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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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"Die Verfassungen" über hundertundsiinfzig Staatsverfassungen beschrieben,
von denen bei weitem die meisten in hellenischen Staatsgemeinden in Wirk¬
samkeit waren oder gewesen waren. Daß die Mehrzahl der letzteren auf repu¬
blikanischer Basis beruhten, wird nicht nur durch die uns genauer bekannten
Verfassungen, sondern auch durch die in Aristoteles' "Politik" uns erhaltene
Theorie des hellenischen Staates im Allgemeinen bestätigt, welche offenbar aus
der umfassenden Betrachtung des Bestehenden geflossen und als die Quintessenz
der wesentlichsten und am weitesten verbreiteten Staatsmaximen anzusehen ist.

Die Theorie nun zeigt uns den hellenischen Staat als eine eminent soziale
und humanitäre Anstalt. Wird von vielen Neueren als Zweck des Staates
der Rechtsschutz seiner Angehörigen hingestellt, so nimmt sich die moderne An¬
sicht gegenüber der des Aristoteles geradezu kleinlich aus. Für ihn besteht der
Staatszweck darin, daß er den Bürgern die Möglichkeit liefere, "gut zu leben",
d. h. "glücklich und würdig zu leben"; unter Glück aber versteht er "das
tugendgemäße Wollen und Handeln". Da hierzu Freiheit des Handelns un¬
erläßlich ist, so ergibt es sich von selbst, daß in seinem Staate keine andere
Herrschaft als die von möglichst guten, auf dasselbe Ziel gerichteten Gesetzen
zulässig ist, und daß der Einzelne nicht nur seinen Willen mit dem der Ge¬
sammtheit in Einklang zu setzen, sondern auch sich selbst wesentlich als ein
Werkzeug des Ganzen zu betrachten hat. Die Gesammtheit kann nnr "gut
leben", wenn der Einzelne gut lebt; der Einzelne kann nur glücklich sein, wenn
das Ganze glücklich ist; der Einzelne aber als Theil muß sich dem Wohle des
Ganzen unterordnen und im Kollisionsfalle jenem das eigne Wohl opfern.

Dies etwa kann man, um anderes hier zu übergehen, als die Grund¬
prinzipien des hellenischen Staates im Allgemeinen ansehen. Man sieht aber,
wie viel Keime sozialistischer Entwickelung darin liegen, und diese Entwickelung
ließ denn auch in den einzelnen Staaten nicht lange auf sich warten.

Da das. Wohl der Gesammtheit der beherrschende Gesichtspunkt war, so
mußte die Gesetzgebung jenes zur Richtschnur nehmen und die Freiheit des
Einzelnen soweit beschränken, als sie mit dem Hauptzweck unvereinbar schien.
Der ackerbauende und viehzuchttreibende Theil der Bevölkerung galt den Alten
als das Herz und der Kern des Staates. Die Handwerker und Kaufleute
erschienen ihm gegenüber als untergeordnet. Dagegen war die bewaffnete
Macht von großer Wichtigkeit. Da die Menschen von der Natur mit ganz
abweichenden Anlagen und Fähigkeiten begabt sind, und der Einzelne nicht
Umsicht, Selbstkenntniß und Selbstverleugnung genug besitzt, um sich an den
Platz zu stellen, an dem er dem Ganzen am nützlichsten sein kann, so weist
nach Möglichkeit der Staat ihm seine Aufgaben an. Die Gesetzgebung sorgte
für das Ansehen und die Erhaltung des ackerbauenden Standes, der in vielen


„Die Verfassungen" über hundertundsiinfzig Staatsverfassungen beschrieben,
von denen bei weitem die meisten in hellenischen Staatsgemeinden in Wirk¬
samkeit waren oder gewesen waren. Daß die Mehrzahl der letzteren auf repu¬
blikanischer Basis beruhten, wird nicht nur durch die uns genauer bekannten
Verfassungen, sondern auch durch die in Aristoteles' „Politik" uns erhaltene
Theorie des hellenischen Staates im Allgemeinen bestätigt, welche offenbar aus
der umfassenden Betrachtung des Bestehenden geflossen und als die Quintessenz
der wesentlichsten und am weitesten verbreiteten Staatsmaximen anzusehen ist.

Die Theorie nun zeigt uns den hellenischen Staat als eine eminent soziale
und humanitäre Anstalt. Wird von vielen Neueren als Zweck des Staates
der Rechtsschutz seiner Angehörigen hingestellt, so nimmt sich die moderne An¬
sicht gegenüber der des Aristoteles geradezu kleinlich aus. Für ihn besteht der
Staatszweck darin, daß er den Bürgern die Möglichkeit liefere, „gut zu leben",
d. h. „glücklich und würdig zu leben"; unter Glück aber versteht er „das
tugendgemäße Wollen und Handeln". Da hierzu Freiheit des Handelns un¬
erläßlich ist, so ergibt es sich von selbst, daß in seinem Staate keine andere
Herrschaft als die von möglichst guten, auf dasselbe Ziel gerichteten Gesetzen
zulässig ist, und daß der Einzelne nicht nur seinen Willen mit dem der Ge¬
sammtheit in Einklang zu setzen, sondern auch sich selbst wesentlich als ein
Werkzeug des Ganzen zu betrachten hat. Die Gesammtheit kann nnr „gut
leben", wenn der Einzelne gut lebt; der Einzelne kann nur glücklich sein, wenn
das Ganze glücklich ist; der Einzelne aber als Theil muß sich dem Wohle des
Ganzen unterordnen und im Kollisionsfalle jenem das eigne Wohl opfern.

Dies etwa kann man, um anderes hier zu übergehen, als die Grund¬
prinzipien des hellenischen Staates im Allgemeinen ansehen. Man sieht aber,
wie viel Keime sozialistischer Entwickelung darin liegen, und diese Entwickelung
ließ denn auch in den einzelnen Staaten nicht lange auf sich warten.

Da das. Wohl der Gesammtheit der beherrschende Gesichtspunkt war, so
mußte die Gesetzgebung jenes zur Richtschnur nehmen und die Freiheit des
Einzelnen soweit beschränken, als sie mit dem Hauptzweck unvereinbar schien.
Der ackerbauende und viehzuchttreibende Theil der Bevölkerung galt den Alten
als das Herz und der Kern des Staates. Die Handwerker und Kaufleute
erschienen ihm gegenüber als untergeordnet. Dagegen war die bewaffnete
Macht von großer Wichtigkeit. Da die Menschen von der Natur mit ganz
abweichenden Anlagen und Fähigkeiten begabt sind, und der Einzelne nicht
Umsicht, Selbstkenntniß und Selbstverleugnung genug besitzt, um sich an den
Platz zu stellen, an dem er dem Ganzen am nützlichsten sein kann, so weist
nach Möglichkeit der Staat ihm seine Aufgaben an. Die Gesetzgebung sorgte
für das Ansehen und die Erhaltung des ackerbauenden Standes, der in vielen


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[0427] „Die Verfassungen" über hundertundsiinfzig Staatsverfassungen beschrieben, von denen bei weitem die meisten in hellenischen Staatsgemeinden in Wirk¬ samkeit waren oder gewesen waren. Daß die Mehrzahl der letzteren auf repu¬ blikanischer Basis beruhten, wird nicht nur durch die uns genauer bekannten Verfassungen, sondern auch durch die in Aristoteles' „Politik" uns erhaltene Theorie des hellenischen Staates im Allgemeinen bestätigt, welche offenbar aus der umfassenden Betrachtung des Bestehenden geflossen und als die Quintessenz der wesentlichsten und am weitesten verbreiteten Staatsmaximen anzusehen ist. Die Theorie nun zeigt uns den hellenischen Staat als eine eminent soziale und humanitäre Anstalt. Wird von vielen Neueren als Zweck des Staates der Rechtsschutz seiner Angehörigen hingestellt, so nimmt sich die moderne An¬ sicht gegenüber der des Aristoteles geradezu kleinlich aus. Für ihn besteht der Staatszweck darin, daß er den Bürgern die Möglichkeit liefere, „gut zu leben", d. h. „glücklich und würdig zu leben"; unter Glück aber versteht er „das tugendgemäße Wollen und Handeln". Da hierzu Freiheit des Handelns un¬ erläßlich ist, so ergibt es sich von selbst, daß in seinem Staate keine andere Herrschaft als die von möglichst guten, auf dasselbe Ziel gerichteten Gesetzen zulässig ist, und daß der Einzelne nicht nur seinen Willen mit dem der Ge¬ sammtheit in Einklang zu setzen, sondern auch sich selbst wesentlich als ein Werkzeug des Ganzen zu betrachten hat. Die Gesammtheit kann nnr „gut leben", wenn der Einzelne gut lebt; der Einzelne kann nur glücklich sein, wenn das Ganze glücklich ist; der Einzelne aber als Theil muß sich dem Wohle des Ganzen unterordnen und im Kollisionsfalle jenem das eigne Wohl opfern. Dies etwa kann man, um anderes hier zu übergehen, als die Grund¬ prinzipien des hellenischen Staates im Allgemeinen ansehen. Man sieht aber, wie viel Keime sozialistischer Entwickelung darin liegen, und diese Entwickelung ließ denn auch in den einzelnen Staaten nicht lange auf sich warten. Da das. Wohl der Gesammtheit der beherrschende Gesichtspunkt war, so mußte die Gesetzgebung jenes zur Richtschnur nehmen und die Freiheit des Einzelnen soweit beschränken, als sie mit dem Hauptzweck unvereinbar schien. Der ackerbauende und viehzuchttreibende Theil der Bevölkerung galt den Alten als das Herz und der Kern des Staates. Die Handwerker und Kaufleute erschienen ihm gegenüber als untergeordnet. Dagegen war die bewaffnete Macht von großer Wichtigkeit. Da die Menschen von der Natur mit ganz abweichenden Anlagen und Fähigkeiten begabt sind, und der Einzelne nicht Umsicht, Selbstkenntniß und Selbstverleugnung genug besitzt, um sich an den Platz zu stellen, an dem er dem Ganzen am nützlichsten sein kann, so weist nach Möglichkeit der Staat ihm seine Aufgaben an. Die Gesetzgebung sorgte für das Ansehen und die Erhaltung des ackerbauenden Standes, der in vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/427>, abgerufen am 27.09.2024.