherlich
war der Mensch im Urzustande viel stärker als jetzt. Das Beispiel unserer
Athleten, die mit Zentnergewichten spielen und am Trapeze hängend einen er¬
wachsenen Menschen mit den Zähnen halten, zeigt uns, welch' hohen Grad von
Muskelkraft auch der moderne Mensch erlangen kann, wenn er seine ganze
Arbeitsthätigkeit auf die Ausbildung und Uebung seiner Muskeln verwendet,
wie es im Urzustande geschah. Das Bestreben nnn, seine Körperkraft zu
schonen und die Wirkungen seiner Hand zu steigern, trieb den Menschen schon
früh zur Aneignung todter oder anorganischer Werkzeuge. Die ersten Werk¬
zeuge in den Anfängen der Kultur find rohe Abbilder der menschlichen Hand
und des Armes, sowie der Fingernagel und der Zähne. Auf höheren Kultur¬
stufen gelangt der Mensch zu dem Bedürfniß, auch andere Organe seines
Körpers durch künstliche Werkzeuge zu ergänzen. Er erfindet optische Apparate
zur Ergänzung seines Sehorganes, akustische zur Ergänzung seines Gehör¬
organes. So kunstvoll aber diese Apparate auch gebaut sind, sie wiederholen
doch nur -- anfangs in unbewußter Findung, dann in bewußter Erfin¬
dung oder Nachbildung -- die Form des menschlichen Organes, dem sie dienen
und das sie ergänzen sollen.

Von den übrigen Sinnesorganen ist das Tastorgan nur unvollkommen
ergänzt durch die Sonde des Chirurgen. Die Organe.des Geschmackes und
des Geruches entbehren zur Zeit noch der Ergänzung durch technische Apparate.
Dagegen ist das menschliche Sprachorgan in den Blas-Instrumenten nach¬
gebildet. Die bezeichneten Organe des menschlichen Körpers sind in Form
von Werkzeugen in die Außenwelt projizirt. Die Organprojektion oder die
technische Ergänzung menschlicher Organe -- das ist das Prinzip der Technik.
Die Organprojektion ist demnach der Grundbegriff der Philosophie der Technik.
Diese aber bildet die Grundlage eines höchst geistvollen Werkes von Ernst
Kapp, mit dessen Inhalt wir uns auf den nachfolgenden Seiten näher beschäf¬
tigen wollen.*)

Kapp bezeichnet sein Buch bescheiden als "Grundlinien einer Philosophie
der Technik" und kündigt es in seinem Vorworte selbst als den Versuch einer
Grundlegung an. Dieser Versuch aber ist entschieden von epochemachender



*) Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte
der Kultur aus neuen Gesichtspunkten^ Bon Ernst Kapp. Braunschweig, Westermann, 1S77.

fortwährend der Aufnahme geeigneter Stoffe von Außen bedarf, um sich zu
erhalten, damit sie nicht der Zersetzung anheimfalle und sterbe."

Im Urzustande bedient sich der Mensch seiner bloßen Hände, zuweilen
aber auch seiner Füße und Zähne, um sich die Dinge der Außenwelt anzu¬
eignen zur Befriedigung seiner Lust und zur Abwehr seiner Unlust. Sicherlich
war der Mensch im Urzustande viel stärker als jetzt. Das Beispiel unserer
Athleten, die mit Zentnergewichten spielen und am Trapeze hängend einen er¬
wachsenen Menschen mit den Zähnen halten, zeigt uns, welch' hohen Grad von
Muskelkraft auch der moderne Mensch erlangen kann, wenn er seine ganze
Arbeitsthätigkeit auf die Ausbildung und Uebung seiner Muskeln verwendet,
wie es im Urzustande geschah. Das Bestreben nnn, seine Körperkraft zu
schonen und die Wirkungen seiner Hand zu steigern, trieb den Menschen schon
früh zur Aneignung todter oder anorganischer Werkzeuge. Die ersten Werk¬
zeuge in den Anfängen der Kultur find rohe Abbilder der menschlichen Hand
und des Armes, sowie der Fingernagel und der Zähne. Auf höheren Kultur¬
stufen gelangt der Mensch zu dem Bedürfniß, auch andere Organe seines
Körpers durch künstliche Werkzeuge zu ergänzen. Er erfindet optische Apparate
zur Ergänzung seines Sehorganes, akustische zur Ergänzung seines Gehör¬
organes. So kunstvoll aber diese Apparate auch gebaut sind, sie wiederholen
doch nur — anfangs in unbewußter Findung, dann in bewußter Erfin¬
dung oder Nachbildung — die Form des menschlichen Organes, dem sie dienen
und das sie ergänzen sollen.

Von den übrigen Sinnesorganen ist das Tastorgan nur unvollkommen
ergänzt durch die Sonde des Chirurgen. Die Organe.des Geschmackes und
des Geruches entbehren zur Zeit noch der Ergänzung durch technische Apparate.
Dagegen ist das menschliche Sprachorgan in den Blas-Instrumenten nach¬
gebildet. Die bezeichneten Organe des menschlichen Körpers sind in Form
von Werkzeugen in die Außenwelt projizirt. Die Organprojektion oder die
technische Ergänzung menschlicher Organe — das ist das Prinzip der Technik.
Die Organprojektion ist demnach der Grundbegriff der Philosophie der Technik.
Diese aber bildet die Grundlage eines höchst geistvollen Werkes von Ernst
Kapp, mit dessen Inhalt wir uns auf den nachfolgenden Seiten näher beschäf¬
tigen wollen.*)

Kapp bezeichnet sein Buch bescheiden als „Grundlinien einer Philosophie
der Technik" und kündigt es in seinem Vorworte selbst als den Versuch einer
Grundlegung an. Dieser Versuch aber ist entschieden von epochemachender



*) Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte
der Kultur aus neuen Gesichtspunkten^ Bon Ernst Kapp. Braunschweig, Westermann, 1S77.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0048" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142003"/>
          <p xml:id="ID_136" prev="#ID_135"> fortwährend der Aufnahme geeigneter Stoffe von Außen bedarf, um sich zu<lb/>
erhalten, damit sie nicht der Zersetzung anheimfalle und sterbe."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_137"> Im Urzustande bedient sich der Mensch seiner bloßen Hände, zuweilen<lb/>
aber auch seiner Füße und Zähne, um sich die Dinge der Außenwelt anzu¬<lb/>
eignen zur Befriedigung seiner Lust und zur Abwehr seiner Unlust. Sicherlich<lb/>
war der Mensch im Urzustande viel stärker als jetzt. Das Beispiel unserer<lb/>
Athleten, die mit Zentnergewichten spielen und am Trapeze hängend einen er¬<lb/>
wachsenen Menschen mit den Zähnen halten, zeigt uns, welch' hohen Grad von<lb/>
Muskelkraft auch der moderne Mensch erlangen kann, wenn er seine ganze<lb/>
Arbeitsthätigkeit auf die Ausbildung und Uebung seiner Muskeln verwendet,<lb/>
wie es im Urzustande geschah. Das Bestreben nnn, seine Körperkraft zu<lb/>
schonen und die Wirkungen seiner Hand zu steigern, trieb den Menschen schon<lb/>
früh zur Aneignung todter oder anorganischer Werkzeuge. Die ersten Werk¬<lb/>
zeuge in den Anfängen der Kultur find rohe Abbilder der menschlichen Hand<lb/>
und des Armes, sowie der Fingernagel und der Zähne. Auf höheren Kultur¬<lb/>
stufen gelangt der Mensch zu dem Bedürfniß, auch andere Organe seines<lb/>
Körpers durch künstliche Werkzeuge zu ergänzen. Er erfindet optische Apparate<lb/>
zur Ergänzung seines Sehorganes, akustische zur Ergänzung seines Gehör¬<lb/>
organes. So kunstvoll aber diese Apparate auch gebaut sind, sie wiederholen<lb/>
doch nur &#x2014; anfangs in unbewußter Findung, dann in bewußter Erfin¬<lb/>
dung oder Nachbildung &#x2014; die Form des menschlichen Organes, dem sie dienen<lb/>
und das sie ergänzen sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_138"> Von den übrigen Sinnesorganen ist das Tastorgan nur unvollkommen<lb/>
ergänzt durch die Sonde des Chirurgen. Die Organe.des Geschmackes und<lb/>
des Geruches entbehren zur Zeit noch der Ergänzung durch technische Apparate.<lb/>
Dagegen ist das menschliche Sprachorgan in den Blas-Instrumenten nach¬<lb/>
gebildet. Die bezeichneten Organe des menschlichen Körpers sind in Form<lb/>
von Werkzeugen in die Außenwelt projizirt. Die Organprojektion oder die<lb/>
technische Ergänzung menschlicher Organe &#x2014; das ist das Prinzip der Technik.<lb/>
Die Organprojektion ist demnach der Grundbegriff der Philosophie der Technik.<lb/>
Diese aber bildet die Grundlage eines höchst geistvollen Werkes von Ernst<lb/>
Kapp, mit dessen Inhalt wir uns auf den nachfolgenden Seiten näher beschäf¬<lb/>
tigen wollen.*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_139" next="#ID_140"> Kapp bezeichnet sein Buch bescheiden als &#x201E;Grundlinien einer Philosophie<lb/>
der Technik" und kündigt es in seinem Vorworte selbst als den Versuch einer<lb/>
Grundlegung an.  Dieser Versuch aber ist entschieden von epochemachender</p><lb/>
          <note xml:id="FID_6" place="foot"> *) Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte<lb/>
der Kultur aus neuen Gesichtspunkten^ Bon Ernst Kapp. Braunschweig, Westermann, 1S77.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0048] fortwährend der Aufnahme geeigneter Stoffe von Außen bedarf, um sich zu erhalten, damit sie nicht der Zersetzung anheimfalle und sterbe." Im Urzustande bedient sich der Mensch seiner bloßen Hände, zuweilen aber auch seiner Füße und Zähne, um sich die Dinge der Außenwelt anzu¬ eignen zur Befriedigung seiner Lust und zur Abwehr seiner Unlust. Sicherlich war der Mensch im Urzustande viel stärker als jetzt. Das Beispiel unserer Athleten, die mit Zentnergewichten spielen und am Trapeze hängend einen er¬ wachsenen Menschen mit den Zähnen halten, zeigt uns, welch' hohen Grad von Muskelkraft auch der moderne Mensch erlangen kann, wenn er seine ganze Arbeitsthätigkeit auf die Ausbildung und Uebung seiner Muskeln verwendet, wie es im Urzustande geschah. Das Bestreben nnn, seine Körperkraft zu schonen und die Wirkungen seiner Hand zu steigern, trieb den Menschen schon früh zur Aneignung todter oder anorganischer Werkzeuge. Die ersten Werk¬ zeuge in den Anfängen der Kultur find rohe Abbilder der menschlichen Hand und des Armes, sowie der Fingernagel und der Zähne. Auf höheren Kultur¬ stufen gelangt der Mensch zu dem Bedürfniß, auch andere Organe seines Körpers durch künstliche Werkzeuge zu ergänzen. Er erfindet optische Apparate zur Ergänzung seines Sehorganes, akustische zur Ergänzung seines Gehör¬ organes. So kunstvoll aber diese Apparate auch gebaut sind, sie wiederholen doch nur — anfangs in unbewußter Findung, dann in bewußter Erfin¬ dung oder Nachbildung — die Form des menschlichen Organes, dem sie dienen und das sie ergänzen sollen. Von den übrigen Sinnesorganen ist das Tastorgan nur unvollkommen ergänzt durch die Sonde des Chirurgen. Die Organe.des Geschmackes und des Geruches entbehren zur Zeit noch der Ergänzung durch technische Apparate. Dagegen ist das menschliche Sprachorgan in den Blas-Instrumenten nach¬ gebildet. Die bezeichneten Organe des menschlichen Körpers sind in Form von Werkzeugen in die Außenwelt projizirt. Die Organprojektion oder die technische Ergänzung menschlicher Organe — das ist das Prinzip der Technik. Die Organprojektion ist demnach der Grundbegriff der Philosophie der Technik. Diese aber bildet die Grundlage eines höchst geistvollen Werkes von Ernst Kapp, mit dessen Inhalt wir uns auf den nachfolgenden Seiten näher beschäf¬ tigen wollen.*) Kapp bezeichnet sein Buch bescheiden als „Grundlinien einer Philosophie der Technik" und kündigt es in seinem Vorworte selbst als den Versuch einer Grundlegung an. Dieser Versuch aber ist entschieden von epochemachender *) Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten^ Bon Ernst Kapp. Braunschweig, Westermann, 1S77.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/48
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/48>, abgerufen am 27.09.2024.