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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Zusammenhang der Wissenschaften eingedrungen, also zur eigentlichen Philo¬
sophie befähigt sind. Sie treiben, während die andern zu praktischen Staats¬
ämtern übergehen, bis zum 35. Lebensjahre Dialektik, bekleiden bis zum
50. Jahre Befehlshaber-Stellen und sind dann auf demjenigen Punkte der
praktischen und philosophischen Durchbildung angelangt, daß sie sich mit der
höchsten menschlichen Aufgabe, der Betrachtung der Ideen, beschäftigen und den
Staat leiten können. Sie find mit einer unumschränkten Herrschergewalt be¬
kleidet, entscheiden über die Aufnahme in die eine oder andere Klasse und ver¬
walten abwechselnd die höchsten Staatsämter. Es ist dies eine Organisation,
die nach Platon's eigenen Worten dann realisirt werden wird, wenn "irgend
einmal die Philosophen zur Herrschaft gelangen, oder die Herrscher recht Philo¬
sophiren", eine Bedingung, die in keinem hellenischen Staate erfüllt worden ist,
und die Platon selbst bei dem in Syrakus gemachten Versuche als unmöglich
erkennen mußte.

Grundprinzip dieses Staatsorganismus ist das sozialistische der Arbeits¬
theilung, der Versorgung eines Jeden durch den Staat und der Nöthigung
eines Jeden zu einer bestimmten Thätigkeit, welche nicht durch freie Wahl,
sondern durch das Interesse der Gesammtheit bestimmt wird. Die Gesammt-
bevölkerung zerfällt in drei streng gesonderte Kasten: die Arbeiter, die Krieger,
die Herrscher. Die Ersten haben die Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, die
Zweiten den Staat zu vertheidigen, die Letzten ihn zu leiten. Platon begründet
diese Eintheilung einerseits psychologisch, indem er den Staat als ein Gegen¬
bild des Individuums betrachtet und im Staate die drei Hauptfunktionen des
Individuums, das Erwerben, das Erhalten und das Bestimmen, gegründet auf
die drei Seelenvermögen des Begehrens, des Muthes und des Denkens, reprä-
sentirt wissen will; andrerseits historisch, indem er annimmt, die meisten Staaten
seien so entstanden, daß zuerst die Erwerbenden sich vereinigten, dann zum
Schutze des Erwerbes ein Wächterstand sich bildete, endlich eine das Ganze
leitende Behörde eingesetzt wurde. Es ist natürlich ein Irrthum, wenn er jene
Entstehungsweise und Eintheilung, wenn auch fehlerhaft geworden, im sparta¬
nischen Staate noch zu erkennen meint und in den Königen, Ephoren und
Geronten seinen ersten, in den Spartiaten den zweiten, in den Periöken und
Heloten den dritten Stand sieht. Denn in Wahrheit hatten Eroberung und
Unterjochung dieses Verhältniß hervorgebracht. An Berührungspunkten aber
fehlte es trotzdem zwischen Platon's Entwurf und den thatsächlichen Zuständen
nicht, was am deutlichsten ein Blick auf die Stellung der Sklaven zeigen kann.

Es ist ein Satz, der im alten Hellas allgemeine Geltung hatte, daß die
Gesellschaft eine Klasse von Menschen brauche, welche sich mit den zur Be¬
schaffung der Lebensbedürfnisse nöthigen Arbeiten abgebe und dadurch den


Zusammenhang der Wissenschaften eingedrungen, also zur eigentlichen Philo¬
sophie befähigt sind. Sie treiben, während die andern zu praktischen Staats¬
ämtern übergehen, bis zum 35. Lebensjahre Dialektik, bekleiden bis zum
50. Jahre Befehlshaber-Stellen und sind dann auf demjenigen Punkte der
praktischen und philosophischen Durchbildung angelangt, daß sie sich mit der
höchsten menschlichen Aufgabe, der Betrachtung der Ideen, beschäftigen und den
Staat leiten können. Sie find mit einer unumschränkten Herrschergewalt be¬
kleidet, entscheiden über die Aufnahme in die eine oder andere Klasse und ver¬
walten abwechselnd die höchsten Staatsämter. Es ist dies eine Organisation,
die nach Platon's eigenen Worten dann realisirt werden wird, wenn „irgend
einmal die Philosophen zur Herrschaft gelangen, oder die Herrscher recht Philo¬
sophiren", eine Bedingung, die in keinem hellenischen Staate erfüllt worden ist,
und die Platon selbst bei dem in Syrakus gemachten Versuche als unmöglich
erkennen mußte.

Grundprinzip dieses Staatsorganismus ist das sozialistische der Arbeits¬
theilung, der Versorgung eines Jeden durch den Staat und der Nöthigung
eines Jeden zu einer bestimmten Thätigkeit, welche nicht durch freie Wahl,
sondern durch das Interesse der Gesammtheit bestimmt wird. Die Gesammt-
bevölkerung zerfällt in drei streng gesonderte Kasten: die Arbeiter, die Krieger,
die Herrscher. Die Ersten haben die Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, die
Zweiten den Staat zu vertheidigen, die Letzten ihn zu leiten. Platon begründet
diese Eintheilung einerseits psychologisch, indem er den Staat als ein Gegen¬
bild des Individuums betrachtet und im Staate die drei Hauptfunktionen des
Individuums, das Erwerben, das Erhalten und das Bestimmen, gegründet auf
die drei Seelenvermögen des Begehrens, des Muthes und des Denkens, reprä-
sentirt wissen will; andrerseits historisch, indem er annimmt, die meisten Staaten
seien so entstanden, daß zuerst die Erwerbenden sich vereinigten, dann zum
Schutze des Erwerbes ein Wächterstand sich bildete, endlich eine das Ganze
leitende Behörde eingesetzt wurde. Es ist natürlich ein Irrthum, wenn er jene
Entstehungsweise und Eintheilung, wenn auch fehlerhaft geworden, im sparta¬
nischen Staate noch zu erkennen meint und in den Königen, Ephoren und
Geronten seinen ersten, in den Spartiaten den zweiten, in den Periöken und
Heloten den dritten Stand sieht. Denn in Wahrheit hatten Eroberung und
Unterjochung dieses Verhältniß hervorgebracht. An Berührungspunkten aber
fehlte es trotzdem zwischen Platon's Entwurf und den thatsächlichen Zuständen
nicht, was am deutlichsten ein Blick auf die Stellung der Sklaven zeigen kann.

Es ist ein Satz, der im alten Hellas allgemeine Geltung hatte, daß die
Gesellschaft eine Klasse von Menschen brauche, welche sich mit den zur Be¬
schaffung der Lebensbedürfnisse nöthigen Arbeiten abgebe und dadurch den


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[0454] Zusammenhang der Wissenschaften eingedrungen, also zur eigentlichen Philo¬ sophie befähigt sind. Sie treiben, während die andern zu praktischen Staats¬ ämtern übergehen, bis zum 35. Lebensjahre Dialektik, bekleiden bis zum 50. Jahre Befehlshaber-Stellen und sind dann auf demjenigen Punkte der praktischen und philosophischen Durchbildung angelangt, daß sie sich mit der höchsten menschlichen Aufgabe, der Betrachtung der Ideen, beschäftigen und den Staat leiten können. Sie find mit einer unumschränkten Herrschergewalt be¬ kleidet, entscheiden über die Aufnahme in die eine oder andere Klasse und ver¬ walten abwechselnd die höchsten Staatsämter. Es ist dies eine Organisation, die nach Platon's eigenen Worten dann realisirt werden wird, wenn „irgend einmal die Philosophen zur Herrschaft gelangen, oder die Herrscher recht Philo¬ sophiren", eine Bedingung, die in keinem hellenischen Staate erfüllt worden ist, und die Platon selbst bei dem in Syrakus gemachten Versuche als unmöglich erkennen mußte. Grundprinzip dieses Staatsorganismus ist das sozialistische der Arbeits¬ theilung, der Versorgung eines Jeden durch den Staat und der Nöthigung eines Jeden zu einer bestimmten Thätigkeit, welche nicht durch freie Wahl, sondern durch das Interesse der Gesammtheit bestimmt wird. Die Gesammt- bevölkerung zerfällt in drei streng gesonderte Kasten: die Arbeiter, die Krieger, die Herrscher. Die Ersten haben die Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, die Zweiten den Staat zu vertheidigen, die Letzten ihn zu leiten. Platon begründet diese Eintheilung einerseits psychologisch, indem er den Staat als ein Gegen¬ bild des Individuums betrachtet und im Staate die drei Hauptfunktionen des Individuums, das Erwerben, das Erhalten und das Bestimmen, gegründet auf die drei Seelenvermögen des Begehrens, des Muthes und des Denkens, reprä- sentirt wissen will; andrerseits historisch, indem er annimmt, die meisten Staaten seien so entstanden, daß zuerst die Erwerbenden sich vereinigten, dann zum Schutze des Erwerbes ein Wächterstand sich bildete, endlich eine das Ganze leitende Behörde eingesetzt wurde. Es ist natürlich ein Irrthum, wenn er jene Entstehungsweise und Eintheilung, wenn auch fehlerhaft geworden, im sparta¬ nischen Staate noch zu erkennen meint und in den Königen, Ephoren und Geronten seinen ersten, in den Spartiaten den zweiten, in den Periöken und Heloten den dritten Stand sieht. Denn in Wahrheit hatten Eroberung und Unterjochung dieses Verhältniß hervorgebracht. An Berührungspunkten aber fehlte es trotzdem zwischen Platon's Entwurf und den thatsächlichen Zuständen nicht, was am deutlichsten ein Blick auf die Stellung der Sklaven zeigen kann. Es ist ein Satz, der im alten Hellas allgemeine Geltung hatte, daß die Gesellschaft eine Klasse von Menschen brauche, welche sich mit den zur Be¬ schaffung der Lebensbedürfnisse nöthigen Arbeiten abgebe und dadurch den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/454>, abgerufen am 27.09.2024.